Die Unkenntnis der Regelungen der Gewaltopferentschädigung ist in Hinblick auf die Veröffentlichung dieser Vorschriften im Bundesgesetzblatt rechtlich nicht als unverschuldet im Sinne von § 60 Abs.1 S.3 BVG zu qualifizieren und vermag einen Leistungsanspruch für Zeiträume vor Antragstellung über den sich aus § 60 Abs.1 S.1 und S.2 BVG ergebenden Zeitpunkt hinaus nicht zu begründen.
Eine unverschuldet unterbliebene Antragstellung aus gesundheitlichen Gründen ist nach § 60 Abs.1 S.3 BVG nur anzunehmen, wenn dieselben gesundheitlichen Gründe auch eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand rechtfertigen würden, also dann, wenn der Betreffende so schwer erkrankt ist, dass er weder selbst handeln noch einen anderen beauftragen kann.
Auf die Berufung des Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Lübeck vom 11. Mai 2021 insoweit aufgehoben, als der Beklagte zu einer Leistungsgewährung auch für den Zeitraum vor dem 1. Februar 2017 verurteilt worden ist.
Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die 1964 geborene Klägerin begehrt die Gewährung von Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Im Berufungsverfahren streiten die Beteiligten nur noch um den Beginn der Entschädigungsleistungen.
Die Klägerin wurde in der Nacht vom 1. auf den 2. März 2003 Opfer einer sexuellen Nötigung. Täter war ein Bekannter, den sie am Tatabend in ihre Wohnung eingeladen hatte. Nachdem sie dessen Annäherungsversuche zurückgewiesen hatte, zwang dieser sie durch Gewaltanwendung und Drohung mit Gewalt zu sexuellen Handlungen, wobei dem Täter die Erzwingung eines vaginalen Geschlechtsverkehrs entgegen dessen Absichten nicht gelang. Der Täter wurde mit Urteil des Amtsgerichts Oldenburg in Holstein vom 27. Oktober 2004 wegen dieser Tat zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren verurteilt.
Die Klägerin stand ab 2005 im Leistungsbezug nach dem SGB II bei dem Jobcenter Ostholstein. Zuvor hatte sie Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz bezogen.
Am 7. Februar 2017 beantragte die Klägerin gegenüber der Deutschen Rentenversicherung Bund die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente, die ihr nach medizinischer Sachverhaltsaufklärung auch gewährt wurde.
Am 16. Februar 2017 beantragte die Klägerin gegenüber dem Beklagten die Gewährung von Leistungen nach dem OEG. Der Beklagte zog zur weiteren Sachaufklärung zunächst die Akten aus dem Strafverfahren des Amtsgerichts Oldenburg in Holstein bei und holte medizinische Befundunterlagen über die Klägerin ein. Ferner veranlasste der Beklagte eine psychiatrische Untersuchung durch die Sachverständige Dr. D. Da die Klägerin zu dem geladenen Termin am 10. April 2018 ohne Angabe von Gründen und ohne Absage nicht erschien, erstellte Frau Dr. D zunächst eine gutachterliche Äußerung nach Aktenlage, in der sie einen kausalen Zusammenhang zwischen den bei der Klägerin vorliegenden psychischen Schädigungen, Angst und depressive Störung gemischt sowie Alkoholabhängigkeit, mit der Gewalttat verneinte und dementsprechend einen Grad der Schädigungsfolgen (GdS) in Höhe von 0 annahm.
Mit Bescheid vom 26. April 2018 stellte der Beklagte fest, dass die Klägerin am 2. März 2003 Opfer einer Gewalttat geworden sei, lehnte den Antrag auf Versorgung aber ab. Dagegen richtete sich der Widerspruch der Klägerin vom 2. Mai 2018, zu dessen Begründung sie vortrug, sie habe Anspruch auf Entschädigungsleistungen ab März 2003. Dem Antragserfordernis habe sie schlichtweg nicht nachkommen können, da sie durch die erlittenen Tatfolgen eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelt habe, die es ihr nicht ermöglicht habe, einen Antrag nach dem OEG zu stellen. Im Widerspruchsverfahren wurde die Klägerin durch die Sachverständige D am 10. September 2018 begutachtet. Nach persönlicher Begutachtung der Klägerin führte die Sachverständige nunmehr aus, dass ein ursächlicher Zusammenhang zwischen einer bei der Klägerin seit 2003 bestehenden posttraumatischen Belastungsstörung und der Gewalttat wahrscheinlich sei. Die Suchterkrankung und die depressive Störung seien weiterhin als schädigungsunabhängig zu bewerten. Der GdS sei ab Antragsmonat mit 30 zu bewerten.
