L 7 AS 319/22 B

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 23 AS 439/21
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 7 AS 319/22 B
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Aachen vom 24.01.2022 hinsichtlich der Ablehnung der Prozesskostenhilfe geändert. Der Klägerin wird für das Verfahren S 23 AS 439/21 Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt X., K., beigeordnet.

Gründe:

I.

Die Klägerin begehrt die Übernahme eine Nebenkostennachforderung i.H.v. 208,26 € und höhere Leistungen für Unterkunft und Heizung im Zeitraum Juli 2021 bis März 2022.

Die Klägerin bezieht Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II vom Beklagten. Mit Schreiben vom 29.10.2019 forderte der Beklagte die Klägerin auf, ihre derzeitigen Aufwendungen für die Kosten der Unterkunft (Bruttokaltmiete i.H.v. 377,30 €) auf die angemessene Höhe (für einen 1-Personen-Haushalt in K. 358 € Bruttokaltmiete) zu senken. Andernfalls müsse sie davon ausgehen, dass er nach Ablauf von sechs Monaten nur noch die Unterkunftskosten in angemessener Höhe berücksichtige.

Mit Bescheid vom 07.10.2019 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 23.11.2019 berücksichtigte der Beklagte in seiner Leistungsbewilligung für den Zeitraum November 2019 bis März 2020 noch Kosten der Unterkunft und Heizung i.H.v. 287,30 € Kaltmiete, 90 € Betriebskosten und 93 € Heizkosten, insgesamt 470,30 €. Der Vermieter der Klägerin erhöhte ab 01.05.2020 die Kaltmiete auf 292,42 €. Die Heiz- und Nebenkostenvorauszahlungen blieben gleich. Die Klägerin stimmte dem Erhöhungsverlangen zu. Mit Bescheid vom 26.03.2020 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 05.06.2020 und 21.11.2020 berücksichtigte der Beklagte in seiner Leistungsbewilligung Kosten der Unterkunft und Heizung i.H.v. 287,30 € Kaltmiete, 90 € Betriebskosten und 93 € Heizkosten im April 2020 und von Mai 2020 bis März 2021 nur noch die abgesenkten Kosten i.H.v. 277 € Kaltmiete, 90 € Betriebskosten und 93 € Heizkosten, wobei er im Juli 2020 ein Heizkostenguthaben i.H.v. 27,32 € bedarfsmindernd anrechnete. Mit Bescheid vom 25.02.2021 berücksichtigte der Beklagte in seiner Leistungsbewilligung für den Zeitraum April 2021 bis März 2022 Kosten der Unterkunft und Heizung i.H.v. 277 € Kaltmiete, 90 € Betriebskosten und 93 € Heizkosten, insgesamt 460 €.

Mit Betriebs- und Heizkostenabrechnung für das Jahr 2020 vom 21.05.2021 machte der Vermieter eine Nachforderung i.H.v. 208,16 € im Juni 2021 geltend. Diese ergab sich aus der Verrechnung einer Nachzahlung für die Betriebskosten i.H.v. (2.063,46 € Verbrauch abzüglich der geleisteten Vorauszahlungen i.H.v. 1.080 € =) 983,46 € und einem Guthaben für Heizkosten i.H.v. (340,70 € Verbrauch abzüglich der geleisteten Vorauszahlungen i.H.v. 1.116 € =) 775,30 €. Außerdem senkte der Vermieter ab Juli 2021 die Heizkostenvorauszahlungen auf 30 € und erhöhte die Betriebskostenvorauszahlungen auf 177 €. Die Klägerin übersandte die Betriebs- und Heizkostenabrechnung am 31.05.2021 an den Beklagten, welcher dies als Antrag auf Übernahme der Kosten wertete.

Mit Bescheid vom 14.06.2021 lehnte der Beklagte die Übernahme der Nebenkostennachzahlung ab. Die abstrakt angemessene Bruttokaltmiete sei bereits erschöpft. Mit Bescheid vom 15.06.2021 passte der Beklagte seine Leistungsbewilligung an die geänderten Nebenkostenvorauszahlungen an und berücksichtigte für den Zeitraum Juli 2021 bis März 2022 Kosten der Unterkunft und Heizung i.H.v. 277 € Kaltmiete, 90 € Betriebskosten und 30 € Heizkosten, insgesamt 397 €.

Die Klägerin legte gegen die Bescheide vom 14. und 15.06.2021 Widerspruch ein. Dieser wurde nicht begründet. Mit Widerspruchsbescheid vom 02.08.2021 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück.

Die Klägerin hat am 01.09.2021 Klage erhoben und die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beantragt. Der Beklagte habe die Nachforderung i.H.v. 208,16 € zu übernehmen. Außerdem sei es unrichtig, dass der Heizkostenabschlag gesenkt worden sei, vielmehr sei der Betriebskostenabschlag von 90 € auf 117 € erhöht worden.

