L 16 R 870/19

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
16.
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 14 R 3323/19
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 16 R 870/19
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 5 R 79/23 B
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 19. November 2019 geändert.

Die Beklagte wird unter Änderung des Bescheides vom 9. Juni 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. September 2018 verurteilt, der Klägerin für die Zeit vom 1. März 2017 bis 31. August 2018 höhere Erwerbsminderungsrente unter Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten vom 18. Februar 1993 bis 28. Februar 1995, vom 1. Februar 1998 bis 31. Januar 2001 und vom 1. Juli 2004 bis 22. Mai 2006 sowie von Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung vom 18. Februar 1993 bis 22. Mai 2006 zu gewähren.

 

Die außergerichtlichen Kosten der Klägerin im erstinstanzlichen Verfahrens hat die Beklagte zu tragen, im Berufungsverfahren die Beklagte und die Beigeladene jeweils hälftig.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die 1964 geborene Klägerin ist bosnisch-herzegowinische Staatsangehörige und lebte zuletzt in S. Sie reiste  1993 mit ihrem am  1992 geborenen Sohn A nach Deutschland ein und beantragte „wegen der derzeitigen Bürgerkriegssituation in meinem Heimatland vorübergehenden Aufenthalt in Deutschland". Das Landeseinwohneramt Berlin — Ausländerbehörde — (LEA) lehnte mit Bescheid vom selben Tag einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung ab und erteilte sodann regelmäßig befristete Duldungen, welche jeweils mit dem Eintrag „Arbeitsaufnahme mit Erlaubnis des Arbeitsamtes erlaubt" versehen waren. Am 8. August 1996 beantragte die Klägerin bei der Ausländerbehörde eine „Orientierungsreise". Mit Bescheid vom 13. Januar 1997 wurde der Klägerin mitgeteilt, dass die Bürgerkriegssituation mit der Unterzeichnung des Friedensvertrages als beendet angesehen werde. Eine Rückführung sei ab 1. Mai 1997 vorgesehen. Mit ihrem Widerspruch dagegen, der mit Widerspruchsbescheid vom 13. Oktober 1997 zurückgewiesen wurde, beantragte die Klägerin zugleich eine Aufenthaltsbefugnis, weil in Bosnien-Herzegowina für sie als Muslimin mit Übergriffen zu rechnen sei. Der Antrag wurde mit Bescheid vom 11. Juli 1997 abgelehnt. Wegen einer am 8. Juli 1997 attestierten Risikoschwangerschaft wurde die Duldung zunächst für sechs Monate verlängert. Weitere Duldungen schlossen sich nach Geburt ihres Kindes I am 17. Januar 1998 an. Am 8. März 1999 teilte das LEA der Klägerin mit, dass eine fiktive Zustimmung Bosnien-Herzegowina zu ihrer Rücknahme vorliege. Weitere Duldungen für jeweils sechs Monate wurden wegen attestierter Reiseunfähigkeit und eines posttraumatischen Belastungssyndroms erteilt. Mit Bescheid vom 16. Januar 2004 lehnte das LEA den Antrag der Klägerin auf Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis vom 5. Juni 2001 ab. Eine am 1. März 2004 endende Duldung wurde aufgrund einer Risikoschwangerschaft der Klägerin zunächst bis zum 15. Juli 2004 verlängert, in der Folgezeit wegen laufender Rücknahmeersuchen auch für Serbien und einer Aktenanforderung der Härtefallkommission bis zum 21. März 2005. Der Asylantrag der Klägerin vom 21. März 2005 wurde am 2. Februar 2006 abgelehnt und die Abschiebung zunächst bis 24. April 2006 ausgesetzt und die Duldung anschließend für 18 Monate verlängert. Seit dem 23. Mai 2006 ist die Klägerin im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen.