Mit Widerspruchsbescheid vom 17. Mai 2019 gab der Beklagte den Widerspruch insoweit statt, als er eine posttraumatische Belastungsstörung als Schädigungsfolge anerkannte, diese mit GdS von 30 bewertete und mit Wirkung ab 1. Februar 2017 eine monatliche Grundrente unter Zugrundelegung dieses GdS gewährte. Im Übrigen wurde der Widerspruch zurückgewiesen. In der Begründung schilderte der Beklagte die Regelung aus § 60 Abs. 1 BVG und führte zur Begründung aus, allein aus dem Krankheitsbild könne nicht auf eine unverschuldete Verhinderung zur früheren Antragstellung geschlossen werden. Eine rückwirkende Leistungsgewährung für die Zeit vor Antragstellung scheide schon deshalb aus, weil der Antrag im Jahr 2017 weit außerhalb der Jahresfrist gestellt worden sei. Die Klägerin sei seit August 2003 in psychotherapeutischer Behandlung gewesen und habe gewusst, dass ihre psychischen Beschwerden jedenfalls teilweise auf die Gewalttat zurückzuführen seien. Es ließe sich nicht feststellen, dass sie die hier gebotene und nach den Umständen zumutbarer Sorgfalt beachtet habe. Ebenso ließe sich ein Zeitraum der Verhinderung nicht abgrenzen.
Mit der am 30. Mai 2019 bei dem Sozialgericht Lübeck erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt.
Zur Begründung hat sie - soweit im Berufungsverfahren noch von Relevanz- vorgetragen, unter Heranziehung der Regelung des § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG sei eine rückwirkende Gewährung der beantragten Leistung ab dem Zeitpunkt der Gewalttat anzunehmen. Die Voraussetzungen dieses Verlängerungstatbestands seien gegeben, denn die Klägerin sei durch die Gewalttat wesentlich in ihrer Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit eingeschränkt gewesen. Die Tatfolgen hätten zu Beeinträchtigungen im Alltag und im sozialen Bereich geführt, die bis zum heutigen Tage andauerten. Für die ersten 2 Jahre nach der Gewalttat ergebe sich dies auch aus den Schilderungen der gehörten Gutachterin. Die Antragstellung sei auch so spät erfolgt, weil der Klägerin erst im Jahre 2017 durch ihren Behandler Dr. E die Verdachtsdiagnose der posttraumatischen Belastungsstörung genannt worden sei. Zu diesem Zeitpunkt sei ihr gar nicht bewusst gewesen, dass ihr Erkrankungsbild auf der Gewalttat beruhe. Es sei nicht zutreffend, dass ihr ab August 2003 eine auf der Gewalttat beruhende psychische Problematik bekannt gewesen sei. Ihre Überforderungssituation in Alltags – und Bewältigungsstrategien habe zu einer Dekompensation und Verdrängung geführt und sie daran gehindert bereits früher einen Erstantrag zu stellen.
Die Klägerin hat beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 26. April 2018 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 17. Mai 2019 zu verpflichten, bei ihr einen Grad der Schädigungsfolgen in Höhe von mindestens 50 ab 2. März 2003 anzuerkennen und ihr darauf beruhend entsprechende Versorgungsleistungen zu erbringen.
Der Beklagte hat sinngemäß beantragt,
die Klage abzuweisen soweit sie über sein Teilanerkenntnis vom 16. April 2020 hinausgeht.
Der Beklagte hat - soweit für das Berufungsverfahren noch relevant- vorgetragen, die Beschädigtenversorgung beginne mit dem Monat der Antragstellung. Für eine Rückwirkung auf den Zeitpunkt der Tat beständen keine Anhaltspunkte.