Mit angegriffenem Beschluss vom 24.01.2022 lehnte das Sozialgericht den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ab. Es sei unwahrscheinlich, dass die Klägerin im vorliegenden Verfahren obsiegen werde. Die Bescheide seien rechtmäßig.

Die Klägerin habe keinen Anspruch auf die Übernahme der Betriebskostennachzahlung. Der Beklagte habe die Kosten der Unterkunft ab Mai 2020 auf die angemessenen Kosten gesenkt. Der Teil der Betriebskostennachzahlung, der auf die Monate Januar bis April 2020 entfalle – hier (983,46 € / 12 Monate * 4 Monate =) 327,82 € – sei zwar grundsätzlich vom Beklagten zu übernehmen. Die Klägerin habe jedoch keinen weitergehenden Anspruch auf Übernahme von Betriebskosten über die Angemessenheitsgrenze hinaus. Die für die Unterkunft ermittelten Angemessenheitswerte seien auch zutreffend (unter Verweis auf SG Aachen, Urteil vom 19.03 2021 – S 19 SO 59/20 – juris). Der Beklagte sei wegen Verrechnung des Heizkostenguthabens i.H.v. 775,30 € mit der Betriebskostennachforderung i.H.v. 983,46 € durch den Vermieter und des bei der Klägerin wegen der damit verbundenen Schuldbefreiung entstehenden „wertmäßigen Zuwachs“ auch berechtigt gewesen, die von ihm zu übernehmende Betriebskostennachforderung i.H.v. 327,82 € mit dem Heizkostenguthaben zu verrechnen. Darüber hinaus bestehe kein Anspruch auf höhere Kosten der Unterkunft und Heizung im Zeitraum Juli 2021 bis März 2022. Die Heizkostenvorauszahlung betrage laut Abrechnung vom 21.05.2021 ab Juli 2021 – wie vom Beklagten berücksichtigt – 30 €. Die tatsächliche Bruttokaltmiete könne die Klägerin nicht beanspruchen, weil sie seit Mai 2020 auf die angemessenen Kosten gesenkt sei.

Gegen den am 04.02.2022 zugestellten Beschluss hat die rechtsanwaltlich vertretene Klägerin am 03.03.2022 Beschwerde eingelegt. Der Mietvertrag sei seinerzeit vom Beklagten akzeptiert worden und es seien sämtliche Kosten in vollem Umfange zu tragen.

 

II.

Die Beschwerde ist statthaft, weil der Beschwerdestreitwert von mehr als 750 € (vgl. §§ 172 Abs. 3 Nr. 2b144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG) erreicht wird. Die Klägerin begehrt die Übernahme ihrer Nebenkostennachforderung i.H.v. 208,16 € und ihrer tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung im Zeitraum Juli 2021 bis März 2022. Diese beliefen sich auf 499,42 €. Der Beklagte hat in dem Zeitraum monatlich 397 € bewilligt, woraus sich eine Differenz i.H.v. (102,42 * 9 Monate =) 921,78 € ergibt.

Die auch im Übrigen zulässige Beschwerde ist begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren S 23 AS 439/21 mangels hinreichender Aussicht auf Erfolg (§§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG114 Abs. 1 Satz 1 ZPO) abgelehnt.

Es ist verfassungsrechtlich grundsätzlich unbedenklich, die Gewährung von Prozesskostenhilfe davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint. Die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung darf nicht unverhältnismäßig erschwert werden, was namentlich dann der Fall ist, wenn das Fachgericht die Anforderungen an die Erfolgsaussicht der beabsichtigten Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung überspannt und dadurch der Zweck der Prozesskostenhilfe, dem Unbemittelten den weitgehend gleichen Zugang zu Gericht zu ermöglichen, deutlich verfehlt wird (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16.04.2019 – 1 BvR 2111/17 – juris, Rn. 20 f.; BVerfGE 81, 347 <359>). Ein Rechtsschutzbegehren hat hinreichende Aussicht auf Erfolg, wenn die Entscheidung in der Hauptsache von der Beantwortung einer schwierigen bislang ungeklärten Rechts- oder Tatsachenfrage abhängt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 22.03.2021– 2 BvR 353/21 –juris, Rn. 4). Die Prüfung der Erfolgsaussichten für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Schwierige, bislang ungeklärte Rechtsfragen dürfen nicht im Prozesskostenhilfe entschieden werden, sondern müssen auch von Unbemittelten einer prozessualen Klärung zugeführt werden können (Beschluss des Senats vom 14.02.2022 – L 7 AS 1648/21 B – m.w.N.). Prozesskostenhilfe ist allerdings nicht bereits zu gewähren, wenn die entscheidungserhebliche Frage zwar noch nicht höchstrichterlich geklärt ist, ihre Beantwortung aber im Hinblick auf die einschlägige gesetzliche Regelung oder die durch die bereits vorliegende Rechtsprechung gewährten Auslegungshilfen nicht in dem genannten Sinne als "schwierig" erscheint (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16.04.2019 – 1 BvR 2111/17 – juris, Rn. 20 f.; BVerfGE 81, 347 <359>).