 

Auf den Antrag der Klägerin vom 15. Juli 2015 bewilligte ihr die Beklagte mit Bescheid vom 22. Dezember 2016 Rente wegen voller Erwerbsminderung (EM) vom 1. September 2015 bis 31. August 2018. Die Rentenberechnung erfolgte unter Zugrundelegung einer Berücksichtigungszeit wegen Kindererziehung (BZK) für die   geborene Tochter E ab 16. November 2007. Am 5. Mai 2017 beantragte die Klägerin die Überprüfung ihres Rentenbescheides im Hinblick auf Kindererziehungszeiten (KEZ), weil sie bereits seit 2005 über einen Aufenthaltstitel verfügt habe. Mit Bescheid vom 7. Juni 2017 berechnete die Beklagte die Rente der Klägerin ab 1. September 2015 neu unter Berücksichtigung einer KEZ vom 23. Mai 2006 bis 30. Juni 2007 und einer am 23. Mai 2006 beginnenden BZK. Dieser Bescheide enthielt den Hinweis, dass erst ab Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vom 23. Mai 2006 eine Anerkennung von KEZ und BZK möglich sei. Der Bescheid ergehe aufgrund des Widerspruchs vom 5. Mai 2017, dem damit teilweise abgeholfen werde. Mit Bescheid vom 9. Juni 2017 berechnete die Beklagte die Rente der Klägerin ab 1. März 2017 wegen eines Beitragszuschusses zur Krankenversicherung neu. In Ergänzung des Bescheides vom 7. Juni 2017 wurde mitgeteilt, dass das Überprüfungsverfahren hinsichtlich der KEZ und BZK als erledigt angesehen werde.

 

Mit ihrem Widerspruch wandte sich die Klägerin gegen die Höhe der mit Bescheid vom 9. Juni 2017 bewilligten Rente und gab an, den Bescheid vom 7. Juni 2017 nicht erhalten zu haben. Sie habe Anspruch auf Anerkennung von KEZ für alle drei Kinder. Den gewöhnlichen Aufenthalt habe jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhalte, die erkennen ließen, dass er an diesem Ort nicht nur vorübergehend verweile; § 30 Abs. 3 Satz 2 Sozialgesetzbuch — Allgemeiner Teil — (SGB l). Es sei an die objektiv gegebenen tatsächlichen Verhältnisse anzuknüpfen. Deshalb sei nicht auf den aufenthaltsrechtlichen Status, sondern allein auf die tatsächlichen Umstände des Aufenthaltes abzustellen. Sei die Verweildauer zunächst ungewiss, genüge es, dass ein längeres Verweilen in Betracht komme. Der gewöhnliche Aufenthalt werde durch einen auf längere Dauer berechneten Aufenthalt begründet und bleibe vom Anfang bis zum Ende der Aufenthaltsdauer bestehen. Ein Ende des Bosnienkrieges sei zum Zeitpunkt ihrer Einreise nicht absehbar gewesen. Mit Bescheid vom 15. Juni 2018 wurde die Rente für drei Jahre verlängert.

 

Durch Widerspruchsbescheid vom 18. September 2018 wies die Beklagte den Widerspruch gegen den Bescheid vom 9. Juni 2017 zurück. Als Zeitpunkt der Begründung des gewöhnlichen Aufenthaltes gelte grundsätzlich der Tag der Einreise in das Bundesgebiet, wenn seit diesem Zeitpunkt eine materiell-rechtlich beständige Grundlage für den gewöhnlichen Aufenthalt vorliege. Bild entfernt.Liege weder ein zukunftsoffener Aufenthaltstitel noch eine sonstige beständige Grundlage für den gewöhnlichen Aufenthalt vor, werde der gewöhnliche Aufenthalt erst mit dem Tag der Erteilung des ersten zukunftsoffenen Aufenthaltstitels begründet.