Das Sozialgericht hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts einen Befundbericht des die Klägerin behandelnden Psychiaters Dr. E sowie ein für die DRV Bund erstelltes Gutachten des Neurologen und Psychiaters Z beigezogen.
Ferner hat das Sozialgericht bei dem Neurologen, Psychiater und Psychotherapeuten Dr. F ein Gutachten über die Klägerin in Auftrag gegeben. Dieses Gutachten hat der Sachverständige F am 7. März 2021 aufgrund einer ambulanten Untersuchung der Klägerin am 3. Februar 2021 erstellt. Darin hat er bei der Klägerin eine auf die Gewalttat zurückzuführende posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert. Eine schädigungsunabhängige, generalisierte Angststörung sowie eine rezidivierende depressive Störung seien hingegen nicht zu diagnostizieren. Die damit beschriebenen Beschwerden seien erst nach der Gewalttat aufgetreten und als Ausprägung der posttraumatischen Belastungsstörung auf diese zurückzuführen. Der GdS sei mit 40 zu bewerten, ein höherer GdS sei nicht anzunehmen, da das Ausmaß einer schweren Zwangskrankheit mit mittelgradigen sozialen Anpassungsstörungen nicht erreicht werde. Die Klägerin leide zwar unter den beschriebenen Folgen der Gewalttat, in erster Linie in Form von Ängsten und Panikattacken, Verunsicherung und Einschränkung in ihrem Sozialverhalten sowie im Bereich der Partnerschaft und Sexualität. Andererseits sei sie dazu in der Lage, ohne fremde Hilfe mit ihrem jetzt 16-jährigen Sohn in einer Mietwohnung zu leben und sich um ihre und die Versorgung ihres Sohnes ausreichend zu kümmern. Ihre Außen- und Sozialkontakte seien zwar erheblich eingeschränkt, sie könne aber mit der erforderlichen Distanz einen tragfähigen Kontakt zu anderen Personen in ihrer Nähe aufrechterhalten. Sie habe außerdem einen stabilen Kontakt zum Vater ihres Sohnes. Nach den zur Verfügung gestellten Akten sei die Klägerin aber aus gesundheitlichen Gründen daran gehindert gewesen, vor dem 16. Februar 2017 einen Antrag auf Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz zu stellen. Maßgebend für diese Einschätzung sei, dass es glaubhaft sei, dass die Klägerin aufgrund der konkreten Folgen der posttraumatischen Belastungsstörung, ihrer Ängste und wiederholten Depression sowie ihrer schweren Alkoholabhängigkeit zwischen 2003 und 2017 nicht dazu in der Lage gewesen sei, ihre persönlichen Dinge selbst oder mit externer Unterstützung zu regeln. Nur mithilfe einer Suchtberatungsstelle sei sie in der Lage gewesen, den Aufforderungen ihres zuständigen Arbeits- und Sozialamtes, ihrer Krankenkasse und anderer Behörden halbwegs nachzukommen. Zur Beantwortung von Amtsanfragen oder dem Ausfüllen von Anträgen wäre sie allein nicht in der Lage gewesen.
In Reaktion auf dieses Gutachten hat der Beklagte am 16. April 2021 ein Teilanerkenntnis abgegeben und sich verpflichtet, bei der Klägerin unter Abänderung der angefochtenen Verwaltungsentscheidungen einen Gesamt-GdS von 40 ab 1. Februar 2017 (Antragstellung) anzuerkennen und eine Grundrente unter Zugrundelegung dieses GdS zu gewähren sowie 2/3 der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu übernehmen.
Nach Anhörung der Beteiligten zu der beabsichtigten Verfahrensweise hat das Sozialgericht Lübeck den Beklagten mit Gerichtsbescheid vom 11. Mai 2021 verurteilt bei der Klägerin ab 2. März 2003 einen GdS von 40 festzustellen und entsprechende Versorgungsleistungen zu erbringen. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der gerichtliche Sachverständige habe umfassend und für das Gericht überzeugend dargestellt, dass die Voraussetzungen für eine unverschuldete, spätere Antragstellung vorlägen. Aufgrund der konkreten Folgen der posttraumatischen Belastungsstörung, ihrer Ängste und wiederholten Depression sowie ihrer schweren Alkoholkrankheit sei die Klägerin nach der Gewalttat 2003 bis zur Antragstellung im Februar 2017 nicht in der Lage gewesen, ihre persönlichen Dinge selbst oder mit externer Unterstützung zu regeln.
