L 1 AS 35/21

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1.
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 173 AS 5038/19
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 AS 35/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Einen Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II kann zugunsten einer Unionsbürgerin ein in entsprechender Anwendung von § 11 Abs. 1 Satz 11 Freizüg/EU a. F. i. V. m. § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG und Art. 18 Abs. 1 AEUV bestehendes materielles Aufenthaltsrecht entgegenstehen, wenn ihrem minderjährigen freizügigkeitsberechtigten Kind mit Unionsstaatsbürgerschaft unter Berücksichtigung von dessen in Art. 6 GG und Art. 8 EMRK garantierten Grundrechten der Ausschluss von der Erziehungsleistung seiner leiblichen Eltern nicht zumutbar ist. 

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 1. Dezember 2020 wird zurückgewiesen.

 

Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Kläger auch im Berufungsverfahren.

 

Die Revision wird zugelassen.

 

 

 

Tatbestand

 

Streitig ist die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit vom 1. November 2018 bis zum 30. April 2019.

 

Der im Jahr 1997 geborene Kläger zu 1 sowie die im Jahr 2000 geborene Klägerin zu 2 (im Folgenden nur noch Klägerin) sind die Eltern des im September 2016 geborenen Klägers zu 3. Alle verfügen über die rumänische Staatsangehörigkeit.  2019 ist das weitere gemeinsame Kind der Kläger zu 1 und 2, L, geboren worden. Seit dem 2. Dezember 2019 sind die Kläger zu 1 und 2 verheiratet.

 

Die Kläger sind seit dem 22. Oktober 2018 in Berlin gemeldet (vgl. Meldebestätigungen vom 23. Oktober 2018). Zuvor waren der Kläger zu 1 und die Klägerin bereits 2014 (der Kläger zu 1) bzw. 2016 (der Kläger zu 1 und die Klägerin) in der Bundesrepublik kurzzeitig gemeldet. Sie waren im streitgegenständlichen Zeitraum bis zum 24. April 2019 wohnungslos und lebten aufgrund einer Zuweisung des Beigeladenen zusammen in einem Hostel in der Gstr.  in  B. Seitdem wohnen sie zusammen bei Verwandten unter der aus dem Rubrum ersichtlichen Adresse.

 

Der Kläger zu 1 nahm zum 1. November 2018 eine Beschäftigung bei der Firma G GmbH als Hilfskraft in den Bereichen Bauhilfsarbeiten / Baureinigung im Umfang von 10 Stunden wöchentlich auf (Arbeitsvertrag vom 1. November 2018; Einkommensbescheinigung des Arbeitgebers vom 4. Februar 2019). Sein monatliches Gehalt belief sich im streitigen Zeitraum auf 400,00 € brutto bzw. 392,00 € netto. Die Auszahlung erfolgte im Wege der Barleistung. Die Klägerin war hingegen nicht erwerbstätig. Für den Kläger zu 3 wurde ab November 2018 Kindergeld in Höhe von (i.H.v.) monatlich laufend 194,00 € gezahlt. Im November 2018 wurde darüber hinaus Kindergeld für den Monat Oktober 2018 i.H.v. 175,98 € nachgezahlt. Kindergeldberechtigt war der Kläger zu 1. Über weiteres Einkommen verfügten die Kläger ebenso wenig wie über Vermögen.

 

Am 19. November 2018 stellten die Kläger bei dem Beklagten einen Antrag auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB II. Unterkunftskosten wurden weder damals noch nachfolgend geltend gemacht. Diesen Antrag lehnte der Beklagte zunächst mit Bescheid vom 11. Februar 2019 unter Verweis auf den Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II ab. Auf den Widerspruch der Kläger vom 6. März 2019 bewilligte der Beklagte den Klägern zu 1 und 3 mit Bescheid vom 21. März 2019 für die Zeit von 1. November 2018 bis zum 30. April 2019 Leistungen nach dem SGB II (nur Regelbedarf) unter Anrechnung von Einkommen in Gestalt von Kindergeld sowie bereinigtem Erwerbseinkommen des Klägers zu 1 i.H.v. monatlich 232,00 € wie folgt:

Monat

Kläger zu 1

Kläger zu 2

November 2018

12,02 €

0 €

Dezember 2018

167,41 €

20,59 €

Januar 2019

177,33 €

23,67 €

Februar 2019

177,33 €

23,67 €

März 2019

177,33 €

23,67 €

April 2019

177,33 €

23,67 €

Leistungen für die Klägerin lehnte der Beklagte weiterhin ab, weil diese ausschließlich über ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche verfüge.

 

Im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens vor dem Sozialgericht Berlin (SG) zu dem Aktenzeichen S 173 AS 2690/18 ER wurde der Beklagte durch Beschluss vom 8. April 2019 vorläufig verpflichtet, der Klägerin für die Zeit vom 15. März 2019 bis zum 31. Oktober 2019 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II i.H.v. monatlich 272,96 € (nur Regelbedarf), für März anteilig i.H.v. 145,58 €, zu zahlen. In Ausführung dieses Beschlusses sind von dem Beklagten auf das Konto des Klägers zu 1 für den Zeitraum 15. März 2019 bis zum 30. April 2019 418,54 € gezahlt worden (Gutschrift am 17. April 2019).

 

Mit Widerspruchsbescheid vom 18. April 2019 wies der Beklagte den Widerspruch der Kläger nach Erlass des Bescheides vom 21. März 2019 im Übrigen zurück. Die Klägerin sei gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II von Leistungen nach diesem Gesetzbuch ausgeschlossen. Sie sei nicht erwerbstätig und verfüge auch nicht über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel. Sie sei darüber hinaus keine Familienangehörige gemäß § 3 Abs. 2 Freizügigkeitsgesetzes/EU (FreizügG/EU), da sie nicht mit dem Kläger zu 1 verheiratet sei. Sie könne auch von dem Kläger zu 3 kein Freizügigkeitsrecht ableiten, da dieser selbst nur gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 6 als Familienangehöriger freizügigkeitsberechtigt sei. Zwar führe das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 30. Januar 2013 zu dem Az. B 4 AS 54/12 R aus, dass ein anderes Aufenthaltsrecht über § 11 Abs. 1 S. 5 FreizügG/EU i.V.m. dem Aufenthaltsgesetz (AufenthG) entstehen könne, wenn das AufenthG eine günstigere Regelung vermittle als das FreizügG/EU. Das BSG sehe ein solches Aufenthaltsrecht bei nicht verheirateten Paaren sogar bei der noch bevorstehenden Geburt eines gemeinsamen Kindes, wenn beide Elternteile bereits in Verhältnissen lebten, die eine gemeinsame Übernahme der elterlichen Verantwortung sicher erwarten ließen. Das BSG habe die Dauer des Aufenthaltsrechtes der Person ohne Arbeitnehmerstatus in seiner Entscheidung jedoch auf ein Jahr nach der Geburt begrenzt. Vorliegend sei der Kläger zu 3 bereits im dritten Lebensjahr. Eine Rundumbetreuung der elterlichen Sorgeberechtigten sei nicht mehr notwendig, eine Kinderbetreuung liege im möglichen Rahmen und entspreche der Realität.