 

Im Klageverfahren hat die Klägerin vorgetragen: Wenn die Verweildauer zunächst ungewiss sei, genüge es, dass ein längeres Verweilen in Betracht komme. Bei ihrer Einreise sei ein Ende des Bosnienkrieges nicht absehbar gewesen. Darüberhinausgehende Voraussetzungen müssten nicht erfüllt sein. Eine Duldung sei ausreichend, wenn nach den erkennbaren Umständen feststehe, dass der Ausländer wegen der politischen Verhältnisse in seinem Heimatland auf unabsehbare Zeit nicht abgeschoben werden könne. In diesem Sinne sei ein gewöhnlicher Aufenthalt anzunehmen, wenn voraussichtlich eine Duldung von mehr als sechs Monaten zu erwarten sei.

 

Das Sozialgericht (SG) Berlin hat die Klage mit Urteil vom 19. November 2019 abgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt: Die Klage sei als Anfechtungs- und allgemeine Leistungsklage zulässig. Gegenstand des Verfahrens sei der Bescheid vom 7. Juni 2017 in der Fassung des Bescheides vom 9. Juni 2017 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 18. September 2018, mit dem die Beklagte die Rente der Klägerin in Form eines Zweitbescheides von Beginn an neu berechnet habe und nicht etwa im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens entschieden habe. Die Klage sei nicht begründet. Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Neuberechnung ihrer Rente unter Berücksichtigung weiterer KEZ bzw. weiterer BZK. KEZ seien gemäß § 56 Abs. 1 Sozialgesetzbuch — Gesetzliche Rentenversicherung — (SGB VI) Zeiten der Erziehung eines Kindes in dessen ersten drei Lebensjahren, wenn die Erziehungszeit diesem Elternteil zuzuordnen sei (Nr. 1), die Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erfolgt sei oder einer solchen gleichstehe (Nr. 2) und der Elternteil nicht von der Anrechnung ausgeschlossen sei (Nr. 3). Die Erziehung sei der Klägerin zuzuordnen und sie sei auch nicht von der Anrechnung ausgeschlossen. Die Erziehung der Kinder sei zwar faktisch im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erfolgt, erfülle jedoch nicht die in § 56 Abs. 3 SGB VI geforderte Voraussetzung, dass der erziehende Elternteil sich dort mit dem Kind gewöhnlich aufgehalten habe. Wann ein gewöhnlicher Aufenthalt vorliege, werde in § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I definiert. Danach habe jemand den gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhalte, die erkennen ließen, dass er an diesem Ort und in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweile. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) komme es für das Vorliegen eines gewöhnlichen Aufenthaltes auf eine Würdigung der gesamten im Erziehungszeitraum gegebenen Umstände an. Zu diesen Umständen gehöre ebenfalls der ausländerrechtliche Status. Stehe dieser ausländerrechtliche Status einem dauerhaften Verbleib entgegen, könnten die sonstigen tatsächlichen Verhältnisse und der Wille, auf Dauer im Bundesgebiet bleiben zu wollen, für die Annahme eines gewöhnlichen Aufenthalts nicht ausschlaggebend sein. Ein nicht nur vorübergehendes Verweilen im Sinne der Gesetzesvorschrift setze voraus, dass die Aufenthaltsposition des Ausländers so offen sei, dass sie wie bei einem Inländer einen Aufenthalt