S 17 KA 527/20

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Marburg (HES)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
1. Instanz
SG Marburg (HES)
Aktenzeichen
S 17 KA 527/20
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 KA 20/23
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1.    Führen die Prüfgremien ausdrücklich eine Einzelfallprüfung durch, haben Sie im konkreten Behandlungsfall die Behandlungsdokumentation auf die Wirtschaftlichkeit des Ansatzes der GOP 35110 EBM hin zu überprüfen. 

2.   Die Abrechnung der GOP 35110 EBM setzt nicht die Kodierung einer F-Diagnose voraus. 
 


Der Beschluss des Beklagten vom 2.11.2020 wird aufgehoben und der Beklagte verpflichtet, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

Der Beklagte trägt die Gerichtskosten sowie die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.


Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit einer repräsentativen Einzelfallprüfung der GOP 35110 in den Quartalen IV/2015-III/2016.

Der Kläger ist Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie und seit dem 1. Januar 2013 in einer Einzelpraxis in A-Stadt zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen. 

Mit Schreiben vom 27. Februar 2018 teilte die Prüfungsstelle der Ärzte und Krankenkenkassen (PS) dem Kläger die Überprüfung der Wirtschaftlichkeit hinsichtlich seiner Leistungserbringung bezogen auf die Leistungsziffer 35110 EBM mit und bat um Mitteilung eventuell bestehender Praxisbesonderheiten.

Der Kläger teilte mit, sein Behandlungskonzept zeichne sich durch einen ganzheitlichen Ansatz aus. Es sei allgemein bekannt, dass der meiste Teil der Arbeitsunfähigkeitstage von Patienten infolge von Lumbago und Depressionen entstehe. Zudem seien Anpassungsstörungen sowohl bei Jugendlichen als auch - wesentlich ausgeprägter - bei älter werdenden Menschen z.B. bei Wechsel vom Erwerbsleben ins Rentenleben sehr häufig. Darüber hinaus sei die Praxis sehr oft Anlaufstelle für Patienten in Konfliktsituationen, beispielsweise mit dem Arbeitgeber, nach Unfällen, Scheidungen, Todesfällen etc. Ein weiterer Anteil seiner Patienten stelle sich mit Beschwerden des Bewegungsapparates bei malignen Grunderkrankungen unter oder nach Chemo- und Strahlentherapie vor. Auch hier seien subjektiv wie objektiv schwere Schicksalsschläge bzw. solche Selbstwahrnehmungen in der Patientenbehandlung zu berücksichtigen. Ein deutlicher Anteil der Patienten sei adipös, bei denen zur Erzielung verhaltensmodifizierender Maßnahmen intensive Gespräch nötig seien. Nicht zuletzt zeichne sich seine Praxis durch einen deutlichen Anteil an Arbeitern, Sozialhilfeempfängern und Frührentnern aus. Leider sei ihm die präzise Anzahl von Patienten, die definitiv in psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlung seien, nicht bekannt. Es dürfte sich jedoch um eindeutig mehr als 30% handeln. Viele der Patienten hätten bei ihm nicht über die oft aus ihrer Sicht zäh und schleppend verlaufenden Details der psychotherapeutischen etc. Behandlungstermine reden wollen. Auch habe er bedauerlicherweise kaum irgendwelche Informationen zum Behandlungsverlauf oder den Maßnahmen durch die psychotherapeutisch tätigen Ärzte bzw. Psychologen erhalten.

Daher sei er also darauf angewiesen, sich mit diesen Patienten entsprechend psychotherapeutisch selbst auseinanderzusetzen, die tatsächlich eine entsprechende sinnvolle Behandlung erhalten sollten. Das gelte insbesondere für Lumbago/Lumboischialgie-Patienten. Dafür seien die multimodalen Ansätze ja auch weitgehend benannt und etabliert. Dies gelte auch für andere Krankheitsbilder. Insofern sei es nicht überraschend, dass die entsprechenden anamnetischen und interventionellen Gespräche auch in entsprechender Häufigkeit stattfänden. Bei einer Überprüfung der Anzahl langer Arbeitsunfähigkeiten sei festzustellen, dass diese in seiner Praxis selten vorkomme. Allein das zeige die Effektivität und Wirtschaftlichkeit der Vorgehensweise.