 

Hiergegen haben die Kläger am 21. Mai 2019 Klage bei dem SG erhoben und Leistungen für die Klägerin sowie höhere Leistungen für die Kläger zu 1 und 3 für die Zeit vom 1. November 2018 bis zum 30. April 2019 begehrt. Auch die Klägerin habe einen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes. Insbesondere sei sie nicht von Leistungen gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II ausgeschlossen. Sie begründe ihr Aufenthaltsrecht und ihren Anspruch auf Leistungen nicht nur durch die Arbeitsuche, vielmehr stehe ihr ein Aufenthaltsrecht aus § 11 Abs. 1 S. 11 FreizügG/EU i.V.m. § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG und Art. 18 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) zu. Im Einzelnen haben die Kläger zur Begründung auf den Beschluss des SG im einstweiligen Rechtsschutzverfahren verwiesen.

 

Mit Urteil vom 1. Dezember 2020 hat das SG den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 11. Februar 2019 in der Fassung des Bescheides vom 21. März 2019 und des Widerspruchsbescheides vom 18. April 2019 verpflichtet, den Klägern für die Zeit vom 1. November 2018 bis zum 30. April 2019 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II in folgender Höhe zu bewilligen:

  • für November 2018: Kläger zu 1 und Klägerin jeweils 193,01 €,
  • für Dezember 2018: Kläger zu 1 und Klägerin jeweils 264,73 €, Kläger zu 3 32,54 €,
  • für Januar bis April 2019: Kläger zu 1 und Klägerin jeweils 272,96 € monatlich sowie Kläger zu 3 37,08 € monatlich.

Die Kläger erfüllten im streitgegenständlichen Zeitraum die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II greife nicht. Dem Kläger zu 1 habe ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU als Arbeitnehmer zugestanden, dem Kläger zu 3 ein Aufenthaltsrecht als Familienangehöriger im Sinne von § 3 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU in der bis zum 23 November 2020 geltenden Fassung (a.F.). Das Aufenthaltsrecht der Klägerin ergebe sich aus § 11 Abs. 1 S. 11 FreizügG/EU a.F. i.V.m.

§ 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG und Art. 18 AEUV. Nach § 11 Abs. 1 S. 11 FreizügG/EU a.F. finde das AufenthG Anwendung, wenn es eine günstigere Rechtsstellung vermittle als das FreizügG/EU. § 28 Abs. 1 AufenthG sehe vor, dass einem ausländischen Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen zur Ausübung der Personensorge – auch ohne Existenzsicherung im Sinne von § 5 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AufenthG – eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen sei, wenn der Deutsche seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet habe. § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG finde aufgrund des in Art. 18 AEUV statuierten Gleichbehandlungsgrundsatzes auf minderjährige Unionsbürger und ihre Eltern Anwendung. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) habe ein die elterliche Sorge tatsächlich ausübendes Elternteil, das mit dem anderen Elternteil, von dem sich das Aufenthaltsrecht des gemeinsamen Kindes nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie (RL) 2004/38/EG ableitete, nicht verheiratet sei, aus Art. 21 AEUV ein Aufenthaltsrecht. In Ausübung dieses Aufenthaltsrechts könne sich sodann der die elterliche Sorge tatsächlich ausübende Elternteil auf das Diskriminierungsverbot aus Art. 18 Abs. 1 AEUV berufen. Das aufgezeigte, sich aus Art. 21 AEUV ergebende Aufenthaltsrecht des die elterliche Sorge tatsächlich ausübenden Elternteils sei weder in der RL 2004/38/EG noch in den §§ 2 ff. FreizügigG/EU, die die Bestimmungen der RL 2004/38/EG in nationales Recht umsetzten, geregelt. Mithin schränkten die Bestimmungen der RL 2004/38/EG, insbesondere Art. 24 RL 2004/38/EG, weder das aus Art. 21 AEUV resultierende Aufenthaltsrecht des die elterliche Sorge tatsächlich ausübenden Elternteils eines nach Art. 7 Abs. 1 RL 2004/38/EG freizügigkeitsberechtigten minderjährigen Unionsbürgers ein, noch konkretisierten sie in dieser Fallgestaltung das Diskriminierungsverbot des Art. 18 Abs. 1 AEUV.

Die Voraussetzungen eines Aufenthaltsrechts der Klägerin aus § 11 Abs. 1 S. 11 FreizügG/EU i.V.m. § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG und Art. 18 Abs. 1 AEUV lägen hier vor. Die Klägerin sei die Mutter des minderjährigen Klägers zu 3. Ihr habe die elterliche Sorge für den gemeinsamen Sohn zusammen mit dem Kläger zu 1 zugestanden. Die Sorgeberechtigung habe sich nach rumänischen Recht gerichtet, solange das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Rumänien gehabt habe. Danach stehe auch nicht miteinander verheirateten Eltern gemeinsam die Ausübung der elterlichen Sorge zu (Verweis auf das von der deutschen Botschaft in Bukarest veröffentlichte „Merkblatt zur Vaterschaftsanerkennung und zum Sorgerecht in Rumänien“). Gemäß Art. 16 Abs. 3 des Haager Kinderschutzübereinkommens (KSÜ) wirke jede einmal begründete elterliche Verantwortung auch nach einem Wechsel des gewöhnlichen Aufenthaltes des Kindes in einem anderen Staat fort. Sowohl Deutschland als auch Rumänien seien Vertragsstaaten des KSÜ. Die Klägerin sei somit trotz des gewöhnlichen Aufenthalts in Deutschland weiterhin sorgeberechtigt. Der Kläger zu 3 sei zwar nicht Deutscher, aber Unionsbürger und Inhaber eines materiellen Aufenthaltsrechts.

Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts würden in Höhe der Bedarfe nach § 19 Abs. 1 und 2 SGB II erbracht, soweit diese nicht durch das zu berücksichtigende Einkommen und Vermögen gedeckt seien. Hinsichtlich der Berechnung sei auf die nachstehende Tabelle zu verweisen. Den Klägern seien keine Wohnkosten entstanden. Die damalige Unterkunft sei durch das Bezirksamt zugewiesen worden. Ein Vertragsverhältnis zwischen den Klägern und dem Betreiber der Unterkunft habe nicht bestanden. Anderweitige Unterlagen seien nicht vorgelegt worden und auch nicht ersichtlich.