auf unbestimmte Zeit ermögliche. Sei die Position hingegen auf die Beendigung des Aufenthalts im Inland angelegt, stehe dies der Annahme eines gewöhnlichen Aufenthalts trotz faktisch andauerndem Verbleiben und einem entsprechenden Bleibewillen entgegen; denn der Ausländer habe es dann nicht in der Hand, über die Dauer seines Aufenthalts im Inland frei zu bestimmen. Wie bei allen anderen Umständen, die bei Anwendung des § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I im Rahmen des § 56 Abs. 3 Satz 1 SGB VI zu würdigen seien, sei maßgeblich die Aufenthaltsposition des Ausländers, wie sie im Zeitraum der Kindererziehung vorgelegen habe. Es komme dabei entscheidend darauf an, dass die Maßnahmen auf Beendigung des Aufenthalts bei Erledigung des Duldungszweckes ausgerichtet seien. Indem sie an einem vorübergehenden Zweck anknüpften bzw. in der Absicht erfolgten, den Aufenthalt mit Wegfall des Hindernisses zu beenden, sollten sie gerade keinen dauerhaften Aufenthalt ermöglichen. Die Duldung der Klägerin sei, auch wenn bei ihrer Einreise kein Ende des Bürgerkrieges absehbar gewesen sei, jederzeit auf Beendigung ihres Aufenthaltes bei Erledigung des Duldungszweckes ausgerichtet gewesen. Eine Verfestigung des Aufenthalts sei auch nicht bis zum Ablauf einer möglichen Zeit der Kindererziehung für den   1992 geborenen Sohn A am 28. Februar 1995, dem Ende der Dreijahresfrist, eingetreten. Zwar seien auch zu diesem Zeitpunkt die Verhandlung über das spätere Abkommen von Dayton noch nicht einmal aufgenommen und ein Ende des Krieges nicht absehbar gewesen; eine Änderung der Erteilung jeweils befristeter Duldungen sei indes nicht erfolgt. Der auf einen vorübergehenden Aufenthalt gerichtete Wille der Klägerin werde auch durch die noch im Jahr 1996 beantragte Orientierungsreise deutlich, die einen grundsätzlichen Rückkehrwillen manifestiere. Für die weiteren Zeiten der Kindererziehung vom 1. Februar 1998 bis zum 31. Januar 2001 und vom 1. Juli 2004 bis zum 22. Mai 2006 habe erst recht kein Abschiebungshindernis auf unabsehbare Zeit vorgelegen. Denn schon zu Beginn dieses Zeitraumes habe der Beschluss der Konferenz der Innenminister der Länder vom 15. Dezember 1995 vorgelegen, mit dem eine gestaffelte Rückführung der Bürgerkriegsflüchtlinge eingeleitet werden sollte. Etwas Anderes folge auch nicht daraus, dass der Abschiebung teils rechtliche Hindernisse entgegengestanden hätten, wenn etwa die Einwilligung der Rücknahmestaaten einzuholen gewesen wäre, teils tatsächliche Hindernisse, wie der schlechte Gesundheitszustand der Klägerin oder derjenige des ältesten Sohnes. Denn diese Hindernisse hätten im zu beurteilenden Zeitraum bis zur Erteilung des zukunftsoffenen Aufenthaltstitels jedenfalls nur ein Abschiebehindernis für den jeweiligen Tatbestand, nicht aber ein Abschiebehindernis auf unabsehbare Zeit wegen eines verfestigen Zustandes begründet. Mangels eines gewöhnlichen Aufenthalts lägen auch keine BZK vor. Denn nach § 57 SGB VI sei die Zeit der Erziehung eines Kindes bis zu dessen vollendeten zehnten Lebensjahres nur dann eine Berücksichtigungszeit, wenn die Voraussetzung für die Anrechnung einer KEZ auch in dieser Zeit vorlägen.

