L 1 KR 155/21

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1.
1. Instanz
SG Potsdam (BRB)
Aktenzeichen
S 3 KR 531/17
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 155/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Ein Fahrtkostenerstattungsanspruch nach § 60 SGB V bei Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel oder des eigenen PKW kann sich auch aus dem Eintritt der Genehmigungsfiktion des § 13 Abs. 3 a SGB V ergeben. 

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 25. Februar 2021 geändert. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin 38,80 € zu erstatten. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin 1/20 der ihr entstandenen außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

 

Im Streit steht noch ein Anspruch auf Erstattung von Fahrtkosten zu ambulanten ärztlichen Behandlungen in Höhe von 1.047,60 €.

 

Die 1960 geborene Klägerin ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Sie wurde 1995 aufgrund eines Gehirntumors linksseitig operiert und erlitt im Juli 2015 eine Hirnblutung. Sie leidet ferner unter anderem an einem Tumorrezidiv und einer größenkonstanten Kaverna links sowie insbesondere an einer Merk- und Gedächtnisstörung. Ihr ist mit Wirkung vom 27. Januar 2016 ein Gesamt-Grad der Behinderung von 30 zuerkannt, mit Wirkung ab 21. September 2017 ein Gesamt-Grad von 50 ohne besondere Merkzeichen.

 

In der Zeit vom 17. März 2016 bis zum 14. Dezember 2017 ließ sich die Klägerin in vierzehntägigem Abstand von ihrem Lebensgefährten von ihrem Wohnort mit dem Pkw auf eigene Kosten in die Praxis des Facharztes für Neurologie Dr. W in P zu einem ambulanten neuropsychologischen Hirnleistungstraining fahren. Die Entfernung vom Wohnort zur Praxis beträgt 97 km.

 

Mit Schreiben vom 21. März 2016 teilte sie der Beklagten mit, ab 17. März 2016 vierzehntägig in neuropsychologischer Therapie in Potsdam zu sein. Die Fahrt betrage hin und zurück 200 km. Sie bitte um Fahrkostenrückerstattung und einen Fahrkostenrückerstattungsschein für die nächsten Therapien. Beigefügt war ein Attest des Dr. W, wonach die Klägerin am 17. März 2016 zur neuropsychologischen Diagnostik in seiner Praxis gewesen sei. Eine ärztliche Verordnung einer Krankenbeförderung („Muster 4“) lag dem Schreiben nicht bei. Die Klägerin erinnerte mit Schreiben vom 5. April 2016, eingegangen bei der Beklagten am 11. April 2016, an ihren Antrag. Darin führte sie u. a. aus, sie könne nicht alleine zu der Therapie fahren und bittet um Kostenerstattung, damit die Therapie weiter durchgeführt werden könne.

Die Beklagte lehnte mit Schreiben vom 29. April 2016 den Antrag auf Fahrtkostenübernahme ab, nachdem sie bereits zuvor unter dem 13. Juni 2016 einen Antrag auf Kostenübernahme für eine telemedizinische Behandlung zurückgewiesen hatte. Zur Begründung führte sie aus, die Voraussetzungen hierfür einer hohen Belastungsfrequenz über einen längeren Zeitraum und einer Beeinträchtigung durch die Behandlung oder den Krankheitsverlauf in einer Weise, dass eine Beförderung zur Vermeidung von Schaden auf Leib und Leben unerlässlich sei, lägen nicht vor. Die Klägerin könne auch keinen Schwerbehindertenausweis vorlegen mit einem der Merkzeichen aG (außergewöhnlich gehbehindert), Bl (blind), H (hilflos) und sei keine Versicherte, die Pflegeleistungen nach Pflegestufe 2 oder 3 des Sozialgesetzbuch Neuntes Buch beziehe oder zwar keines der genannten Merkzeichen bzw. einen Pflege-Einstufungsbescheid vorweisen könne, jedoch von einer vergleichbaren Beeinträchtigung der Mobilität betroffen sei und einer ambulanten Behandlung über einen längeren Zeitraum bedürfe.

Diese Entscheidung griff die Klägerin nicht an.