 

Gegen dieses Urteil richtet sich die fristgemäß bei dem Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (LSG) eingegangene Berufung des Beklagten. Entgegen der Ansicht des SG habe die Klägerin keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II. Habe die Klägerin keinen Anspruch, erhöhe sich das berücksichtigungsfähige Einkommen der Kläger zu 1 und 3. Einem Leistungsanspruch der Klägerin stehe § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II entgegen. Ein anderes Aufenthaltsrecht der Klägerin als dasjenige zur Arbeitsuche sei nicht ersichtlich. Insbesondere ergebe sich ein Aufenthaltsrecht der Klägerin nicht aus familiären Gründen aus Art. 6 GG. Der der Entscheidung des BSG vom 30. Januar 2013 – B 4 AS 54/12 R – zugrunde liegende Lebenssachverhalt sei mit dem hiesigen nicht vergleichbar. Dort sei die hochschwangere Klägerin, eine bulgarische Staatsangehörige, zu dem bereits seit neun Jahren in der Bundesrepublik Deutschland rechtmäßig lebenden Kindesvater gereist. Das BSG nehme insofern ausdrücklich Bezug auf die bevorstehende Geburt des Kindes und darauf, dass ein Kind im ersten Lebensjahr nicht von der Erziehungsleistung eines seiner Elternteile ausgeschlossen werden dürfe. Vorliegend sei der Kläger zu 3 im streitgegenständlichen Zeitraum älter als ein Jahr gewesen, sodass hier auf die Wahrnehmung der elterlichen Sorge in dem Heimatland Rumänien verwiesen werden könne. § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II verstoße auch nicht gegen Gemeinschaftsrecht. Die Klägerin könne sich ferner nicht auf das Gleichbehandlungsgebot des Art. 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA) berufen. Dies schon deswegen nicht, weil Rumänien nicht zu den Unterzeichnern des Abkommens gehöre. Ein Aufenthaltsrecht der Klägerin aus § 11 Abs. 1 S. 11 FreizügG/EU i.V.m. dem AufenthG sei nicht ersichtlich. Die Vorschrift des § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG finde auch in Ansehung des in Art. 18 AEUV normierten Gleichbehandlungsgrundsatzes keine Anwendung auf minderjährige Unionsbürger und ihre ausländische Eltern. Hierzu sei auf die nachvollziehbaren und überzeugenden Ausführungen in dem Beschluss des LSG vom 22. Mai 2017 zu dem Aktenzeichen L 31 AS 1000/17 B ER zu verweisen.

 

Der Beklagte hat – nachdem auf seinen Antrag durch Beschluss des LSG vom 1. April 2021 (L 3 AS 35/21) die Vollstreckung aus dem Urteil lediglich für die Kalendermonate November 2018 bis einschließlich Januar 2019 ausgesetzt worden ist – das Urteil für die Monate Februar bis April 2019 am 23. Juni 2021 umgesetzt.

 

Der Beklagte beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 1. Dezember 2020 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

 

Die Kläger beantragen,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Sie verteidigen die erstinstanzliche Entscheidung. Es sei nicht ersichtlich, weshalb die Feststellungen des BSG aus seinem Urteil vom 30. Januar 2013 zu dem Az. B 4 AS 54/12 R hier nicht anwendbar sein sollten. Es handele sich vorliegend zwar nicht um eine anstehende Familiengründung, jedoch seien die Grundsätze erst recht auf den vorliegenden Fall zu übertragen. Das BSG führe in der Entscheidung aus: „Auch in der hier vorliegenden Fallgestaltung soll verhindert werden, dass ein Kind in dem ersten Jahr nach seiner Geburt entgegen Art. 6 Abs. 1 GG von der Erziehungsleistung eines seiner Elternteile ausgeschlossen wird“. Dem sei nicht zu entnehmen, dass der Schutz nach Ablauf des ersten Lebensjahres nicht mehr gelten solle. Eine starre Grenze ab Ablauf des ersten Lebensjahres könne in dieser Form nicht gezogen werden, denn es sei nicht ersichtlich, warum Kinder im ersten Lebensjahr vor dem Ausschluss von der Erziehungsleistung eines seiner Elternteile geschützt werden sollten, nicht aber nach dessen Ablauf. Ein Kind von einem Alter von über einem Jahr könne nicht darauf verwiesen werden, eines seiner sorgeberechtigten Elternteile nur besuchsweise bei Anreise aus dem Ausland zu sehen. Das Elternteil wäre praktisch von der Erziehungsleistung ausgeschlossen. Entgegen der Ansicht des Beklagten finde § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG Anwendung auch auf minderjährige Unionsbürger. Dies ergebe sich aus dem in Art. 18 AEUV statuierten Gleichbehandlungsgrundsatz.

 

Mit Senatsbeschluss vom 30. September 2022 ist das Land Berlin, vertreten durch das Bezirksamt Mitte von Berlin, zu dem Rechtsstreit beigeladen worden.

 

Der Beigeladene stellt keinen Antrag.

 

Die Beteiligten haben unter dem 22. März 2023 und 28. März 2023 einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie den weiteren Inhalt der Gerichtsakte, der Verwaltungsvorgänge des Beklagten und der beigezogenen Gerichtsakte zu dem einstweiligen Rechtsschutzverfahren (S 173 AS 2690/19 ER) verwiesen, die dem Senat vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

 

Entscheidungsgründe

 

Der Senat konnte im schriftlichen Verfahren entscheiden, da alle Beteiligten sich mit dieser Vorgehensweise einverstanden erklärt haben (§§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz <SGG>).

 

Die Berufung ist zulässig, insbesondere ist sie statthaft (vgl. § 143 SGG) sowie nach § 151 SGG form- und fristgerecht eingelegt worden. Die Berufung ist jedoch unbegründet. Zu Recht hat das SG den Bescheid des Beklagten vom 11. Februar 2019 in der Fassung des Bescheides vom 21. März 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. April 2019 geändert und den Beklagten verpflichtet, den Klägern für die Zeit vom 1. November 2018 bis zum 30. April 2019 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II in der von ihm tenorierten Höhe zu bewilligen. Der Bescheid des Beklagten vom 11. Februar 2019 in der Fassung des Bescheides vom 21. März 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. April 2019 ist insoweit rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten, als der Klägerin keine Leistungen und den Klägern zu 1 und 3 zu niedrige Leistungen bewilligt worden sind.

 

I. Gegenstand des Berufungsverfahrens ist neben der Entscheidung des SG der gegenüber den Klägern ergangene Ablehnungsbescheid des Beklagten vom 11. Februar 2019 in der Fassung des Bewilligungsbescheides vom 21. März 2019 in der Gestalt in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. April 2019 (§§ 86, 95 SGG).