 

Mit ihrer Berufung hat die Klägerin zunächst das klageabweisende Urteil in vollem Umfang angegriffen. Ihr ist mit Bescheid vom 25. Juni 2021 weiterhin Rente wegen voller EM auf Zeit bis 31. August 2024 bewilligt worden. Im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Senat am 22. März 2023 haben sich die Beteiligten auf einen Hinweis des Gerichts zur möglicherweise fehlenden Wirksamkeit des Bescheides vom 7. Juni 2017 über eine allfällige Neufeststellung der Rente außerhalb des vorliegenden Verfahrens für den Zeitraum vom 1. September 2015 bis 28. Februar 2017 verständigt.

 

Die Klägerin trägt ergänzend vor: Ein gewöhnlicher Aufenthalt sei seit ihrer Einreise am 18. Februar 1993 anzuerkennen. Für die Zeit bis 1997 ergäbe sich dies bereits daraus, dass Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien bis zu diesem Zeitpunkt durchgängig geduldet worden seien. Das erste Schreiben, welches auf eine mögliche Aufenthaltsbeendigung hindeute, sei erst im Januar 1997 erstellt worden.

 

Zum Zeitpunkt danach hätten rechtliche Abschiebehindernisse im Sinne von § 55 Abs. 2 Ausländergesetz (AuslG) bestanden, die zu weiteren Kettenduldungen und damit einem weiteren gewöhnlichen Aufenthalt geführt hätten. Eine Abschiebung wäre bereits aus formalen Gründen bis Anfang 2004 nicht möglich gewesen. Alle Schwangerschaften in Deutschland seien ärztlich und amtsärztlich bestätigte Risikoschwangerschaften gewesen. Aus Gründen ihres Gesundheitszustandes und des Gesundheitszustandes ihres Sohnes Armin sei die Abschiebung ebenfalls nicht in Betracht gekommen. Sie sei aufgrund ihrer Erlebnisse im Bürgerkrieg schwer traumatisiert gewesen. Auch ihr erstes Kind sei seit Dezember 2003 psychiatrisch behandelt worden. Diese Erkrankungen wögen umso schwerer, als sie in Bosnien keinen familiären Anschluss mehr gehabt hätte. Ihre gesamte Familie lebe in Berlin. Nach Art. 3 Buchst. a) des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien über soziale Sicherheit (DJSVA) stünden Staatsangehörige des anderen Vertragsstaates den Staatsangehörigen des Vertragsstaates gleich. Damit stehe sie bei der Frage der Anerkennung von KEZ und BZK deutschen Staatsangehörigen gleich.

 

Die Klägerin beantragt,

 

die Beklagte unter Änderung des Urteils des Sozialgerichts Berlin vom 19. November 2019 sowie unter Änderung des Bescheides vom 9. Juni 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. September 2018 zu verurteilen, ihr für die Zeit vom 1. März 2017 bis 31. August 2018 höhere Erwerbsminderungsrente unter Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten vom 18. Februar 1993 bis 28. Februar 1995, vom 1. Februar 1998 bis 31. Januar 2001 und vom 1. Juli 2004 bis 22. Mai 2006 sowie von Berücksichtigungszeiten wegen Kindererziehung vom 18. Februar 1993 bis 22. Mai 2006 zu gewähren.

Die Beklagte und die Beigeladene beantragen,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigen das angegriffene Urteil.

Sie tragen vor: Die Berücksichtigung von KEZ und BKZ nach §§ 56 und 57 SGB VI setze u.a. voraus, dass die Erziehung des Kindes im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erfolgt sei oder einer solchen gleichstehe. Die Anrechnung von Erziehungszeiten erfordere daher einen gewöhnlichen Aufenthalt des Erziehenden und des Kindes im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts bestimme sich nach § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB l. Bei Ausländern sei nicht nur Art und Zweck des Aufenthalts, sondern es seien auch aufenthaltsrechtliche Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Die Anerkennung solcher Zeiten komme auch nicht unter Berücksichtigung des DJSVA vom 12. Oktober 1968 in Betracht. Die nach Art. 3 Abs. 3 und 4 Abs. 1 Satz dieses Abkommens zu gewährende Gleichstellung beziehe sich auf Leistungsansprüche. Bei der Anerkennung von KEZ bzw. BZK handele es sich nicht um eine Leistung im Sinne dieser Vorschriften.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.

Die Gerichtsakten (2 Bände) sowie die Rentenakten der Beklagten haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung der Klägerin ist in dem noch zur Prüfung stehenden Umfang begründet.

Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens ist neben dem angegriffenen Urteil (nur) der Bescheid vom 9. Juni 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18. September 2018, soweit die Bewilligung einer höheren Rente unter Berücksichtigung weiterer KEZ und BZK für die Zeit vom 1. März 2017 bis 31. August 2018 abgelehnt worden ist. Der nach Angaben der Klägerin nicht bekanntgegebene Bescheid vom 7. Juni 2017 ist ebenso wie die Bescheide der Beklagten vom 15. Juni 2018 und vom 25. Juni 2021 nicht Gegenstand des Verfahrens. Die während des Widerspruchsverfahrens bzw. während des Berufungsverfahrens ergangenen Bescheide vom 15. Juni 2018 und vom 25. Juni 2021, mit denen die befristet erteilte Rente weitergewährt worden war, sind mangels einer verlautbarten Neufeststellung der Rente für die hier noch streitbefangene Zeit vor dem 31. August 2018 nicht nach 86, 96, 153 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gegenstand des Verfahrens geworden.

 

Die Klägerin hat für die streitbefangene Zeit gegen die für ihr Rentenbewilligungsverfahren zuständige Beklagte einen Anspruch auf höhere Rente, weil zu ihren Gunsten unter Berücksichtigung der §§ 56 Abs. 1 Satz 2, 57 Satz 1 SGB V i.V.m. Art. 3 Buchst. a), 4 Abs. 1 DJSVA weitere KEZ und BZK im tenorierten Umfang anzurechnen sind. Eine die Zuständigkeit der Beklagten verdrängende Zuständigkeit der Beigeladenen nach Art. 34 Abs. 2 DJSVA vom 12. Juli 1968 (BGBI Il 1969, S. 1438) i.V.m. Art. 5 Satz 1 der Vereinbarung zur Durchführung des DJSVA vom 9. November 1969 (BGBI. Il 1973 S. 711) liegt nicht vor, denn weder hält sich die Klägerin im ausländischen Vertragsgebiet auf noch kommt eine Berücksichtigung nichtdeutscher rentenrechtlicher Zeiten oder von Zeiten, für die die Rechtsvorschriften über Fremdrenten anwendbar sind, in Betracht.

Nach § 56 Abs. 1 Satz 2 SGB VI wird für einen Elternteil eine KEZ angerechnet, wenn (1.) die Erziehungszeit diesem Elternteil zuzuordnen ist, (2.) die Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erfolgt ist oder einer solchen gleichsteht und (3.) der Elternteil nicht von der Anrechnung ausgeschlossen ist. Die Erziehungszeit für die Kinder der Klägerin ist dieser zuzuordnen, weil sie diese allein oder zumindest überwiegend erzogen hat und die KEZ auch nicht anderweitig zugeordnet wurde (vgl. § 56 Abs. 2 SGB VI). Die Klägerin ist auch nicht von der Anrechnung ausgeschlossen, da kein Ausschlusstatbestand vorliegt (vgl. § 56 Abs. 4 SGB VI).

 

Entgegen der Auffassung des SG liegt auch die Voraussetzung der Nr. 3 des § 56 Abs. 1 Satz 2 SGB VI vor. Nach der Legaldefinition des § 56 Abs. 3 Satz 1 SGB VI ist eine Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erfolgt, wenn der erziehende Elternteil sich mit dem Kind dort gewöhnlich aufgehalten hat. Das SG hat zwar mit zutreffender Begründung festgestellt, dass die Klägerin in dem hier maßgeblichen Zeitraum ihren gewöhnlichen Aufenthalt nicht im Bundesgebiet hatte, weil sie vor dem 23. Mai 2006 nicht über einen „zukunftsoffenen Aufenthaltstitel" verfügte. Es bestehen auch keine tatsächlichen Anhaltspunkte dafür, dass die Erziehung der Kinder der Klägerin einer Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland nach § 56 Abs. 3 Sätze 2 und 3 SGB VI gleichsteht, denn die Klägerin hat sich während der hier relevanten Erziehungszeiten nicht im Ausland aufgehalten.