Mit Bescheid vom 28. November 2018 setzte die PS aufgrund der durchgeführten Einzelfallprüfung für die Quartale 4/2015 bis 3/2016 Honorarkürzungen der GOP 35110 EBM wie folgt fest:
187 Fälle x 15,78€ = 2.950,86 € für das 4. Quartal 2015
138 Fälle x 16,04 € = 2.213,52 € für das 1. Quartal 2016
195 Fälle x 16,04 € = 3.127,80 € für das 2. Quartal 2016
163 Fälle x 16,04€ = 2.614,52 € für das 4. Quartal 2016.

Insgesamt ergab sich eine Honorarkürzung in Höhe von 10.906,70 € (brutto) bzw. 9.333,33€ netto. 

Gegen diesen Bescheid legte der Kläger am 23. Dezember 2018 Widerspruch ein, den der Beklagte mit Beschluss vom 2. November 2020 zurückwies. Man habe anhand der Unterlagen der PS zunächst ermittelt, in welchem Umfang die GOP 35110 EBM angesetzt worden seien und welche Kosten pro Fall verursacht worden seien. Der ermittelte Wert sei anschließend dem durchschnittlichen Kostenwert der Vergleichsgruppe/Fachgruppe (FG) der vollzugelassenen Orthopäden gegenübergestellt worden. Dabei hätten sich die folgenden Überschreitungen ergeben:

Quartal GO-Nr. GO-Nr. je 100 Fälle Praxis Durch je Fall-Praxis Anz Go-Nr. je 100 Fälle ausf. Durch. je Fall ausf. Praxen-PG Abweichung in %
2015/4 35110     28   4,50                      2             0,34   1.223,53
2016/1 35110     31   5,05                      2             0,39   1.194,87
2016/2 35110     40   6,48                      2             0,36   1.700,00
2016/3 35110     34   5,45                      2             0,37   1.372,97

                         
Es sei ein so genanntes „offensichtliches Missverhältnisses" im Vergleich zu den Durchschnittswerten der Vergleichsgruppe/Fachgruppe festgestellt worden. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) könne bei einer Einzelziffernprüfung ein offensichtliches Missverhältnis - typisierend - angenommen werden, wenn der entsprechende Wert der Vergleichsgruppe um mehr als 100 % überschritten werde. Da aber die GOP 35110 EBM von weniger als 50% der vollzugelassenen Orthopäden in Hessen angesetzt werde, erweise sich eine rein statistische Vergleichsprüfung als nicht geeignet, um die Wirtschaftlichkeit der Behandlungsweise zu bewerten. Die PS habe deshalb zutreffend eine Einzelfallprüfung vorgenommen. Nach orientierender Durchsicht und Bewertung eines Teiles der Behandlungsunterlagen sei davon auszugehen, dass sich die Notwendigkeit der psychosomatischen Intervention nicht aus den Unterlagen ableiten ließe. Die GOP 35110 EBM sei im Prüfzeitraum bei rund 57% der Patient*innen zum Ansatz gekommen, ohne dass eine erforderliche F-Diagnose codiert worden sei. Diese fehle in insgesamt 683 Fällen, so dass diese Fälle als unwirtschaftlich anzusehen seien. 

Kompensatorische Einsparungen durch geringere langfristige Arbeitsunfähigkeitszeiten seien nicht in einem kausalen Zusammenhang dargetan.

Gegen diesen Beschluss richtet sich die am 9. Dezember 2020 zum Sozialgericht Marburg erhobene Klage, zu deren Begründung der Kläger im Wesentlichen seinen Vortrag aus dem Verwaltungsverfahren wiederholt. Ergänzend trägt er vor, dass die Prüfung nach Inkrafttreten des TSVG aufgrund Ablaufs der Zwei-Jahres-Frist nicht mehr hätte durchgeführt werden dürfen. 