 

II. Rechtsgrundlage für den Anspruch der Klägerin ist § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II in der ab dem 29. Dezember 2016 bis zum 31. Juli 2019 gültigen Fassung vom 22. Dezember 2016 (a.F.). Hiernach erhalten Leistungen nach dem SGB II Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben (Nr. 1), erwerbsfähig sind (Nr. 2), hilfebedürftig sind (Nr. 3) und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte) (Nr. 4). Nach § 9 Abs. 1 SGB II ist hilfebedürftig, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhält. Erwerbsfähige Leistungsberechtigte erhalten neben dem Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts (§ 20 SGB II) außerdem Bedarfe für Unterkunft und Heizung (§ 22 SGB II).

 

1. Die Klägerin hatte im streitigen Zeitraum das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht, zudem war sie erwerbsfähig und hatte ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Sie war auch hilfebedürftig gemäß § 9 Abs. 1 SGB II, denn sie verfügte weder über eigenes Einkommen noch über Vermögen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern und erhielt auch keine Hilfe von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen. Diese Hilfebedürftigkeit bestand auch unter Berücksichtigung des Einkommens des Klägers zu 1. Nach § 9 Abs. 2 Satz 1 SGB II sind bei Personen, die in einer Bedarfsgemeinschaft leben, auch das Einkommen und Vermögen des Partners zu berücksichtigen.

 

Die Klägerin bildete im hier streitigen Zeitraum mit dem Kläger zu 1 und dem gemeinsamen minderjährigen Sohn – dem Kläger zu 3 - eine Bedarfsgemeinschaft im Sinne von § 7 Abs. 3 Nr. 3c und Nr. 4 SGB II a.F.. Aus den Angaben im Leistungsantrag vom 19. November 2018, den vorgelegten Gehaltsabrechnungen des Klägers zu 1 und den aktenkundigen Kontoauszügen ergibt sich, dass die Klägerin nicht über eigenes Einkommen oder Vermögen verfügte. Auch konnte sie ihren Lebensunterhalt nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen des mit ihr in Bedarfsgemeinschaft zusammenlebenden Klägers zu 1 sichern. Weder die Klägerin noch der Kläger zu 1 verfügten über Vermögen, mit dem sie den Lebensunterhalt für die Bedarfsgemeinschaft hätten sichern können, und sie erhielten die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen.

 

2. Die Klägerin war im streitgegenständlichen Zeitraum auch nicht von dem Kreis der nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II a.F. leistungsberechtigten Personen ausgenommen.

 

Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II a.F. sind von den erwerbsfähigen Leistungsberechtigten nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II a.F. ausgenommen Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbstständige noch aufgrund des § 2 Abs. 3 FreizügG/EU in der vom 09.12.2014 bis zum 23.11.2020 gültigen Fassung vom 02.12.2014 (a.F.) freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts (Nr. 1) und Ausländerinnen und Ausländer, die kein Aufenthaltsrecht haben (Nr. 2a), deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt (Nr. 2b) oder die ihr Aufenthaltsrecht allein oder neben einem Aufenthaltsrecht nach Buchstabe b aus Artikel 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 05.04.2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. L 141 vom 27.5.2011, S. 1), die durch die Verordnung (EU) 2016/589 (ABl. L 107 vom 22.4.2016, S. 1) geändert worden ist, ableiten, und ihre Familienangehörigen sowie Leistungsberechtigte nach § 1 des AsylbLG (Nr. 3).

 

Keiner dieser Ausschlussgründe ist gegeben.

 

a) Insbesondere greift nicht der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II, auch wenn sich die Kläger zu Beginn des streitigen Zeitraums ausweislich der Meldebescheinigungen und der eigenen Angaben erst seit wenigen Wochen (wieder) in der Bundesrepublik aufhielten. Denn der in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II a.F. vorgesehene Leistungsausschluss für die ersten drei Monate des Aufenthalts erfasst u.a. jedenfalls nicht solche Personen, die als Familienangehörige unter den Voraussetzungen eines der in §§ 27 bis 36a AufenthG geregelten Aufenthaltsrechte (Aufenthalt aus familiären Gründen) nach Deutschland ziehen (Leopold in jurisPK-SGB II, Stand, § 7, Rn. 112; LSG Baden-Württemberg, Urteile vom 24.01.2017 – L 9 AS 3548/16 - juris Rn. 24ff. und vom 25. Januar 2023 – L 3 AS 3922/20 – juris Rn. 58). Da die Klägerin sich für die Zeit ab dem 1. November 2018 auf ein materielles Aufenthaltsrecht berufen kann (hierzu nachfolgend unter b) bb)) sind die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II a.F. nicht erfüllt.

 

b) Auch sind die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 a) SGB II nicht gegeben. Zwar verfügte die Klägerin – wie bereits das SG dargelegt hat - im streitigen Zeitraum über keine unionsrechtliche Freizügigkeitsberechtigung, jedoch über ein materielles Aufenthaltsrecht.

 

aa) Die Voraussetzungen der Aufenthaltsrechte aus §§ 2, 3, 4, 4a FreizügG/EU a.F. liegen nicht vor, denn die Klägerin hat keine abhängige oder selbständige Tätigkeit ausgeübt (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 FreizügG/EU a.F.) und sich nicht zu dem Zwecke in Deutschland aufgehalten, Dienstleistungen zu erbringen oder in Anspruch zu nehmen (§ 2 Abs. 2 Nr. 3 und Nr. 4 FreizügG/EU a.F.). Ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU a.F. kann nicht festgestellt werden, denn Anhaltspunkte für andauernde und erfolgversprechende Bewerbungsbemühungen sind weder nach Aktenlage ersichtlich noch von der Klägerin vorgetragen. Sie hat auch nicht über ausreichende Existenzmittel verfügt, um ihren Lebensunterhalt und Krankenversicherungsschutz selbst zu decken (§ 2 Abs. 2 Nr. 5 i.V.m. § 4 FreizügG/EU a.F.). Die Klägerin ist im streitigen Zeitraum nicht mit dem Kläger zu 1 verheiratet gewesen und zwischen ihnen hat auch keine Lebenspartnerschaft nach dem Lebenspartnerschaftsgesetz bestanden, sodass sie im streitigen Zeitraum auch keine Familienangehörige i.S.v. § 2 Abs. 2 Nr. 6 i.V.m. § 3 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU a.F. gewesen ist (vgl. BSG, Urteil vom 30. Januar 2013 – B 4 AS 54/12 R - juris Rn. 33). Die Voraussetzungen für ein Daueraufenthaltsrecht liegen für die im Oktober 2018 in die Bundesrepublik eingereiste Klägerin ebenfalls nicht vor (§ 2 Abs. 2 Nr. 7 i.V.m. § 4a FreizügG/EU a.F.).