Mit am 30. Mai 2017 eingegangenen Schreiben vom 29. Mai 2017 stellte sie aber erneut einen Antrag auf Fahrtkostenerstattung. Sie sei im Mai 2017 beim MRT und zu dessen Auswertung im CKlinikum in C gewesen. Aufgrund der attestierten Befunde sei sie nicht in der Lage, selbst zur erforderlichen Therapie in Potsdam zu fahren. Die Termine für die Therapie ab 2016 seien der Beklagten zugeschickt worden. Beigefügt war ein Attest des Dr. S des Klinikums, wonach die Klägerin weiterhin an einer Merk- und Gedächtnisstörung leide und die Fortführung des vierzehntägigen Hirnleistungstrainings in P aus neurochirurgischer Sicht sinnvoll und notwendig sei.

Mit Telefonaten vom 8. Juni 2017 forderte die Beklagte von Dr. S eine entsprechende Verordnung an und teilte der Klägerin mit, nach deren Eingang den Medizinischen Dienst Berlin-Brandenburg (MDK) einzuschalten.

Eine ärztliche Verordnung einer Krankenbeförderung, ausgestellt von Dr. S, ging daraufhin an diesem Tag bei der Beklagten ein und wurde von dieser mit Schreiben vom 14. Juni 2017 dem MDK vorgelegt. Dieser gelangte in seiner sozialmedizinischen Stellungnahme durch Dipl.-Med. Z vom 15. Juni 2017 zu dem Ergebnis, dass die Voraussetzungen nach § 8 Abs. 2 der Krankentransportlinien nicht gegeben seien. Zwar bestünde eine relativ hohe Behandlungsfrequenz über einen längeren Zeitraum. Jedoch beeinträchtige der zu dieser Behandlung führende Krankheitsverlauf oder die Behandlung selbst die Klägerin nicht in einer Weise, dass eine Beförderung zur Vermeidung von Schaden an Leib und Seele unerlässlich sei. Auf die Stellungnahme wird ergänzend verwiesen .

Die Beklagte lehnte daraufhin den Antrag auf Kostenübernahme für Fahrten zur ambulanten Behandlung mit Bescheid vom 28. Juni 2017 ab.

 

Hiergegen erhob die Klägerin am 13. Juli 2017 Widerspruch und reichte ein Attest ihres Behandlers Dr. W vom 29. Juni 2017 ein, wonach die Behandlung bis auf Weiteres medizinisch notwendig sei.

 

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 25. Oktober 2017 zurück.

 

Hiergegen hat die Klägerin am 20. November 2017 Klage beim Sozialgericht Potsdam (SG) erhoben: Sie habe mit Schreiben vom 21. März 2016 die Erstattung der Fahrkosten für die Wahrnehmung der Behandlungstermine ab dem 17. März 2016 beantragt. Dies habe die Beklagte erst mit Bescheid vom 28. Juni 2017 abgelehnt. Beim Schreiben vom 29. April 2016 handle es sich mangels Rechtsmittelbelehrung nicht um einen Verwaltungsakt.

Gegen den Ablehnungsbescheid vom 13. Juni 2016 habe sie zunächst am 15. Juni 2016 mündlich und sodann mit Schreiben vom 13. Juli 2016 schriftlich Widerspruch eingelegt. Jedenfalls liege im Klagevorbringen ein Überprüfungsantrag gemäß § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X). Die Beklagte habe allerdings bereits von Amts wegen ein Überprüfungsverfahren eingeleitet, wie sich aus der Begründung im Widerspruchsbescheid vom 25. Oktober 2017 ergebe. Auch sei bereits ihr Antrag auf Kostenübernahme vom 25. Mai 2017 als solcher auf Überprüfung des Bescheides vom 29. April 2016 auszulegen, weil sie dort ausgeführt habe „Termine d. Therapie von 2016 wurden ihnen zugeschickt.“ Sie habe sich dabei offenbar auf den Bescheid der Beklagten vom 29. April 2016 bezogen, weil sie von der Beklagten kein Schreiben im April 2017 erhalten habe. Ihr Widerspruch vom 6. Juli 2017 habe sich gegen die Bescheide vom 13. Juni 2017 und vom 28. Juni 2017 gerichtet. Gemeint sei damit offensichtlich der Bescheid vom 13. Juli 2016 gewesen.