Gegen diesen ihm am 17. Mai 2021 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die Berufung des Beklagten vom 27. Mai 2021.
Zur Begründung seiner Berufung trägt der Beklagte vor, welche konkreten Folgen der posttraumatischen Belastungsstörung eine Antragstellung für einen Zeitraum von ca. 14 Jahren ausgeschlossen hätten, habe das Sozialgericht in der angefochtenen Entscheidung nicht genannt. Das Gutachten des Sachverständigen sei in diesem Punkt widersprüchlich. Während er einerseits die Möglichkeit einer Antragstellung vor Februar 2017 verneint habe, habe er der Klägerin andererseits bescheinigt, sich verantwortungsvoll in allen Lebensbereichen, zum Beispiel um ihren Haushalt, ihre medizinische Versorgung und ihren minderjährigen Sohn sowie um sich selbst ausreichend zu kümmern und einen stabilen Kontakt zum Vater ihres Sohnes zu halten. Das Sozialgericht habe auch den Umstand nicht beachtet, dass die Klägerin seit Oktober 2008 eine ambulante Betreuung durch eine Suchtberatungsstelle in Anspruch nehme. Das Gericht hätte prüfen müssen, ob es der Klägerin nachweisbar nicht möglich gewesen sei einen Antrag zu stellen, anstatt sich auf die pauschale Aussage des Sachverständigen zu stützen. Die ambulante Betreuung der Klägerin sei lediglich in der Zeit vom 30. Mai 2011 bis 16. Januar 2012 sowie 30. Juni 2016 bis 12. Dezember 2016 zur Durchführung eines Versuchs zum Meistern des Alltags ohne Unterstützung unterbrochen gewesen. Da diese Versuche gescheitert seien, könne unter Umständen nur für diesen Zeitraum von rund 13 Monaten angenommen werden, dass die Klägerin ohne Verschulden nicht in der Lage gewesen sei innerhalb der Jahresfrist einen Antrag zu stellen. Die Frist zur Antragstellung könne nicht um rund 14 Jahre verlängert werden, weil die Klägerin innerhalb des Zeitraums zwischen der Tat und der Antragstellung nicht die Möglichkeit gehabt habe, einen Antrag nach dem OEG zu stellen. Denn sie sei nicht durchgängig aufgrund von medizinischen Gründen gehindert gewesen, einen Antrag zu stellen.
Der Beklagte beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Lübeck vom 11. Mai 2011 insoweit aufzuheben, als der Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 26. April 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Mai 2019 verurteilt wird, bei der Klägerin einen Grad der Schädigungsfolgen von 40 vor dem 1. Februar 2017 festzustellen und entsprechende Versorgungsleistungen zu erbringen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie trägt vor, es sei unstreitig, dass sie Opfer einer Straftat geworden sei und durch diese eine posttraumatische Belastungsstörung erlitten habe sowie, dass sie darüber hinaus an einer schweren Alkoholkrankheit gelitten habe. Der erstinstanzlich gehörte Sachverständige habe auch ausgeführt, dass sie aufgrund dieser Erkrankungen an einer früheren Antragstellung gehindert gewesen sei, insoweit gehe der Vorwurf des Beklagten, das Sozialgericht habe sich nicht ausreichend mit der Frage, ob die Klägerin an einer früheren Antragstellung gehindert gewesen sei, auseinandergesetzt, fehl. Ihres Erachtens sei das Gutachten auch nicht widersprüchlich, der Sachverständige versuche lediglich die Differenzierung zwischen zwei Diagnosen zu erläutern. Es sei weltfremd, wenn aus dem Scheitern zweier ambulant begleiteter Betreuungsversuche der Umkehrschluss gezogen werden solle, die Klägerin habe außerhalb dieser Versuche sich in einem Zustand der uneingeschränkten Handlungsfähigkeit befunden. Vielmehr müsse das Scheitern der Betreuungsversuche als Nachweis betrachtet werden, dass die Klägerin gerade nicht in der Lage gewesen sei, selbstständig außerhalb ihrer Lebensumwelt handeln zu können.