Indes kann die Klägerin die Anrechnung der geltend gemachten KEZ unter Berücksichtigung der vorrangigen Vorschriften des DJSVA, welches im Verhältnis von Bosnien-Herzegowina zu Deutschland weiter anzuwenden ist (vgl. BSG, Urteil vom 12. April 2000 - B 14 KG 3/99 R -, juris Rn. 14; Bayerisches Landessozialgericht <BayLSG>, Urteil vom 9. März 2022 - L 6 R 75/21 -), beanspruchen. Nach Art. 4 Abs. 1 dieses Abkommens gelten die Rechtsvorschriften des einen Vertragsstaates, nach denen die Entstehung von Ansprüchen auf Leistungen oder die Gewährung von Leistungen oder Zahlung von Geldleistungen vom Inlandsaufenthalt abhängen, ua nicht für die Staatsangehörigen des anderen Vertragsstaates. Diese stehen vielmehr nach Art. 3 Abs. 1 Buchst a) DJSVA bei Anwendung der Rechtsvorschriften eines Vertragsstaats grundsätzlich dessen Staatsangehörigen gleich, wenn sie sich gewöhnlich im Gebiet eines Vertragsstaats aufhalten (vgl. zum Deutsch-israelischen Abkommen über Soziale Sicherheit - DISVA -: BSG, Urteil vom 15. November 1988 - 4/11a RA 58/87 -, juris Rn. 15 und zum Deutsch-amerikanischen Abkommen über Soziale Sicherheit - DASVA -: BSG, Urteil vom 12. Juli 1988 - 4/11a RA 36/87 -, juris