Sie hat Bescheinigungen des Dr. W vom 23. Februar 2017 sowie vom 26. April 2018 eingereicht, in welchen die wahrgenommenen Behandlungstermine bescheinigt werden und auf die ergänzend Bezug genommen wird. In materiell-rechtlicher Hinsicht hat sie ausgeführt, die notwendige Behandlung beeinträchtige sie in einer Weise, dass eine Fremdbeförderung zur Vermeidung von Schaden an Leib und Leben unerlässlich sei. Nach der Therapie sei sie so erschöpft, dass sie nicht in der Lage sei, ein Fahrzeug sicher zu führen oder öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen. Sie sei nach der zweistündigen Therapiesitzung so ermüdet, dass sie immer wieder einschlafe und sich nicht konzentrieren könne.

 

Die Beklagte hat es auf den Antrag der Klägerin auf Überprüfung des Bescheides vom 29. April 2016 hin mit Bescheid vom 23. September 2020 abgelehnt, den erstgenannten Bescheid zurückzunehmen. Die Klägerin hat hiergegen Widerspruch erhoben. Das Widerspruchsverfahren ruht bis zum Abschluss des vorliegenden Klageverfahrens.

 

Die Beklagte hat ausgeführt, die Klägerin habe am 29. Mai 2017 lediglich einen Antrag auf Fahrtkostenerstattung für bereits durchgeführter Fahrten begehrt. Ein Antrag auf Kostenübernahme zukünftiger Fahrten liege erst mit Eingang der ärztlichen Verordnung am 8. Juni 2017 vor. Über diesen Antrag habe sie innerhalb von drei Wochen entschieden.

 

Das SG hat einen Befundbericht des behandelnden Neurochirurgen Dr. S vom 4. Januar 2021 eingeholt, auf den ergänzend verwiesen wird.

Es hat die Klage mit Urteil vom 25. Februar 2021 abgewiesen. Der Klägerin stehe kein Anspruch auf Kostenerstattung zur ambulanten neuropsychologischen Therapie in Potsdam für den Zeitraum vom 17. März 2016 bis zum 14. Dezember 2017 zu. Für die Zeit vom 12. Mai 2016 bis zum 18. Mai 2017 folge dies bereits aus der Ablehnung im Bescheid vom 29. April 2016. Dieser sei bestandskräftig, weil die Klägerin keinen Widerspruch erhoben habe. Die im Klageverfahren hierzu eingereichten Unterlagen bezögen sich auf einen Antrag auf Kostenübernahme für telemedizinische neuropsychologische Trainingstherapie. Das Verfahren auf Überprüfung ruhe im Widerspruchsverfahren.

In der Sache selbst bestehe zudem ein Anspruch weder für den Zeitraum ab 17. März 2016 bis zum 18. Mai 2017 noch für die Zeit danach bis zum 14. Dezember 2017. Die grundsätzlich nach § 60 Abs. 1 Satz 4 SGB V erforderliche Genehmigung durch die Krankenkasse liege nicht vor. Eine der Ausnahmeindikationen nach § 8 der Krankentransportrichtlinie, wonach die Genehmigung als erteilt gelte, liege ebenfalls nicht vor. Bereits nach dem Befundbericht des Dr. S sei auszuschließen, dass bei der Klägerin in der fraglichen Zeit eine Merk- und Gedächtnisstörung vorgelegen habe, welche diese so sehr beeinträchtigt habe, dass ohne Krankenbeförderung ein möglicher Schaden an Leib und Leben eingetreten wäre oder ein solcher Zustand durch die Therapie selbst zu befürchten sei. Auch habe bei ihr keine Mobilitätseinschränkung vergleichbar den Merkzeichen aG, Bl, H oder Pflegesatz 2 oder 3 vorgelegen. Der Klägerin stehe auch kein Anspruch auf Erstattung der begehrten Fahrtkosten nach § 13 Abs. 3a SGB V zu.

 

Gegen diese am 22. März 2021 zugestellte Entscheidung richtet sich die Berufung der Klägerin vom 17. April 2021. Zu deren Begründung hat sie ihr bisheriges Vorbringen wiederholt. Ergänzend führt sie aus, das SG hätte unter Anwendung des Meistbegünstigungsprinzips und unter Berücksichtigung des § 16 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Erstes Buch den Widerspruch der Klägerin vom 13. Juli 2016 dahingehend auslegen müssen, dass diese die Kostenübernahme für die ambulante Behandlung und die Übernahme der damit untrennbar verbundenen Fahrtkosten umfasse. Auch habe der Behandler Dr. S in seiner Verordnung einer Krankenbeförderung die Diagnose eines Ausnahmefalles gestellt.