Der Senat hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhaltes Befundberichte des Allgemeinmediziners Dr. D1 und des Psychiaters Dr. E beigezogen. Ferner hat der Senat die die Klägerin betreffenden Akten des Jobcenters Ostholstein beigezogen, daraus Kopien gefertigt und diese den Beteiligten zur Verfügung gestellt. Des Weiteren hat er Unterlagen aus der die Klägerin betreffenden Akte der Deutschen Rentenversicherung Bund beigezogen.
Der Beklagte hat der Klägerin mit Bescheid vom 14. Juni 2022 unter Anerkennung einer besonderen beruflichen Betroffenheit gemäß § 30 Abs.2 BVG ab Februar 2017 Versorgungsleistungen aufgrund eines GdS von 50, Berufsschadensausgleich und Ausgleichsrente gewährt.
Ergänzend wird hinsichtlich des Sach- und Streitstandes auf die Schriftsätze der Beteiligten sowie den weiteren Inhalt der Gerichtsakten und der die Klägerin betreffenden Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung ist zulässig. Insbesondere ist diese innerhalb der Monatsfrist gemäß § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingegangen. Einer gesonderten Zulassung der Berufung gemäß § 144 Abs. 1 SGG bedurfte es schon deshalb nicht, weil um laufende Leistungen für mehr als ein Kalenderjahr gestritten wird.
Die Berufung ist auch begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht den Beklagten verurteilt, der Klägerin Versorgungsleistungen auch für die Zeit vor Februar 2017 zu erbringen. Die angefochtenen Verwaltungsentscheidungen erweisen sich nur insoweit als rechtswidrig, als sie der Klägerin Versorgungsleistungen auf Grundlage eines medizinischen GdS von weniger als 40 zu erkennen, nicht jedoch soweit sie die Leistungsgewährung auf die Zeit ab dem 1. Februar 2017 begrenzen.
Grundlage des klägerischen Anspruchs ist § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG, der die Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG vorsieht, für eine Person, die im Geltungsbereich dieses Gesetzes infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen, tätlichen Angriffs gegen sich selbst oder eine andere Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat.
Gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 BVG beginnt die Beschädigtenversorgung mit dem Monat, in dem ihre Voraussetzungen erfüllt sind, frühestens mit dem Antragsmonat. Nach Satz 2 der Vorschrift ist die Versorgung auch für Zeiträume vor der Antragstellung zu leisten, wenn der Antrag innerhalb eines Jahres nach Eintritt der Schädigung gestellt wird. War der oder die Beschädigte ohne ihr oder sein Verschulden an der Antragstellung verhindert, so verlängert sich diese Frist gemäß Satz 3 der Vorschrift um den Zeitraum der Verhinderung.
Ein Verschulden in Bezug auf die nicht rechtzeitige Antragstellung innerhalb der Jahresfrist des Satzes 2 liegt nur dann nicht vor, wenn die Versorgungsberechtigte oder deren gesetzlicher Vertreter die ihr gebotene und nach den Umständen zumutbare Sorgfalt beachtet hat. Grundsätzlich gilt insoweit ein subjektiver Maßstab. Als Verschulden kommt insoweit eigenes Verschulden als auch ein zurechenbares Verschulden des gesetzlichen Vertreters in Betracht. Schutzwürdige Interessenkonflikte können dazu führen, dass ausnahmsweise das Verschulden des gesetzlichen Vertreters nicht dem Beschädigten, insbesondere einem Gewaltopfer, zuzurechnen ist, etwa wenn der gesetzliche Vertreter zugleich der Täter gewesen ist oder dem Gewalttäter familiär oder durch gleichgelagerte Interessen eng verbunden ist. Eine Zurechnung von Verschulden des gesetzlichen Vertreters ausschließende schutzwürdige Interessenkonflikte liegt auch vor, wenn eine dem Gewalttäter eng verbundene Person, die der Rechtsordnung ein Zeugnisverweigerungsrecht zugesteht, durch die Antragstellung zivilrechtlichen Schadenersatzansprüchen ausgesetzt wäre. (vergleiche dazu Knörr in Knickrehm „Soziales Entschädigungsrecht“ § 60 BVG Rn. 8-9.)