 

Eine Freizügigkeitsberechtigung ergibt sich für die Klägerin auch nicht nach § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU a.F., da ihr Sohn – der Kläger zu 3 - nicht zu den in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 5 und Nr.7 FreizügG/EU a.F. genannten Personen gehört hat, sondern seinerseits lediglich als Familienangehöriger des Klägers zu 1 nach § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU a.F. freizügigkeitsberechtigt gewesen ist.  Hiernach haben Familienangehörige der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 FreizügG/EU a.F. genannten Unionsbürger das Recht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU a.F. – also das Recht auf Einreise und Aufenthalt –, wenn sie den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen. Familienangehörige in diesem Sinne sind gem. § 3 Abs. 2 FreizügG/EU a.F. u.a. Verwandte in gerader absteigender Linie, denen der Unionsbürger Unterhalt gewährt. Danach ergibt sich vorliegend die Freizügigkeitsberechtigung des Klägers zu 3, weil der Kläger zu 1 als Vater der Kinder seinerseits ein Freizügigkeitsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU a.F. besaß, da er aufgrund seiner Tätigkeit bei der Firma G GmbH mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 10 Stunden Arbeitnehmer war und der gemeinsame Sohn und Kläger zu 3 (als Verwandter in gerader absteigender Linie) noch nicht 21 Jahre alt war (§ 3 Abs. 2 FreizügG/EU a.F.). Darüber hinaus gewährte der Kläger zu 1 dem Kläger zu 3 auch Unterhalt. Ein aufenthaltsberechtigter Unionsbürger gewährt einem Familienangehörigen Unterhalt, wenn er ihm tatsächlich regelmäßig Leistungen zukommen lässt, die vom Ansatz her als Mittel zum Bestreiten des Lebensunterhalts angesehen werden können und die vom Umfang her zumindest einen Teil des Lebensunterhalts decken (LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 1. August 2017 – L 19 AS 1131/17 B ER - juris Rn. 43). In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass der Kläger zu 1 über ein monatliches Nettoeinkommen i.H.v. 392,00 € verfügte. Der Senat hat keine Zweifel daran, dass der Kläger zu 1 seinem Sohn aufgrund dieser Einnahmen tatsächlich regelmäßige Unterhaltszahlungen zukommen ließ, indem er sein Einkommen für den Lebensbedarf der Familie verwendet hat. Im Übrigen wohnten die Kläger im streitgegenständlichen Zeitraum zusammen. Gemäß § 1606 Abs. 3 Satz 2 BGB erfüllt der Elternteil, der ein minderjähriges Kind betreut, seine Verpflichtung, zum Unterhalt des Kindes beizutragen, in der Regel durch die Pflege und die Erziehung des Kindes. Es besteht bis zur Volljährigkeit des Kindes grundsätzlich rechtliche Gleichwertigkeit zwischen dem Betreuungsunterhalt, also der Pflege und der Erziehung des minderjährigen unverheirateten Kindes, und dem Barunterhalt (Viefhues in: Herberger/Martinek/ Rüßmann/Weth/Würdinger, jurisPK-BGB, Stand 20.12.2022, § 1606 BGB, Rn. 10). Somit erfüllte der Kläger zu 1 seine Unterhaltsverpflichtung zumindest teilweise auch durch die tatsächliche Gewährung von Betreuungsunterhalt. Der Kläger zu 3 war damit freizügigkeitsberechtigt.

 

Der Kläger zu 3 konnte im streitigen Zeitraum somit (lediglich) eine vom Kläger zu 1 abgeleitete Freizügigkeitsberechtigung als Familienangehöriger nach § 3 Abs. 1 FreizügG/EU a.F. i.V.m. § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU a.F. beanspruchen. Mangels gesetzlicher Anspruchsgrundlage kann die Klägerin aus dieser Rechtsposition ihres Sohnes für sich selbst keine Freizügigkeitsberechtigung ableiten.

 

bb) Zu Recht hat das SG jedoch entschieden, dass sich die Klägerin für den streitigen Zeitraum auf ein materielles Aufenthaltsrecht aus § 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU a.F. i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG, Art. 18 Abs. 1 AEUV berufen kann.

 

Ein Leistungsausschluss im Sinne von § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II a.F. liegt für Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten der EU dann nicht vor, wenn diese über eine materielle Freizügigkeitsberechtigung nach dem FreizügG/EU oder über ein materielles Aufenthaltsrecht nach dem AufenthG verfügen (vgl. BSG, Urteil vom 27. Januar 2021 – B 14 AS 25/20 R - juris Rn. 15; vgl. auch BSG, Urteile vom 12. Mai 2021 – B 4 AS 34/20 R - juris Rn. 15; vom 30. August 2017 – B 14 AS 31/16 - juris Rn. 22 und vom 3. Dezember 2015 – B 4 AS 44/15 R -, juris; Leopold in jurisPK-SGB II, § 7, Rn. 131).

 

Der Umstand, dass die Klägerin im streitigen Zeitraum nicht Inhaberin eines Aufenthaltstitels in diesem Sinne gewesen ist, steht – wie das SG zutreffend dargestellt hat - einem Leistungsanspruch nicht entgegen. Denn soweit Aufenthaltsrechte von Unionsbürgern nach § 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU in der vom 29. Juli 2017 bis zum 23. November 2020 gültigen Fassung vom 20. Juli 2017 (a.F.) i.V.m. den Vorschriften des AufenthG zu prüfen sind, ist es nach der Rechtsprechung des BSG (vgl. etwa Urteile vom 30. Januar 2013 – B 4 AS 54/12 R - juris Rn. 19 und vom 12. Dezember 2013 – B 4 AS 9/13 - juris Rn. 13) unerheblich, ob dem Unionsbürger ein Aufenthaltstitel nach dem AufenthG tatsächlich erteilt worden ist. Entscheidend ist vielmehr, ob demjenigen ein solcher Titel zu erteilen (gewesen) wäre.

 

Da nach dem FreizügG/EU a.F. laut dessen § 11 Abs. 1 Satz 11 das AufenthG auch dann Anwendung gefunden hat, wenn es eine günstigere Rechtsstellung vermittelt hat als das FreizügG/EU a.F., ergibt sich für die Klägerin bei Abwägung der Umstände im vorliegenden Einzelfall als sorgeberechtigtes und die Personensorge auch tatsächlich ausübendes Elternteil ihres freizügigkeitsberechtigten Kindes – des Klägers zu 3 - aus dem Zusammenleben mit ihrem (damals nichtehelichen) Partner mit dem gemeinsamen Kind bezogen auf den streitigen Zeitraum ein materielles Aufenthaltsrecht aus § 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU a.F. i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG, Art. 18 Abs. 1 AEUV, Art. 6 GG und Art. 8 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK).