 

Sie beantragt unter Rücknahme von Klage und Berufung im Übrigen,

 

das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 25. Februar 2021 sowie den Bescheid der Beklagten vom 28. Juli 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Oktober 2017 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin ab dem 17. März 2016 Fahrtkosten für 27 Therapiesitzungen in der Praxis für neuropsychologische Diagnostik und Therapie  Pin Höhe von insgesamt von 1.067,40 € zu erstatten.

 

Die Beklagte beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

 

Entscheidungsgründe

 

Es konnte im schriftlichen Verfahren und durch den Berichterstatter alleine entschieden werden, §§ 155 Abs. 3, 4, § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Beide Beteiligten haben sich mit einer solchen Vorgehensweise einverstanden erklärt. Gründe, von der Ermächtigung keinen Gebrauch zu machen, sind nicht ersichtlich.

 

Berufung und Klage bleiben ganz überwiegend ohne Erfolg. Insbesondere ist der angefochtene Bescheid vom 28. Juli 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25. Oktober 2017 rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten.

 

Nach § 60 Abs. 1 Satz 3 SGB V in der bis 31. Dezember 2017 geltenden Fassung vom 16. Juli 2015 (= SGB V a. F.) übernimmt die Krankenkasse Fahrtkosten zu einer ambulanten Behandlung (nur) in besonderen Ausnahmefällen, die der gemeinsame Bundesausschuss in der Richtlinie über die Verordnung von Krankenfahrten, Krankentransportleistungen und Rettungsfahrten nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 12 SGB V (Krankentransportrichtlinie; in der Fassung vom 22. Januar 2004 hier in der Fassung der Änderung vom 18. Februar 2016, in Kraft getreten am 5. Mai 2016) geregelt hat. Im Allgemeinen muss eine Versicherte Ärzte und Heilmittelerbringer auf eigene Kosten aufsuchen.

Nach § 60 Abs. 1 Satz 4 SGB V a. F. erfolgt die Übernahme von Fahrtkosten für die ambulante Behandlung nur nach vorheriger Genehmigung durch die Krankenkasse.

 

Eine Kostenerstattung für die Fahrten am 17. März 2016 scheidet bereits deshalb aus, weil die Klägerin erst danach einen entsprechenden Antrag auf Genehmigung gestellt hat.

An der fehlenden Genehmigung scheitert eine Kostenerstattung auch für sämtliche übrigen Fahrten außer der am 28. April 2016:

 

Für alle Fahrten bis Eingang des neuerlichen Antragsschreibens am 30. Mai 2017 folgt dies bereits aus der Bestandskraft des Ablehnungsbescheides vom 29. April 2016.

Das Schreiben der Beklagten vom 29. April 2016 stellt einen ablehnenden Verwaltungsakt dar. Dies ergibt sich aus dem Regelungssatz, dass eine Kostenübernahme der Fahrtkosten zur ambulanten Behandlung nicht möglich sei. Dabei handelt es sich nicht nur um einen Hinweis auf die Rechtslage, sondern um die verbindliche Entscheidung im Einzelfall. Die Regelung wird einleitend flankiert durch die Ausführungen, sich eingehend mit der Bitte um Kostenerstattung beschäftigt zu haben und enthält insbesondere auch die Wendung, dass bewusst sei, dass „mit dieser Entscheidung“ nicht den Erwartungen entsprochen werde.

 

Da dem Verwaltungsakt keine Rechtsmittelbelehrung beigefügt war, betrug die Frist zur Einlegung eines Widerspruches nach § 66 Abs. 2 SGG ein Jahr. Die Klägerin hat jedoch erst nach mehr als 12 Monaten ihr Begehren auf Fahrtkostenerstattung gegenüber der Beklagten deutlich gemacht. Das am 13. Juli 2016 an die Beklagte übersandte Widerspruchsschreiben bezieht sich überdies (nur) auf einen Bescheid der Beklagten vom 13. Juni 2016, welcher eine etwaige Kostenübernahme für eine telemedizinische neuropsychologische Trainingstherapie zum Gegenstand hatte.

 

Soweit die Klägerin eine Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 27. April 2016 und Neubescheidung beantragt hat, ist dies nicht Streitgegenstand des hiesigen Verfahrens. Das entsprechende Widerspruchsverfahren ruht vielmehr.