Häufiger Anwendungsbereich der Verlängerungsregelung gemäß § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG sind demnach Fälle der Schädigung eines minderjährigen Kindes, oftmals sexueller Missbrauch oder körperliche Misshandlung, wenn die Eltern oder sonstigen gesetzlichen Vertreter selbst Täter sind oder eine nähere Beziehung zu dem Täter haben. Eine derartige Konstellation liegt hier nicht vor.
Das Bundessozialgericht hat in einem relativ aktuellem Urteil vom 16. März 2016 (B 9 V 6/15 R ) klargestellt, dass die erweiterte Rückwirkung des Antrags nach § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG aufgrund ihres Ausnahmecharakters eng handzuhaben ist. Allein das fehlende Wissen um einen möglicherweise bestehenden Anspruch nach § 1 OEG stellt danach keinen Anwendungsfall der Rückwirkung dar, weil jedem Bürger gesetzliche Bestimmungen nach ihrer Verkündung im Gesetz- und Verordnungsblatt als bekannt gelten (Publizitätsgrundsatz) und im Sozialrecht für den Bürger vielfältige Möglichkeiten bestehen, sich über seine sozialen Rechte zu informieren. (BSG aaO Rn. 22). Der Senat schließt sich dieser Rechtsprechung an.
Danach vermag allein die Unkenntnis der Klägerin von den Regelungen des OEG nicht dazu führen, dass ihr Antrag Rückwirkung entfaltet.
Die Klägerin stützt ihren Anspruch auf rückwirkende Leistungsgewährung für Zeiträume vor Antragstellung auf ihren durch die auf der Gewalttat beruhende posttraumatische Belastungsstörung und eine Alkoholerkrankung gekennzeichneten Gesundheitszustand. Bei Anwendung und Auslegung der Regelung in § 60 Abs. 1 BVG sind auch die von der Rechtsprechung zu § 67 SGG (Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand) entwickelten Grundsätze zu berücksichtigen (siehe BSG, Urteil vom 15. August 2000, B9 VG 1/99 R Rn. 13). Danach schließt Krankheit ein Verschulden nur aus, wenn der Beteiligte so schwer erkrankt ist, dass er nicht selbst handeln und auch nicht einen anderen beauftragen kann (vergleiche zu der Rückwirkung nach § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG, LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 21. Januar 2015, L 13 VH 5/13).
Eine derart schwere Erkrankung über einen so langen Zeitraum, hier knapp 14 Jahre, kann nicht angenommen werden. Sie ergibt sich insbesondere nicht aus dem Gutachten des Sachverständigen Dr. F. Dieser hat anschaulich dargestellt, dass die Klägerin durch die durch die Gewalttat hervorgerufene posttraumatische Belastungsstörung durchaus deutlich in ihrer Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit beeinträchtigt war und zusätzlich durch die bei ihr schädigungsunabhängig bestehende Alkoholkrankheit in ihrer Alltagskompetenz eingeschränkt war. Gleichwohl hat der Sachverständige ebenso nachvollziehbar ausgeführt, dass die Klägerin in den zurückliegenden Jahren über so viel Sozialkompetenz und Selbstfürsorgefähigkeit verfügte, dass sie ihren eigenen Alltag und die Versorgung ihres 2005 geborenen Sohnes sicherstellen konnte und dabei auch im eingeschränkten Ausmaß Außen- und Sozialkontakte führen konnte, insbesondere einen stabilen Kontakt zu dem Vater ihres Sohnes halten konnte. Insoweit stehen diese überzeugenden Feststellungen des Sachverständigen in der Tat im Widerspruch zu dessen relativ pauschaler Schlussfolgerung, die Klägerin sei wegen der beschriebenen Krankheiten an einer Antragstellung gehindert gewesen. Möglicherweise hat der Sachverständige auch zum Ausdruck bringen wollen, dass die Klägerin wegen der bei ihr bestehenden Erkrankungen nicht in der Lage gewesen ist, sich proaktiv über die Ansprüche nach dem OEG zu informieren. Dies schließt nach der obigen Rechtsprechung zum Publizitätsgrundsatz, wonach gesetzliche Regeln als bekannt gegeben gelten, ein Verschulden hinsichtlich einer späteren Antragstellung aber gerade nicht aus. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Klägerin die Hilfe von Beratungsstellen, insbesondere einer Suchtberatungsstelle in Anspruch genommen hat, sodass eine Information über die Rechte von Gewaltopfern gegebenenfalls auch durch Inanspruchnahme dieser professionellen Hilfemöglichkeit gegeben wäre.