Rn. 14). Das BSG hat in dem Kindergeldansprüche bosnischer Bürgerkriegsflüchtlinge betreffenden Urteil vom 12. April 2000 klargestellt, dass die Forderung des Art. 3 Abs. 1 DJSVA nach einem gewöhnlichen Aufenthalt in einem der Vertragsstaaten (vgl. BSG, Urteil vom 12. April 2000 - B 14 KG 3/99 R -. juris Rn. 19) lediglich der Abgrenzung des uneingeschränkt berechtigten Personenkreises zu solchen Personen diene, die sich außerhalb der Gebiete beider Vertragsstaaten gewöhnlich aufhalten (Art. 3 Abs. 2). Das DJSVA gehe ersichtlich davon aus, dass jedermann einen gewöhnlichen Aufenthalt habe, und zwar entweder in einem der Vertragsstaaten oder außerhalb ihrer Gebiete. Kommen – wie hier – nur die Vertragsstaaten in Betracht, so folge daraus die uneingeschränkte Gleichstellung nach Art. 3 Abs. 1 DJSVA (vgl. BSG a.a.O.). Der Senat folgt dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung nach eigener Prüfung. Dementsprechend bewirkt Art. 3 Abs. 1 Buchst.  a) iVm mit Art. 4 Abs. 1 Satz 1 DJSVA, dass abweichend vom Erfordernis des „gewöhnlichen Aufenthalts im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland" für die Anrechnung von KEZ der tatsächliche Aufenthalt in Deutschland oder in Bosnien-Herzegowina genügt. Die Klägerin hat sich während der hier streitigen versicherungsrechtlichen Zeiten nicht außerhalb der Gebiete dieser Vertragsstaaten aufgehalten. Mit dem Wegfall des Erfordernisses des „gewöhnlichen Aufenthalts" ist allerdings nicht zugleich ein Dispens vom Erfordernis einer „Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland" iSd § 56 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 1 SGB VI verbunden. Das BSG hat in den bereits angeführten Entscheidungen zum DISVA bzw. DASVA ausgeführt, dass - obwohl der gemeinsame gewöhnliche Aufenthalt von Eltern und Kindern im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei im Regelfall untrennbar mit der Erziehung der Kinder durch die Eltern verknüpft sei - die Gebietsgleichstellung nur den "Aufenthalt" im Gebiet der anderen Vertragspartei, nicht die dort erfolgende Erziehung erfasse (vgl. BSG, Urteile 15. November 1988, a.a.O. Rn. 15 und vom 12. Juli 1988, a.a.O. Rn. 14). Unter "Aufenthalt" sei nach der gewöhnlichen, auch den Sozialversicherungsabkommen zugrundeliegenden Bedeutung ausschließlich der für die zulässige Ausübung von Staatsgewalt bedeutsame tatsächliche Umstand zu verstehen, dass sich eine Person im Hoheitsgebiet eines Staates befinde. Eine weitergehende, die Kindererziehung im Aufenthaltsgebiet erfassende Bedeutung hätten die Parteien nicht vereinbart. In diesem Sinne sind auch die im Wesentlichen gleichlautenden Bestimmungen des DJSVA in der von der Beklagten angeführte Entscheidung des BayLSG vom 9. März 2022 – L 6 R 75/21 – und im Beschluss des BSG vom 25. August 2022 – B 5 R 83/22 B –, mit dem die Nichtzulassungsbeschwerde gegen diese Entscheidung verworfen wurde, ausgelegt worden. Den angeführten Entscheidungen des BSG lagen jeweils Konstellationen zugrunde, in denen erfolglos KEZ für Erziehungstatbestände im (Vertrags-)Ausland gelten gemacht wurden. Im Unterschied hierzu hat die Klägerin sich mit ihren Kindern in den hier zu beurteilenden Zeiträumen jedoch im Inland aufgehalten und sich in Deutschland der Erziehung ihrer Kinder gewidmet. Damit liegt eine Erziehung iSv § 56 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 1 SGB VI vor. Der Begriff der „Erziehung im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland" ist auch nicht einschränkend dahingehend auszulegen, dass sie nur von solchen Personen geleistet werden kann, die zu einer Erwerbstätigkeit im Inland berechtigt sind oder eine solche Berechtigung wenigstens erlangen können, was im Übrigen bei der Klägerin aufgrund der Nebenbestimmungen zu den erteilten Duldungen regelmäßig der Fall war. Zwar ging der Gesetzgeber bei der gesetzlichen Einführung von KEZ von der Vorstellung aus, dass der mit der Kindererziehung bewirkte Beitrag zur Aufrechterhaltung der als Generationenvertrag ausgestalteten Rentenversicherung honoriert und damit die mit der Kindererziehung typischerweise einhergehende Einschränkung beim Erwerb eigener Rentenansprüche kompensiert werden sollte (vgl. dazu eingehend BSG, Urteil vom 21. Oktober 2021 – B 5 R 28/21 R –, juris Rn. 18). Er hat - wie aus dem einen solchen Zusammenhang nicht erwähnenden Wortlaut der Vorschrift ersichtlich ist - gleichwohl keinen Anlass dafür gesehen, den Kreis der Berechtigten durch die Aufnahme eines an die rechtliche oder tatsächliche Erwerbsfähigkeit des erziehenden Elternteils anknüpfenden Ausschlusstatbestands einzuengen.

 

Neben dem Anspruch auf Berücksichtigung weiterer KEZ steht der Klägerin gemäß § 57 Satz 1 SGB VI ein Anspruch auf weitere BZK im tenorierten Umfang zu, denn in diesen Zeiten waren die Voraussetzungen für die Anrechnung einer KEZ weiterhin gegeben.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Es entspricht billigem Ermessen, der Beigeladenen, die im Berufungsverfahren die Zurückweisung der Berufung beantragt hat, die außergerichtlichen Kosten der Klägerin im zweitinstanzlichen Verfahren zur Hälfte aufzuerlegen.

 

Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
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