Er halte die stigmatisierende Codierung von F-Diagnosen für problematisch. Dies sei von vielen Patient*innen explizit nicht gewünscht. Psychotherapie sei für einen hohen Anteil der Patienten weiterhin schambehaftet und diese Themen überhaupt gut zu berühren - anstatt einfach „Tabletten" - sei in hoher Anzahl eine besonders schwierige Aufgabe in der (fach-)ärztlichen Praxis. Ein oft noch höherer Balanceakt sei es allerdings, Patient*innen einfach mal so in psychotherapeutische Behandlung zu überweisen. Es bestünden regelhaft große psychische Widerstände. 

Der Kläger beantragt, 
den Beschluss des Beklagten vom 2. November 2020 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, ihn unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

Der Beklagte beantragt, 
die Klage abzuweisen.

Er trägt zunächst vor, dass der streitgegenständliche Bescheid bereits im November 2020 an das in der Widerspruchsbegründung angegebene Postfach gesendet worden sei. Darüber hinaus sei mit Schreiben vom 9. Dezember 2020 eine Übermittlung an die Privatadresse erfolgt. Es sei nicht glaubwürdig, dass der Kläger den Bescheid zweimal nicht erhalten habe.

Auch in materieller Hinsicht tritt der Beklagte den Ausführungen des Klägers entgegen. Nach § 57 BMV-Ä seien Vertragsärzte verpflichtet, die Befunde, die Behandlungsmaßnahmen sowie die veranlassten Leistungen einschließlich des Tags der Behandlung in geeigneter Weise zu dokumentieren. Das Vertragsarztrecht baue auf den allgemeinen Dokumentationspflichten auf und begründe weitere Dokumentationspflichten. Der Kläger müsse Fehler bei der Dokumentation gegen sich gelten lassen.

Bei der GOP 35100 EBM und GOP 35110 EBM handele es sich um eine Leistung des 35. Kapitels des EBM, „Leistungen gemäß der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Durchführung der Psychotherapie (Psychotherapie-Richtlinie). Die Leistungen des 35. Kapitels seien damit entsprechend der Vorgaben der Psychotherapie-Richtlinie zu erbringen. Aus der Kommentierung zu Kapitel 35 EBM sei zu entnehmen, dass Grundlage der in den nachfolgenden Abschnitten aufgeführten Leistungen die vom Gemeinsamen Bundesausschuss beschlossene Richtlinie über die Durchführung der Psychotherapie in der vertragsärztlichen Versorgung sei (Wezel/Liebold, Kommentar zu EBM und GOÄ, Abschnitt IV, Kapitel 35). Folglich sei es bei der Leistungserbringung nach GOP 35100 bzw. GOP 35110 EBM erforderlich, dass die Diagnose den Vorgaben nach der Psychotherapie-Richtlinie (PT-RL) entspreche. Sowohl § 21 Absatz 1 PT-RL als auch § 21 Absatz 2 PT-RL beziehe sich auf psychische Störungen. In § 22 der Psychotherapie-Richtlinie seien die Indikationen zur Anwendung von Maßnahmen der psychosomatischen Grundversorgung aufgeführt. 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungsakte des Beklagten sowie die Prozessakte verwiesen, die in der mündlichen Verhandlung vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.


Entscheidungsgründe

Die Kammer hat in der Besetzung mit einer ehrenamtlichen Richterin aus den Kreisen der Vertragsärzte und einem ehrenamtlichen Richter aus den Kreisen der Krankenkassen verhandelt und entschieden, weil es sich um eine Angelegenheit des Vertragsarztrechts handelt (§ 12 Abs. 3 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG). 

Die Klage ist zulässig. Insbesondere ist die Klagefrist nach § 74 SGG gewahrt. Der Beklagte hat den Zugang des streitgegenständlichen Beschlusses an den Kläger erst am 13. Februar 2021 durch Postzustellungsurkunde belegt. Ein bereits vorausgegangener Zugang ist nicht nachgewiesen. 

Gegenstand des Verfahrens ist nur der Beschluss des Beklagten, nicht auch der der PS. In Verfahren der Wirtschaftlichkeitsprüfung beschränkt sich die gerichtliche Kontrolle auf die das Verwaltungsverfahren abschließende Entscheidung des Beschwerdeausschusses. Dieser wird mit seiner Anrufung für das weitere Prüfverfahren ausschließlich und endgültig zuständig. Sein Bescheid ersetzt den ursprünglichen Verwaltungsakt der Prüfungsstelle, der abweichend von § 95 SGG im Fall der Klageerhebung nicht Gegenstand des Gerichtsverfahrens wird.