 

§ 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG sieht vor, dass einem ausländischen Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen zur Ausübung der Personensorge auch ohne Existenzsicherung (§ 5 Abs. 1 Nr. 1, § 28 Abs. 1 Satz 2 AufenthG) eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen ist, wenn der Deutsche seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat. Art. 18 Abs. 1 AEUV lautet: „Unbeschadet besonderer Bestimmungen der Verträge ist in ihrem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten.“ Aus diesem allgemeinen Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit ergibt sich, dass günstigere Regelungen, die im allgemeinen Ausländerrecht bestehen, auch auf Freizügigkeitsberechtigte Anwendung finden müssen (sog. Meistbegünstigung; vgl. NK-AuslR/Thomas Oberhäuser, 2. Aufl. 2016, Freizügigkeitsgesetz/EU, § 11 Rn. 57-59). Die Meistbegünstigungsklausel stellt damit Unionsbürger und ihre Familienangehörige mit sonstigen Drittstaatsangehörigen, die unmittelbar dem AufenthG unterfallen, gleich und verhindert somit eine Schlechterstellung diesen gegenüber (Bergmann/Dienelt/Dienelt, 14. Aufl. 2022, FreizügG/EU, § 11 Rn. 86-107).

 

Gemäß Art. 6 Abs. 1 GG stehen Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Nach Absatz 2 des Art. 6 GG sind Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz. Nach Art. 8 Abs. 2 EMRK darf eine Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

 

Die Klägerin bildete und bildet weiterhin mit ihrem Partner und heutigen Ehemann – dem Kläger zu 1 - und dem gemeinsamen Kind – dem Kläger zu 3 -  eine Familie i.S.d. des Art. 6 GG und der §§ 27 Abs. 1, 28 Abs. 1, 29 und 32 AufenthG; sie kann sich ferner auf den Schutz aus Art. 8 EMRK berufen. Von der Schutzpflicht des Staates aus Art. 6 GG ist insbesondere die Rechtsposition der betroffenen Kinder sowie deren Anspruch auf Ermöglichung bzw. Aufrechterhaltung eines familiären Bezugs zu beiden Elternteilen betroffen (vgl. Bundesverfassungsgericht <BVerfG>, Beschluss vom 8. Dezember 2005 - 2 BvR 1001/04 - juris Rn. 17 ff.; BVerfG, Beschluss vom 23. Januar 2006 - 2 BvR 1935/05 - juris Rn. 17 zum Familienschutz; BVerfG, Beschluss vom 18. April 1989 - 2 BvR 1169/84 – juris Rn. 32). Die von Art. 6 GG ausgehende Schutzwirkung soll verhindern, dass das betroffene Kind von der Erziehungsleistung eines seiner Elternteile ausgeschlossen wird. Für die aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkungen aus Art. 6 GG ist dabei nicht vorrangig auf formalrechtliche familiäre Bindungen, sondern auf die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern im Wege einer Einzelfallbetrachtung abzustellen (vgl. BSG, Urteil vom 30. Januar 2013 - B 4 AS 54/12 R - juris Rn 32-36, unter Verweis auf BVerfG, Beschluss vom 8. Dezember 2005 - 2 BvR 1001/04 - juris Rn. 18).

 

Aus der hiernach gebotenen verfassungskonformen Auslegung i.S.d. Art 6 GG und des Art. 8 EMRK folgt ein Aufenthaltsrecht der Klägerin aus § 11 Abs. 1 S. 11 FreizügG/EU a.F. i.V.m. § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AufenthG und Art. 18 AEUV (so auch: LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30. Oktober 2018 - L 19 AS 1472/18 B ER - juris Rn. 28 ff.; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 1. August 2017 - L 19 AS 1131/17 B ER – juris Rn. 42 ff.; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 26. September 2017 - L 6 AS 380/17 B ER - juris Rn. 42; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 23. November 2022 – L 12 AS 452/20 – juris Rn. 72 ff.; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 25. Januar 2023 – L 3 AS 3922/20 – juris Rn. 69 ff.; LSG für das Saarland, Urteil vom 7. September 2021 – L 4 AS 23/20 WA – juris Rn. 34 ff.; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29. Juni 2016 - L 25 AS 1331/16 B ER - juris Rn. 5; SG Kassel, Beschluss vom 20. April 2021 - S 6 AS 30/21 ER - juris Rn. 44; SG Frankfurt, Urteil vom 20. September 2022 - S 16 AS 1321/20 - juris Rn. 27 ff.; Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Auflage 2022, § 11 FreizügG/EU, Rn. 102 f.; Oberhäuser in NK-AuslR, 2. Auflage 2016, § 11 FreizügG/EU, Rn. 57 f.; ablehnend u.a.: LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 27. Juli 2017 - L 21 AS 782/17 B ER - juris Rn. 44 ff.; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 9. Juni 2021 – L 34 AS 850/17 – juris; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 7. April 2022 – L 18 AS 312/22 B ER - juris Rn. 11; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24. Mai 2022 – L 8 AS 449/22 B ER - juris Rn. 18;LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22. Mai 2017 - L 31 AS 1000/17 B ER – juris Rn. 2; Hessisches LSG, Beschluss vom 21. August 2019 - L 7 AS 285/19 B ER - juris Rn. 45; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 4. Juli 2019 - L 4 AS 246/19 B ER - juris Rn. 32; SG Berlin, Urteil vom 9. Juli 2018 - S 135 AS 23938/15 - juris Rn. 47; SG Duisburg, Urteil vom 9. August 2019 - S 41 AS 2408/18 - juris Rn. 12).

 

Zwar begründet Art. 6 GG keinen unbedingten, unmittelbaren grundrechtlichen Anspruch eines Familienangehörigen auf Nachzug zu den berechtigt in der Bundesrepublik Deutschland lebenden ausländischen Familienmitgliedern. Allerdings begründet Art. 6 GG in seiner Funktion als „wertentscheidende Grundsatznorm“ die Pflicht des Staates, Ehe und Familie zu schützen. Dieser Pflicht entspricht ein Anspruch des Trägers der Grundrechte aus Art. 6 Abs. 1 GG darauf, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über ein Aufenthaltsbegehren die bestehenden familiären Bindungen an im Bundesgebiet lebende Personen in einer Weise berücksichtigen, die der großen Bedeutung entspricht, welche das GG dem Schutz von Ehe und Familie beimisst (BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 1987 – 2 BvR 1226/83 - juris).