 

Zu Recht hat das SG weiter darauf hingewiesen, dass der Ablehnungsbescheid vom 27. April 2016 unabhängig von der Bestandskraft rechtmäßig ist und die Klägerin nicht in ihren Rechten verletzt. Die materiell-rechtlichen Voraussetzung für eine Kostenerstattung nach § 60 SGB V a. F. in Verbindung mit der Krankentransport-Richtlinie liegen nicht vor. In Betracht käme lediglich ein Ausnahmefall nach § 60 Abs. 1 Satz 3 SGB V a. F. in Verbindung mit § 8 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Krankentransport-Richtlinie a. F.. Voraussetzung wäre, dass die Klägerin mit einem durch die Grunderkrankung vorgegebenen Therapieschema behandelt wurde, das eine hohe Behandlungsfrequenz über einen längeren Zeitraum aufwies, und dass diese Behandlung oder der zu dieser Behandlung führende Krankheitsverlauf sie in einer Weise beeinträchtigte, dass eine Beförderung zur Vermeidung von Schaden an Leib und Leben unerlässlich war.

Es kann dabei dahingestellt bleiben, ob eine Behandlung alle 14 Tage für sechs Monate eine „hohe Behandlungsfrequenz“ in diesem Sinne darstellt (vgl. für das Ausreichen eines (dauerhaften) Termins pro Woche: BSG, Urteil vom 28. Juli 2008 – B 1 KR 27/07 R). Denn es fehlt, wie bereits das SG ausführlich ausgeführt hat, an der weiteren Voraussetzung, dass die Krankheit selbst oder die Beförderung zur Vermeidung von Schaden an Leib und Leben hätte unerlässlich sein müssen. Ausweislich der (erst) am 8. Juni 2017 ausgestellten Verordnung einer Krankenbeförderung durch Dr. S soll ein entsprechender Ausnahmefall vorliegen. Allerdings hat der Verordner in seinem vom SG eingeholten Befundbericht vom 4. Januar 2021 die ausdrückliche Frage, ob der Krankheitsverlauf der Klägerin diese in der Zeit vom 17. März 2016 bis zum 14. Dezember 2017 so sehr beeinträchtigt habe, dass ohne Krankenbeförderung ein möglicher Schaden an Leib und Leben eingetreten wäre, verneint. Er hat auch die weitere Frage, ob die Behandlung selbst die Klägerin in diesem Sinne beeinträchtige, verneint, ebenso eine Mobilitätseinschränkung vergleichbar dem Merkzeichen aG, Bl, H oder Pflegebedürftigkeit Pflegestufe 2 oder 3.

Diese ärztliche Einschätzung des Behandlers deckt sich mit dem Ergebnis des sozialmedizinischen Gutachtens des MDK durch Dipl.-Med. Z vom 15. Juni 2017. Alleine der Umstand, dass die Klägerin nach dem erfolgten Hirnleistungs-Training müde war, belegt nichts Anderes. Es ist nicht vorgetragen oder ersichtlich, dass die Klägerin die Rückfahrt jeweils sofort antreten musste bzw. ein Grund vorliegt, weshalb sie nicht Bus, S-Bahn oder Regionalbahn hätte benutzen können.

 

Der Klägerin kann allerdings für die Fahrten am 28. April 2016 eine Kostenerstattung aus § 13 Abs. 3a SGB V beanspruchen.

Danach steht einer Versicherten ein Kostenerstattungsanspruch für selbst beschaffte Leistungen vor, wenn die Krankenkasse über einen Leistungsantrag nicht zügig im Sinne der Regelung entscheidet.

 

Diese Anspruchsgrundlage ist entgegen der Auffassung der Beklagten nicht von vornherein ausgeschlossen, weil die Klägerin von Beginn an nur einen auf Geldleistung gerichteten Anspruch begehrt hat, nicht hingegen einen Sachleistungsanspruch im herkömmlichen Sinne. Alleine der Umstand, dass in Anwendung des § 60 SGB V per se bei Benutzung eines privaten Pkw oder eines öffentlichen Verkehrsmittels das normale Sachleistungsprinzip nicht umsetzbar ist, bedeutet nicht, dass es sich bei der Fahrtkostenerstattung um eine originäre Geldleistung handelt wie etwa bei einer Leistung nach § 13 Abs. 4 SGB V (vgl. dazu das von der Beklagten angeführten Urteil des BSG vom 26. Mai 2020 -B 1 KR 21/19; ebenso Waßer in: Schlegel/Voelzke, juris PK – SGB V, 4. Auflage, § 60 SGB V, Stand 03.01.2022, Rdnr. 153ff mit Nachweisen der Rechtsprechung des BSG). Für die Einordnung der Fahrtkosten als Sachleistung spricht, dass eine Kostenerstattung nach dem SGB V nur in Ausnahmefällen in Betracht kommt und ausdrücklich vorgesehen sein muss. Dort, wo der Gesetzgeber die Kostenerstattung vorgesehen hat, erfolgt dies ausdrücklich unter Verwendung des Begriffes „Kostenerstattung“, so bei §§ 13 Abs. 2, 14, 17 Abs. 2, 37 Abs. 4, 38 Abs. 4 und § 64 SGB V. Ein Fahrtkostenerstattungsanspruch kann sich deshalb auch aus dem Eintritt einer Genehmigungsfiktion ergeben.