Die Klage ist auch begründet. 

Der Beschluss des Beklagten vom 2. November 2020 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Er hat einen Anspruch auf Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts.

Entgegen der Ansicht des Klägers finden die Änderungen des TSVG nicht auf eine Honorarprüfung betreffend die Quartale 4/2015-3/2016 Anwendung. 

Der Vortrag des Klägers, dass bereits die 4-jährige Ausschlussfrist abgelaufen sei, da die rechtlich wirksame Mitteilung der Rückforderung erst im Februar 2021 erfolgt sei, ist nicht zutreffend. Die Honorarkürzung wurde innerhalb der 4-jährigen Ausschlussfrist mit Bescheid der PS vom 28. November 2018 für die Quartale 4/2015-3/2016 festgesetzt.

Die in § 106 Abs. 3 S. 3 SGB V normierte 2-jährige Ausschlussfrist, wonach die Festsetzung einer Nachforderung oder einer Kürzung für ärztliche Leistungen innerhalb von 2 Jahren ab Erlass des Honorarbescheides erfolgen muss, gilt nicht für Quartale, die vor dem Inkrafttreten des TSVG am 11. Mai 2019 bereits „abgeschlossen waren".

Nach der ständigen Rechtsprechung sind - wenn nicht in Übergangsbestimmungen etwas Anderes geregelt ist - für Prüfzeiträume, die vor dem Inkrafttreten von Gesetzesneufassungen abgeschlossen waren, die zum früheren Zeitpunkt geltenden materiell-rechtlichen Vorschriften maßgeblich (vgl. BSG, Urteil vom 9. April 2008 - B 6 KA 34/07 R; Urteil vom 22. Oktober 2014 - B 6 KA 8/14 R; Urteil vom 28. Oktober 2015 - B 6 KA 45/14 R).

Es liegt keine gesetzliche Übergangsbestimmung bzgl. Prüfzeiträumen, die vor dem Inkrafttreten den TSVG abgeschlossen waren, vor. Die Quartale 4/2015-3/2016 waren zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des TSVG bereits abgeschlossen, so dass bei der auf die Quartale 4/2015-3/2016 bezogenen Honorarprüfung die Ausschlussfrist von 4 Jahren maßgebend war.

Die Erwägungen des Beklagten im Rahmen des Beschlusses vom 20 November 2020 tragen den Vorwurf der Unwirtschaftlichkeit jedenfalls in materieller Hinsicht nicht.

Aufgrund der ihm zustehenden Beurteilungs- und Ermessensspielräume unterliegen die Beschlüsse des Beschwerdeausschusses grundsätzlich nur eingeschränkter gerichtlicher Kontrolle, die sich inhaltlich auf die Prüfung bezieht, ob der angefochtenen Entscheidung ein zutreffender und vollständig ermittelter Sachverhalt zugrunde liegt, die Prüfgremien die durch die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs „Wirtschaftlichkeit“ ermittelten Grenzen eingehalten haben und ob sie ihre Subsumtionserwägungen so verdeutlicht und begründet hat, dass im Rahmen des Möglichen die zu treffende Anwendung der Beurteilungsmaßstäbe erkennbar und nachvollziehbar ist - Vertretbarkeit – (vgl. Bundessozialgericht, Urteile vom 19. Oktober 2011, B 6 KA 38/10 R und vom 6. September 2000, B 6 KA 24/99 R; Bundessozialgericht, Beschluss vom 14. März 2001, B 6 KA 59/00 B m.w.N.).

Im System der gesetzlichen Krankenversicherung nimmt der an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmende Arzt – Vertragsarzt – die Stellung eines Leistungserbringers ein. Er versorgt die Mitglieder der Krankenkassen mit ärztlichen Behandlungsleistungen, unterfällt damit auch und gerade dem Gebot, sämtliche Leistungen im Rahmen des Wirtschaftlichen zu erbringen. Leistungen, die für die Erzielung des Heilerfolges nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, darf er nach dem hier anzuwendenden Sozialgesetzbuch, Fünftes Buch (§ 12 Abs. 1 SGB V) nicht erbringen. 