 

Das BVerfG hat in den Beschlüssen vom 4. Oktober 2019 – 1 BvR 1710/18 (juris Rn. 13; betreffend die Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe wegen mangelnder Erfolgsaussicht des Rechtsbehelfs) und vom 8. Juli 2020 – 1 BvR 932/20 (juris Rn. 15) und 1 BvR 1094/20 (juris Rn. 15; beide betreffend die Ablehnung der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes im Beschwerdeverfahren vor einem LSG) ausgeführt, dass bei Beantwortung der Frage, ob dem sorgeberechtigten Elternteil eines wegen der Begleitung des anderen Elternteils nach § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU a.F. freizügigkeitsberechtigten minderjährigen Unionsbürgers über § 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU a.F. in Verbindung mit § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG und Art. 18 Abs. 1 AEUV ein Aufenthaltsrecht nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG vermittelt werden kann, die Wertungen der Art. 6 GG und Art. 8 EMRK berücksichtigt werden müssen. Insoweit müssten die Konsequenzen einer Rückkehr des betroffenen Elternteils in das Heimatland und damit die Trennung von der Familie im Lichte von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK gewürdigt werden. Der bloße Verweis auf die Betreuung der gemeinsamen Kinder durch den anderen Elternteil reiche hierfür nicht aus.

 

Bereits im Beschluss vom 12. Mai 1987 – 2 BvR 1226/83 (juris Rn. 88) hat das BVerfG für den Fall einer Auferlegung von Wartezeiten für den Nachzug ausländischer Staatsangehöriger zu schon im Bundesgebiet lebenden Familienangehörigen ausgeführt, der einem Betroffenen infolge eines Einreise- und Aufenthaltsverbots praktisch auferlegte Zwang, für geraume Zeit eine räumliche Trennung von seinen Angehörigen hinzunehmen oder ein bestehendes Aufenthaltsrecht endgültig aufzugeben und die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen, sei geeignet, das Ehe- und Familienleben zu beeinträchtigen und müsse sich daher an Art. 6 Abs. 1 GG messen lassen.

 

Im Beschluss vom 1. Dezember 2008 – 2 BvR 1830/08 (juris Rn. 31, 33) hat das BVerfG dargelegt, bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berührten, könnten die Folgen einer vorübergehenden Trennung ein hohes, gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht insbesondere dann haben, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen sei, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen könne und diese rasch als endgültigen Verlust erfahre.

 

Danach ergibt sich im vorliegenden Fall Folgendes: Die Klägerin und der Kläger zu 1 sind die Eltern Klägers zu 3 und verfügen, wie bereits das SG dargestellt hat und worauf der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug nimmt, über das gemeinsame Sorgerecht für den Kläger zu 3. Gemäß § 1626 Abs. 1 BGB haben die Eltern die Pflicht und das Recht, für das minderjährige Kind zu sorgen (elterliche Sorge), wobei die elterliche Sorge auch die Sorge für die Person des Kindes (Personensorge) umfasst. Hiernach haben die Klägerin und der Kläger zu 1 das Personensorgerecht für ihren Sohn. Anhaltspunkte dafür, dass dies im streitigen Zeitraum nicht der Fall gewesen sein sollte, liegen nicht vor. Die Kläger haben im streitigen Zeitraum in einem Haushalt zusammengelebt. Hierbei haben der Kläger zu 1 und die Klägerin das Personensorgerecht für den Kläger zu 3 tatsächlich ausgeübt. Dem steht insbesondere nicht die Tatsache entgegen, dass der Kläger zu 1 im streitigen Zeitraum erwerbstätig war im Umfang von 10 Stunden wöchentlich.

 

Der Senat hält es für geboten, insbesondere den in Art. 6 GG und Art. 8 EMRK garantierten Rechten des nach der o.g. Rechtsprechung von BVerfG und BSG (vgl. hierzu die Entscheidung vom 30. Januar 2013 – B 4 AS 54/12 R) besonders schutzwürdigen, im streitigen Zeitraum zwei Jahre alten, Kindes der Klägerin – des Klägers zu 3 - hier maßgebliches Gewicht beizumessen, zumal die Kläger die familiäre Gemeinschaft und Verbundenheit durch die Geburt des weiteren Kindes und die Eheschließung des Klägers zu 1 mit der Klägerin noch im Jahr 2019 bekräftigt haben. Denn wollte man der Klägerin ein aus § 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU a.F. i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG und Art. 18 Abs. 1 AEUV abgeleitetes materielles Aufenthaltsrecht versagen, hätte sie entweder allein oder gemeinsam mit dem Kläger zu 3 Deutschland verlassen müssen. Alternativ hätten alle Kläger Deutschland verlassen müssen, da das Erwerbseinkommen des Klägers zu 1 den Bedarf der Familie, und damit das Existenzminimum nicht vollumfänglich decken konnte. Als Konsequenz hätte sich ergeben, dass entweder der freizügigkeitsberechtigte Kläger zu 3 von einem seiner Elternteile räumlich getrennt und von dessen Erziehungsleistung ausgeschlossen worden wäre oder alle Kläger hätten unterhalb des Existenzminimums in Deutschland leben müssen oder sie wären alle gezwungen gewesen, Deutschland zu verlassen. Unter Berücksichtigung der oben genannten Entscheidungen des BVerfG und auch des Urteils des BSG vom 30. Januar 2013 kann jedoch insbesondere nicht der gesamten Familie der Klägerin zugemutet werden auszureisen, um eine Familientrennung zu verhindern (so aber etwa: LSG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 7. April 2022 – L 18 AS 312/22 B ER - juris Rn. 11 und vom 24. Mai 2022 – L 8 AS 449/22 B ER - juris Rn. 18). Eine solche Argumentation, nämlich der Ausreise der gesamten Familie ins Ausland zwecks Verhinderung einer Familientrennung, würde die übrigen Familienangehörigen – die Kläger zu 1 und 3 – ihres unionsrechtlichen Freizügigkeitsrechts berauben. Zwar ist die Möglichkeit, das Land zu verlassen und in das Heimatland zurückzukehren, naturgemäß immer eine Option für Unionsbürger, sofern im Inland die Existenz nicht gesichert werden kann. Eine ganze Familie jedoch auf die Ausreise in ihr Heimatland zu verweisen, obgleich weder eine entsprechende Verlustfeststellung der Ausländerbehörde ausgesprochen worden ist und obwohl das minderjährige Kind (und ein Elternteil) ein Bleiberecht sowie einen Grundsicherungsanspruch haben, kann nicht das Ergebnis des grundrechtlich geschützten Anspruchs auf Existenzsicherung und Familienschutz sein (Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 23. November 2022 – L 12 AS 452/20 – juris Rn. 88). Bei einer Ausreise nur der Klägerin zu 2 wäre für den Kläger zu 3, dessen Betreuung angesichts der damaligen Erwerbstätigkeit des Klägers gefährdet gewesen wäre, eine Verletzung dessen in Art. 6 GG und Art. 8 EMRK garantierter Rechte zu befürchten gewesen. Denn gerade den Folgen einer auch nur vorübergehenden Trennung von den Eltern soll nach der o.g. höchstrichterlichen Rechtsprechung besonders hohes Gewicht zukommen und soll eine Trennung von den leiblichen Eltern gerade vermieden werden. Ein Verbleib der Klägerin in der Bundesrepublik ohne eigenen Leistungsanspruch und mit der Folge, dass bei sämtlichen Familienmitgliedern das Existenzminimum nicht gedeckt wäre, verstieße nach Auffassung des Senats gegen Art. 6 GG (ebenso: LSG für das Saarland, Urteil vom 7. September 2021 – L 4 AS 23/20 WA – juris Rn. 37).