Ausgehend davon kann der Klage nicht jegliche Erfolgsaussicht abgesprochen werden. Gemäß § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II werden Bedarfe für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind. Mit Bescheid vom 15.06.2021 bewilligte der Beklagte für den Zeitraum Juli 2021 bis März 2022 Kosten der Unterkunft und Heizung i.H.v. 277 € Kaltmiete, 90 € Betriebskosten und 30 € Heizkosten, insgesamt 397 €. Die tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung beliefen sich ausweislich der Heiz- und Betriebskostenabrechnung vom 21.05.2021 ab Juli 2021 auf 292,42 € Kaltmiete, 177 € Betriebskosten und 30 € Heizkosten, insgesamt 499,42 €. Nach § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II sind auch Nachforderungen aus einer Heiz- und Betriebskostenabrechnung als tatsächlicher, aktueller Bedarf im Monat der Fälligkeit zu berücksichtigen. Die Nachforderung i.H.v. 208,16 € war hier im Juni 2021 fällig.

Dem Begehren der Klägerin steht hier sowohl hinsichtlich der Übernahme der Betriebskostennachforderung als auch hinsichtlich der laufenden, höheren Unterkunftskosten entgegen, dass ihre Unterkunftskosten durch den Beklagten auf ein angemessenes Maß gesenkt waren. Insoweit nimmt der Senat auf die Ausführungen des Sozialgerichts im angefochtenen Beschluss Bezug (§ 142 Abs. 2 Satz 3 SGG). Das Sozialgericht hat unter Verweis auf SG Aachen, Urteil vom 19.03.2021 – S 19 SO 59/20 – ausgeführt, dass die von dem Beklagten ermittelten abstrakt angemessenen Aufwendungen den methodischen Anforderungen des Bundessozialgerichts an schlüssige Konzepte entsprechen (vgl. zusammenfassend BSG, Urteil vom 30.01.2019 – B 14 AS 24/18 R –; Urteil vom 03.09.2020 – B 14 AS 34/19 R –). Die gerichtliche Kontrolle von schlüssigen Konzepten ist eine nachvollziehende Kontrolle im Sinne einer Verfahrenskontrolle. Einer ins Einzelne gehenden Überprüfung bestimmter Detailfragen bedarf es erst dann, wenn fundierte Einwände erhoben werden, die insbesondere über ein Bestreiten der Stimmigkeit bestimmter Daten hinausgehen müssen (vgl. BSG, Urteil vom 17.09.2020 – B 4 AS 11/20 R – juris, Rn. 24), wozu es hier mangels Vortrags der Klägerin keine Veranlassung gegeben hat. Unabhängig davon, ob es sich hierbei angesichts der vorhandenen Rechtsprechung und der dadurch gewährten Auslegungshilfe nicht mehr um eine schwierige (und damit einem Hauptsacheverfahren vorbehaltene) Rechts- bzw. hier Tatsachenfrage handelt, fehlen Ausführungen zur konkreten Angemessenheit der Unterkunftskosten. Die Obliegenheit Leistungsberechtigter zur Senkung der Aufwendungen ist keine Folge der abstrakten Unangemessenheit. Maßgeblich ist nach § 22 Abs. 1 Satz 3 SGB II, ob die Aufwendungen den die Besonderheiten des Einzelfalls angemessenen Umfang übersteigen. Es ist deshalb zu prüfen, ob und wieweit Aufwendungen konkret angemessen sein können, weil relevante Besonderheiten des Einzelfalls vorliegen. Solche Besonderheiten können z.B. in der Ausübung eines Umgangsrechts liegen. Im Rahmen der konkreten Angemessenheit ist dem grundrechtlichen Schutz des Umgangsrechts eines Elternteils durch Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG Wirkung auf die Einzelfallentscheidung über die Berücksichtigungsfähigkeit in einem ersten Schritt als abstrakt unangemessen bewerteter Aufwendungen für Unterkunft und Heizung beizumessen (vgl. BSG, Urteil vom 21.07.2021 – B 14 AS 31/20 R – juris, Rn. 38 f.). Die Klägerin hat mit Schreiben vom 07.11.2019 auf die Kostensenkungsaufforderung des Beklagten vom 20.10.2019 reagiert und geltend gemacht, dass sie eine größere Wohnfläche benötige und damit auch höhere Unterkunftskosten zu berücksichtigen seien, weil sie regelmäßige Besuchs- und Übernachtungskontakte mit ihrem 2005 geborenen Sohn habe. Ob der dem Grunde nach anerkennenswerte besondere Umstand Auswirkungen auf den konkreten Wohnbedarf hat, bleibt einer Prüfung durch das Sozialgericht vorbehalten.

Kosten im Beschwerdeverfahren gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe sind nicht erstattungsfähig (§§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG, 127 Abs. 4 ZPO).

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).

 

Rechtskraft
Aus
Saved