Rechtsgrundlage für Honorarkürzungen wegen unwirtschaftlicher Behandlungsweise ist § 106 Abs. 2 SGB V in der hier maßgebenden Fassung des Gesetzes vom 19. Oktober 2012 (BGBl. I, 2192), gültig bis zum 31. Dezember 2016. Danach wird die Wirtschaftlichkeit der Versorgung durch arztbezogene Prüfungen ärztlicher und ärztlich verordneter Leistungen auf der Grundlage von arztbezogenen und versichertenbezogenen Stichproben, die mindestens 2 vom Hundert der Ärzte je Quartal umfassen (Zufälligkeitsprüfung), geprüft (§ 106 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB V). Die Landesverbände der Krankenkassen und die Verbände der Ersatzkassen können gemeinsam und einheitlich mit den Kassenärztlichen Vereinigungen über die in Satz 1 vorgesehenen Prüfungen hinaus Prüfungen ärztlicher und ärztlich verordneter Leistungen nach Durchschnittswerten oder andere arztbezogene Prüfungsarten vereinbaren (§ 106 Abs. 2 Satz 4 HS 1 SGB V). Die in Absatz 2 Satz 4 genannten Vertragspartner vereinbaren Inhalt und Durchführung der Beratung nach Absatz 1a und der Prüfung der Wirtschaftlichkeit nach Absatz 2 gemeinsam und einheitlich (§ 106 Abs. 3 Satz 1 HS 1 SGB V). In den Verträgen ist auch festzulegen, unter welchen Voraussetzungen Einzelfallprüfungen durchgeführt und pauschale Honorarkürzungen vorgenommen werden; festzulegen ist ferner, dass der Prüfungsausschuss auf Antrag der Kassenärztlichen Vereinigung, der Krankenkasse oder ihres Verbandes Einzelfallprüfungen durchführt. Für den Fall wiederholt festgestellter Unwirtschaftlichkeit sind pauschale Honorarkürzungen vorzusehen (§ 106 Abs. 3 Satz 3 und 4 SGB V). Für die streitgegenständlichen Quartale gilt die Prüfvereinbarung (PV) gemäß § 106 Abs. 3 Satz 1 SGB V ab dem 1. Januar 2008. Die PV ermächtigt insbesondere auch zu Einzelfallprüfungen.

Bei der Prüfung der Behandlungsweise in Einzelfällen ist bei Überschreitung des Arztes gegenüber der FG im normalen Steuerungsbereich eine Einzelfallprüfung durchzuführen, sofern dies vom Verwaltungsaufwand her zumutbar ist, § 11 Abs. 1 PV 2008. Eine Einzelfallprüfung ist darüber hinaus durchzuführen, wenn bei anerkannten Praxisbesonderheiten wegen fehlender Vergleichbarkeit der statistische Vergleich nicht möglich ist (§ 11 Abs. 2 PV 2008). Die Ergebnisse der Einzelfallprüfung sind im Referentenbericht durch Kennzeichnung der unwirtschaftlichen Leistungen und ihres Gebührenwertes sowie des Grundes der Unwirtschaftlichkeit zu dokumentieren. Das sich hieraus ergebende Ausmaß der Unwirtschaftlichkeit bildet die Grundlage für die Festsetzung einer notwendigen Honorarkürzung, § 11 Abs. 3 PV 2008.

Bedenken hat die Kammer jedoch im Blick darauf, ob der Beschluss des Beklagten den sich aus § 35 Abs. 1 Zehntes Sozialgesetzbuch (SGB X) – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - ergebenden Begründungserfordernissen genügt. Danach ist ein schriftlicher oder elektronischer sowie ein schriftlich oder elektronisch bestätigter Verwaltungsakt mit einer Begründung zu versehen. In der Begründung sind die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe mitzuteilen, die die Behörde zu ihrer Entscheidung bewogen haben. Die Begründung von Ermessensentscheidungen muss auch die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist.