Schließlich ist entscheidend, dass auch aus den beigezogenen Akten des Grundsicherungsträgers keineswegs der Eindruck entsteht, dass die Klägerin im Zeitraum vor 2017 nicht in der Lage gewesen wäre, gegenüber Behörden ihre Interessen wahrzunehmen. So sind in den auszugsweise beigezogenen Akten des Jobcenters Ostholstein neben den regelmäßigen Weiterbewilligungsanträgen der Klägerin zahlreiche Kontakte der Klägerin mit dem Jobcenter dokumentiert, bei denen sie zielgerichtet und sachgerecht ihre Interessen vertreten hat. Vermerkt ist etwa eine persönliche Vorsprache der Klägerin am 19. Juli 2005, bei der die Klägerin die Zusicherung der Übernahme der Kosten für eine neue Wohnung begehrte. Ferner eine kurz darauf folgende persönliche Vorsprache der Klägerin, bei der sie die fehlerhafte Zahlung der neuen Miete an den alten Vermieter zu Recht moniert hat. Am 30. November 2005 hat die Klägerin persönlich bei dem Jobcenter vorgesprochen und ihren Standpunkt zu einer fraglichen, von ihr aber verneinten Bedarfsgemeinschaft mit dem Vater ihres 2005 geborenen Sohnes vertreten. Am 19. Juni 2006 sprach sie beim Jobcenter vor und zeigte den Verlust bzw. Diebstahl ihres Portmonees und den damit einhergehenden Verlust einer größeren Menge Bargeld an und bat um Gewährung eines Darlehns. Es finden sich noch etliche weitere Kontakte, bei denen die Klägerin, ihre jeweiligen Interessen gegenüber dem Jobcenter der jeweiligen Sachlage entsprechend interessengerecht vertreten hat. Den Gesprächsvermerken ist dabei jeweils nur eine persönliche Vorsprache der Klägerin selbst zu entnehmen, die Begleitung durch eine Unterstützungsperson ist regelmäßig nicht vermerkt worden.
Des Weiteren findet sich in den Akten des Jobcenters ein Beschluss des Amtsgerichtes Oldenburg in Holstein vom 15. Februar 2008, mit dem für sie ein Betreuer unter anderem mit dem Aufgabenkreis der Vertretung gegenüber Behörden und sonstigen Institutionen bestellt worden ist. Auch für den Zeitraum danach finden sich aber noch Gesprächsvermerke über persönliche Vorsprachen der Klägerin, bei denen sie ohne Zuhilfenahme des Betreuers ihre Interessen gegenüber dem Jobcenter geltend gemacht hat, etwa als sie am 21. August 2008 Verzögerungen bei der Auszahlung der Leistungen der Unterhaltsvorschusskasse mitteilte oder als sie am 21. Dezember 2009 um die Gewährung von Leistungen zum Kauf von Heizöl gebeten hat, nachdem sie zuvor im November 2009 mitgeteilt hat, dass ihr Vermieter nicht bereit sei, Heizöl für die von ihr bewohnte Wohnung zu kaufen.
Insgesamt bestätigt die Durchsicht der Grundsicherungsakten, dass die Klägerin durch die bei ihr bestehenden Erkrankungen, insbesondere die posttraumatische Belastungsstörung und die Alkoholerkrankung, sicherlich in ihrer Alltagsgestaltung eingeschränkt war, sie aber durchaus in der Lage war, ihre Interessen gegenüber Behörden zu vertreten und ‑ je nach Sachlage ‑ auch interessengerecht Anträge auf Sonderleistungen und ähnliches im Rahmen ihrer Grundsicherungsleistungen zu stellen.