 

Der Anspruch nach § 13 Abs. 3a Satz 7 SGB V setzt voraus, dass der Versicherte die Leistung hinreichend bestimmt beantragt hat, die Krankenkasse über den Leistungsantrag nicht fristgerecht entschieden hat, der Versicherte sich die beantragte Leistung nach Fristablauf selbst beschafft hat, ihm hierdurch Kosten entstanden sind, er im Zeitpunkt der Selbstbeschaffung keine Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis von einem Nichtbestehen des materiellen Leistungsanspruchs hat und im Zeitpunkt der Selbstbeschaffung über den materiell-rechtlichen Leistungsanspruch noch nicht bindend entschieden ist oder sich der Antrag anderweitig erledigt hat (vgl. BSG, Urteil vom 26.5.2020, B 1 KR 9/18 R, Rdnr. 22 ff.).

Die Dreiwochenfrist des § 13 Abs. 3a S. 1, 1. Alt. SGB V war hier am 15. April 2016 abgelaufen: Der Antrag der Klägerin war am 23. März 2016 bei der Beklagten eingegangen. Der Antrag war auch bescheidungsfähig und hätte bearbeitet werden können, etwa durch Hinweis auf die fehlende Verordnung einer Krankenbeförderung. Eine Fristverlängerung auf fünf Wochen aufgrund Einholung eines Gutachtens (§ 13 Abs. 3a Satz 1, 2. Alt. SGB V) ist nicht erfolgt. Die Beklagten hat auch der Klägerin nicht mitgeteilt, die Frist nicht einhalten zu können.

Die Annahme der Klägerin, anspruchsberechtigt zu sein, beruhte zunächst auch nicht auf einer grob fahrlässigen Unkenntnis. Grob fahrlässig handelt nach der Legaldefinition des § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 SGB X, wer die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt, das heißt, wer schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht anstellt und daher nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss. Dabei ist das Maß der Fahrlässigkeit insbesondere nach der persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit, dem Einsichtsvermögen des Beteiligten sowie den besonderen Umständen des Falles zu bemessen. Eine nähere Kenntnis der Gesetzeslage darf den Versicherten nicht abverlangt werden. Das Tatbestandsmerkmal der groben Fahrlässigkeit soll nur eine Kostenerstattung offensichtlich rechtswidriger Leistungen ausschließen. Je offensichtlicher die beantragte Leistung außerhalb des GKV-Leistungskatalogs liegt, desto eher ist von einer zumindest grob fahrlässigen Unkenntnis (Bösgläubigkeit) der Versicherten im Zeitpunkt der Selbstbeschaffung auszugehen (BSG, Urteil vom 26. Mai 2020 – B 1 KR 9/18 R –, BSGE 130, 200-211, Rdnr. 24 unter Bezugnahme auf BT-Drucks 18/9522 S. 238). Dies ist dann der Fall, wenn sich Versicherte trotz erdrückender Sach- und Rechtslage besserer Erkenntnis verschließen. Es kommt auch nicht auf formale Ablehnungsentscheidungen an, sondern auf die Qualität der fachlichen Argumente und ihre Nachvollziehbarkeit durch die Versicherten; deshalb folgt aus einer ablehnenden Entscheidung der Krankenkasse für sich genommen noch keine grobe Fahrlässigkeit; auch dann nicht, wenn die Entscheidung der Krankenkasse auf einer Stellungnahme des MDK beruht (BSG, a. a. O. Rdnr. 25). Hier fehlte es bis zur Bekanntgabe des ablehnenden Bescheides vom 29. April 2016 an einem Anhaltspunkt, dass die Klägerin von vornherein gewusst haben könnte, dass ihr materiell-rechtlich kein Fahrtkostenerstattungsanspruch zustehen kann.