Das Bundessozialgericht hat in ständiger Rechtsprechung besondere Anforderungen an die Begründung der die Wirtschaftlichkeitsprüfung abschließenden Entscheidung des Beschwerdeausschusses gestellt. Die Prüfgremien müssen danach ihre Ausführungen zum Vorliegen der Voraussetzungen für Maßnahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung derart verdeutlichen, dass im Rahmen der - in Folge von Beurteilungs- und Ermessensspielräumen eingeschränkten - gerichtlichen Überprüfung zumindest die zutreffende Anwendung der einschlägigen Beurteilungsmaßstäbe erkennbar und nachvollziehbar ist (ständige Rechtsprechung, vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 30. November 2016, B 6 KA 29/15 R, SozR 4-2500 § 106 Nr. 56; Bundessozialgericht, Beschluss vom 30. November 2016, B 6 KA 21/16 B Rdnr. 17, zitiert nach juris, m.w.N.). Diese Anforderungen dürfen zwar nicht überspannt werden, da sich gerade Maßnahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung regelmäßig an einen sachkundigen Personenkreis richten, sodass sich die Begründung auf die Angabe der maßgebend tragenden Erwägungen beschränken kann; jedoch müssen die Ausführungen erkennen lassen, wie das Behandlungsverhalten des Arztes bewertet wurde und auf welchen Erwägungen die betroffene Kürzungsmaßnahme beruht (Bundessozialgericht, Beschluss vom 30. November 2016, B 6 KA 21/16 B Rdnr. 17, zitiert nach juris m.w.N.). Unter Zugrundelegung dieser Kriterien ist für die Kammer aus dem Beschluss des Beklagten vom 20. November 2020 kaum nachzuvollziehen, inwiefern und mit welchem Ergebnis eine eingeschränkte Einzelfallprüfung durch den Beklagten erfolgt ist, d.h. es ist im Grunde nicht zu erkennen, worin aus Sicht des Beklagten – außer in der Häufung der GOP 35110 EBM im Vergleich zu „Fachgruppe“, die im Verfahren der Einzelfallprüfung ja gerade nicht von Bedeutung ist – der Unwirtschaftlichkeitsvorwurf besteht. Die maßgeblichen Erwägungen werden im Rahmen des Beschlusses nicht dargelegt. Eine Auswertung der geprüften Einzelfälle findet nicht statt. Der Beklagte bezieht sich auf die Durchsicht von Teilen der Behandlungsunterlagen, die jedoch nicht aktenkundig sind. Auch die PS hat nur exemplarisch für ein Quartal Patienten aufgelistet und das Fehlen einer F-Diagnose bemängelt.

Letztlich kann diese Frage vorliegend offenbleiben, da der Beschluss des Beklagten jedenfalls in materieller Hinsicht zu beanstanden sind.

Grundsätzlich nicht zu beanstanden ist, dass der Beklagte aufgrund der Tatsache, dass weniger als 50% der zugelassenen Orthopäden die GOP 35110 EBM abrechnen allgemein von einer statistischen Vergleichsprüfung zu einer eingeschränkten oder beschränkten Einzelfallprüfung übergegangen ist, die die Grundlage seiner Entscheidung bildete. Die Auswahl unter verschiedenen Prüfmethoden liegt grundsätzlich im Ermessen der Prüfgremien. Die Prüfung nach Durchschnittswerten stellt wegen ihres hohen Erkenntniswerts bei verhältnismäßig geringem Verwaltungsaufwand zwar die Regelprüfmethode dar. Soweit die Prüfung anhand von Durchschnittswerten der Arztgruppe nicht effektiv ist oder aus anderen Gründen nicht in Betracht kommt, darf bzw. muss eine andere Prüfmethode gewählt werden (zum Gebot effektiver Wirtschaftlichkeitsprüfungen siehe u.a. Bundessozialgericht, Urteil vom 27. Juni 2007, B 6 KA 44/06 R, zitiert nach juris). 