Von einer Unfähigkeit der Klägerin, einen Antrag nach dem OEG in der Zeit nach der Gewalttat bis zur tatsächlichen Antragstellung im Februar 2017 zu stellen, kann nach alledem nicht ausgegangen werden.
Dass die Klägerin die Diagnose der posttraumatischen Belastungsstörung nicht kannte, sondern erst im Jahr 2017 von der konkreten Diagnose erfahren habe, wie sie vorgetragen hat, lässt das Verschulden der verspäteten Antragstellung nicht entfallen. Die Kenntnis einer konkreten Diagnose hinsichtlich der Folgen einer Gewalttat wird im Rahmen der Antragstellung auf Leistungen nach dem OEG nicht erwartet und dürfte medizinische Laien auch regelmäßig überfordern. Die Antragstellung eröffnet vielmehr nur das Verwaltungsverfahren, in dessen Rahmen es Aufgabe des Beklagten ist, Feststellungen zu den bei der Antragstellerin vorliegenden Gesundheitsstörungen und ihrer Verursachung durch die Gewalttat zu treffen.
Auch trifft es nicht zu, dass die Klägerin nicht wusste, dass ihre psychischen Probleme jedenfalls zum Teil auf der Gewalttat beruhten. Gegenüber der Gerichtshelferin S hat sie nämlich im damaligen Strafverfahren angegeben, seit der Gewalttat unter panischen Angstzuständen, Schlafstörungen und Albträumen zu leiden und Aufenthalte in der Dunkelheit im Freien zu meiden (Bericht der Gerichtshilfe vom 17.Oktober 2003). Bestätigt wird dies durch ein Attest ihres damals behandelnden Psychiaters und Psychotherapeuten Dr. Z1 vom 11. November 2003, in dem dieser Schlafstörungen, ein nichtunterdrückbares Wiedererleben der traumatischen Szene, Flash-Backs, Albträume und nicht beherrschbare Angstzustände infolge der Gewalttat schilderte.
Soweit der Beklagte in der Berufungsbegründung erwogen hat, dass eventuell für einen Zeitraum von 13 Monaten, in dem Versuche des Meisterns des Alltags ohne Unterstützung gescheitert seien, eine Verhinderung der Antragstellung ohne Verschulden angenommen werden könne, vermag dies eine erweiterte Rückwirkung des Antrages nach § 60 Abs. 1 Satz 2 BVG für die Zeit über die Jahresfrist hinaus nicht zu begründen, denn diese kann denknotwendig nur nahtlos vor Ablauf der Frist erfolgen. Später liegende Zeiträume sind insoweit ohne Belang (vergleiche BSG, Urteil vom 16. März 2016 aaO Rn. 25.). Vorliegend endete die Jahresfrist am 2. März 2004. Da es, was hier anzunehmen ist, der Klägerin in der Zeit danach möglich war einen Antrag nach dem OEG zu stellen, vermögen eventuelle Hinderungsgründe in den Jahren 2011/2012 und 2016 keine Rückwirkung des tatsächlich gestellten Antrages nach § 60 Abs. 1 Satz 3 BVG mehr zu bedingen.
Vertretbar erscheint es zwar, eine Unfähigkeit zur Antragstellung in den ersten zwei Jahren nach der Tat anzunehmen, denn die Sachverständige D hatte in ihrem Gutachten vom 12.September 2018 ausgeführt, die Angabe der Klägerin, wonach sie in den ersten zwei Jahren nach der Tat quasi neben sich gestanden, nicht viel mitbekommen und wie in einer Hülle gelebt, sei glaubhaft. Dies deckt sich auch mit der Befundschilderung von Dr. Z1. Andererseits fällt in diesen Zeitraum die Geburt ihres Sohnes M. Legte man gleichwohl ein fehlendes Verschulden für zwei Jahre nach der Tat zugrunde, würde die Jahresfrist zur Antragstellung erst ab 2. März 2005 (2 Jahre nach der Tat) beginnen, wäre dann aber auch am 2. März 2006 abgelaufen, so dass der tatsächlichen Antragstellung erst im Februar 2017, also fast 11 Jahr nach Ablauf der erweiterten Frist, keine Rückwirkung zukommt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG und folgt der Entscheidung in der Hauptsache.
Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs.2 SGG liegen nicht vor.