 

Nach § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V gilt die Leistung damit nach Ablauf der Frist als genehmigt.

Der Umfang der Kostenerstattung bemisst sich gemäß § 60 Abs. 3 Nr. 4 SGB V bei Benutzung eines privaten Kraftfahrzeuges nach § 5 Bundesreisekostengesetz. Die Wegstreckenentschädigung nach § 5 Abs. 1 Satz 2 Bundesreisekostengesetz beträgt 0,20 € je km zurückgelegter Strecke, hier also 2 x 97 km x 0,20 €.

 

Für eine Kostenerstattung für die anschließenden Fahrten kann sich die Klägerin nicht auf § 13 Abs. 3a SGB V stützen.

Die nach Fristablauf fingierte Genehmigung eines Antrages auf Leistung hat nicht die Qualität eines Verwaltungsaktes. Durch sie wird das durch den Antrag in Gang gesetzte Verwaltungsverfahren nicht abgeschlossen. Die Beklagte war deshalb weiterhin berechtigt und verpflichtet, über den gestellten Antrag zu entscheiden und damit das laufende Verwaltungsverfahren abzuschließen (BSG, a. a. O. Rdnr. 29). Durch die bindende Entscheidung im Ablehnungsbescheid endete das durch die Genehmigungsfiktion begründete Recht auf Selbstbeschaffung bereits mit Bekanntgabe des Bescheides.

 

Die Beklagte hat schließlich im streitgegenständlichen Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides zu Recht eine Kostenerstattung auf den neuerlichen Antrag hin für die Fahrten ab dem 30. Mai 2017 abgelehnt.

Wie bereits ausgeführt liegen die materiellen Voraussetzungen für eine ausnahmsweise Genehmigung nicht vor.

Auch § 13 Abs. 3a SGB V als Anspruchsgrundlage verhilft der Klägerin nicht zu weiteren Erstattungen.

Der zweite Ablehnungsbescheid erfolgte innerhalb der hier nach § 13 Abs. 3a S. 1 Alt. 2 SGB V maßgeblichen Frist von fünf Wochen nach Eingang des neuen Antrages am 30. Mai 2017, der sich entgegen der Auffassung des Beklagten nicht nur auf durchgeführte Fahrten, sondern zukunftsbezogen gestellt wurde. Die längere Frist galt, weil die Beklagte am 14. Juni 2017 den MDK eingeschaltet hat. Sie hat die Klägerin auch hierüber informiert. In dem -unbestrittenen- Telefonat am 8. Juni 2017 hat die Sachbearbeiterin dieser mitgeteilt, dass nach Eingang der angeforderten Verordnung der MDK eingeschaltet werde.

Aber auch bei unterstellt verspäteter Entscheidung schiede der Anspruch aus. Denn die Klägerin nahm in der Zeit bis zur Bekanntgabe des Ablehnungsbescheides vom 28. Juni 2017 keinen Therapietermin wahr.

Mit dessen Bekanntgabe ist von grob fahrlässiger Unkenntnis im oben dargestellten Sinne auszugehen. Denn die Beklagte erläutert im Bescheid im Detail, weshalb aus gleich mehreren Gründen die Erstattungsvoraussetzungen nicht erfüllt seien. Es fehle zum bereits an der hohen Behandlungsfrequenz von mindestens einmal pro Woche über mindestens drei Monate. Darüber sei aufgrund der MDK Begutachtung auch nicht von einem der in der Richtlinie aufgeführten Ausnahmefällen der Behandlungen mit ambulanter Dialyse, Strahlen- oder Chemotherapie vergleichbarer Ausnahmefall auszugehen.

Es war spätestens damit für die Klägerin ohne Weiteres ersichtlich, dass es für eine Fahrtkostenerstattung nicht ausreicht, dass die Therapie als solche sinnvoll und geboten war, zumal sich der Sachverhalt gegenüber der ersten Ablehnung nicht geändert hatte. Gegenteiliges ergibt sich nicht aus dem weiteren Verlauf des Verwaltungsverfahrens. So hat die Klägerin den Widerspruch gegen den Bescheid vom 28. Juni 2017 nicht begründet, sondern hat nur auf die bisherigen Schreiben und Atteste verwiesen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und entspricht näherungsweise dem Ergebnis.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
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