Charakteristisch für Einzelfallprüfungen ist, dass diese Prüfungen nicht an dem allgemeinen Vergleich mit dem durchschnittlichen Aufwand der Fachgruppe ansetzen, sondern einen direkten Bezug zu dem tatsächlichen (konkreten) Behandlungs- oder Verordnungsverhalten des geprüften Arztes haben. Aus dieser Charakterisierung wird deutlich, dass Einzelfallprüfungen sich auf "bestimmte einzelne Behandlungsfälle" beziehen. 

Die Kammer hält an Ihrer ständigen Rechtsprechung (vgl. u.a. Urteil vom 19. Juni 2019, Az. S 17 KA 409/17; Urteil vom 12. Oktober 2022, S 17 KA 12/18) dahingehend fest, dass die Abrechnung der GOP 35110 EBM nicht grundsätzlich des Ansatzes einer F-Diagnose bedarf. Es fehlt an einer Vorschrift, die die Angabe einer F-Diagnose bereits in der Abrechnung als Voraussetzung für die Erbringung der hier streitigen GOP 35110 EBM vorsieht und deshalb den Ausschluss weiteren Tatsachenvortrages im Ansatz rechtfertigen könnte. Aus der EBM Ziffer ergibt sich keine Pflicht zur Angabe einer bestimmten Diagnose, es sind auch keine bestimmten Diagnosen aufgezählt, die Voraussetzung für die Leistungserbringung wären. Die GOP 35110 EBM sieht allein eine mindestens 15minütige Arzt-Patienten-Interaktion bei psychosomatischen Krankheitszuständen vor. 

Die PT-RL lautet in § 22 Abs. 1 wie folgt:
„(1) Indikationen zur Anwendung von Psychotherapie gemäß Abschnitt B und Maßnahmen der Psychosomatischen Grundversorgung gemäß Abschnitt C der Richtlinie bei der Behandlung von Krankheiten können nur sein:
1. Affektive Störungen: depressive Episoden, rezidivierende depressive Störungen, Dysthymie;
2. Angststörungen und Zwangsstörungen;
3. Somatoforme Störungen und Dissoziative Störungen (Konversionsstörungen);
4. Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen;
5. Essstörungen;
6. Nichtorganische Schlafstörungen;
7. Sexuelle Funktionsstörungen;
8. Persönlichkeitsstörungen und Verhaltensstörungen;
9. Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend.“

Die hier streitige Leistung der GOP 35110 ist im Kapitel 35 EBM genannt, das überschrieben ist mit: Leistungen gemäß den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Durchführung der Psychotherapie (Psychotherapie-Richtlinien). Sie fallen also unter die PT-RL und sind daher nur bei Vorliegen der in § 22 Abs. 1 PT-RL genannten Indikationen wirtschaftlich. Jedoch folgt daraus nicht, dass diese Indikationen nur dann gegeben sind, wenn sie als F-Diagnosen in der Abrechnung benannt sind. Vielmehr ist insoweit die Patientendokumentation des Arztes zu prüfen. Die PT-RL selbst erfordert eine Dokumentation allein in § 12. Danach erfordern Leistungen der psychosomatischen Grundversorgung eine schriftliche Dokumentation der diagnostischen Erhebungen und der wesentlichen Inhalte der psychotherapeutischen Interventionen. Daraus ergibt sich aber nicht, dass die Diagnosen als Abrechnungsdiagnosen anzugeben sind, vielmehr ist eine entsprechende Patientendokumentation in den Unterlagen des Vertragsarztes vorgesehen, die dann auch vom Beklagten zu prüfen ist (so auch SG Berlin, Urteil vom 9. Januar 2019, S 87 KA 77/18). 

Dies gilt umso mehr im Rahmen der Einzelfallprüfung, bei der ja gerade eine konkrete Betrachtung des jeweiligen Abrechnungsfalles geboten ist. Der Kläger hat seinen – im Vergleich mit der FG unüblichen – ganzheitlichen Behandlungsansatz betont und ein Patientenklientel beschrieben, das häufig von psychosomatischen Beschwerden betroffen ist. Bei der Neubescheidung muss dies durch den Beklagten anhand der Patientendokumentation geprüft und eine Einzelfallbewertung nachgeholt werden. 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG in Verbindung mit § 154 VwGO und folgt der Entscheidung in der Hauptsache. 
 

Rechtskraft
Aus
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