 

Soweit in der Rechtsprechung argumentiert wird, eine Verletzung der Grundrechte der betroffenen Kinder bestehe bereits aus dem Grund nicht, da das familiäre Zusammenleben durch Verlegung des Aufenthaltes aller Familienmitglieder in das EU-Ausland außerhalb von Deutschland, also im EU-Herkunftsstaat gewährleistet sei (vgl. z.B. LSG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 7. April 2022 – L 18 AS 312/22 B ER - juris Rn. 11 und vom 24. Mai 2022 – L 8 AS 449/22 B ER - juris Rn. 18), lässt dies außer Acht, dass die o.g. verfassungsgerichtliche Rechtsprechung ausdrücklich eine „Gefahr“ für den Fall aufzeigt bzw. dem Umstand hohes Gewicht beimisst, wenn allein der betroffene Elternteil Deutschland verlässt (vgl. Beschlüsse vom 8. Juli 2020 - 1 BvR 932/20 - juris Rn. 15 und vom 8. Juli 2020 – 1 BvR 1094/20 - juris Rn. 15 sowie vom 1. Dezember 2008 – 2 BvR 1830/08 - juris Rn. 33). Diesbezüglich verweist das BVerfG nämlich gerade nicht darauf, dass eine Grundrechtsverletzung dadurch vermieden werden kann, dass die gesamte Familie gemeinsam in das Herkunftsland zurückkehrt. Der Rechtsprechung des BVerfG ist nicht zu entnehmen, dass bereits mit einer solchen Rückkehr dem Grundrecht von Eltern und Kindern auf familiäres Zusammenleben hinreichend entsprochen wäre. Vielmehr stellt das BVerfG ausdrücklich auch den Verweis allein des nicht originär freizügigkeitsberechtigten Elternteils (hier: denjenigen der Klägerin) auf eine Rückkehr in den EU-Herkunftsstaat unter den Vorbehalt, dass jedenfalls die daraus für das Kind folgenden Konsequenzen im Lichte dessen Rechte aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK zu würdigen sind. Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist zudem zu beachten, dass der spezifische Erziehungsbeitrag des eines Elternteils nicht durch die von dem anderen Elternteil geleistete Betreuungsleistung entbehrlich wird (vgl. etwa BVerfG, Beschluss vom 8. Dezember 2005 – 2 BvR 1001/04 - juris Rn. 20; Beschluss vom 9. Dezember 2021 – 2 BvR 1333/21 - juris Rn. 46; hierzu auch: Hailbronner in: Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Dezember 2022, II., § 28 AufenthG Rn. 13).

 

Es ist für den Senat auch nicht ersichtlich, dass ein zweijähriges Kind nicht mehr der Personensorge beider leiblicher Eltern für seine gesunde psychosoziale Entwicklung bedürfte. Allein die Tatsache, dass im Rahmen der Gesetzgebung zum Elterngeld davon ausgegangen wird, ein Kind bedürfe nach dem Säuglingsalter (mithin nach Vollendung des 12. Lebensmonats; vgl. I. 4.3.5 des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs) nicht mehr der ständigen Betreuung durch die Eltern (so die Argumentation des Beklagten im Widerspruchsbescheid), bedeutet nicht, dass eine Betreuung durch beide Elternteile im nachfolgenden Kleinkindalter nicht mehr notwendig wäre. Schließlich geht es bei der Ausreise eines Elternteils nicht um eine Trennung von einer Bezugsperson für wenige Stunden, sondern um eine dauerhafte Trennung. Nicht unberücksichtigt lassen kann der Senat hier auch den Umstand, dass die Klägerin im laufenden Streitzeitraum abermals schwanger geworden ist, sodass ihre Ausreise perspektivisch noch ein weiteres Kind der Personensorge des anderen Elternteils (des Klägers zu 1) beraubt hätte.

Nach alledem liegt ein Leistungsausschluss der Klägerin nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2b SGB II nicht vor.

c) Ferner sind die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 b) SGB II in der vom 29. Dezember 2016 bis zum 31. Juli 2019 gültigen Fassung vom 22. Dezember 2016 nicht gegeben, da sich das Aufenthaltsrecht der Klägerin – wie eben dargestellt – gerade nicht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. Ersichtlich lagen ebenso wenig die Voraussetzungen der Leistungsausschlüsse nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 c) und Nr. 3 SGB II a.F. vor.

III. Hat die Klägerin im streitigen Zeitraum einen Leistungsanspruch nach dem SGB II, erhöhen sich im Gegenzug die individuellen Leistungsansprüche der Kläger zu 1 und 3. Der Bedarf der Klägerin im Zeitraum vom 1. November 2018 bis zum 30. April 2019 ergibt sich – mangels angefallener bzw. geltend gemachter Kosten der Unterkunft und Heizung – allein aus dem Regelbedarf für Partner nach § 20 SGB II i.H.v. 374,00 € (2018) bzw. 382,00 € (2019) monatlich zusammen. Bei dem Kläger zu 1 und dem Kläger zu 3 sind im Rahmen der Berechnung des Gesamtbedarfes der Familie ebenfalls allein die gesetzlichen Regelbedarfe zu berücksichtigen. Bedarfsmindernd ist das Einkommen des Klägers zu 1 aus Erwerbseinkommen sowie des Klägers zu 3 aus Kindergeld zu berücksichtigen. Hinsichtlich der Höhe der individuellen Leistungsansprüche der Kläger und der dazu gehörigen konkreten Berechnungen nimmt der Senat nach eigener Überprüfung zur Vermeidung von Wiederholungen vollumfänglich Bezug auf die Ausführungen in den Entscheidungsgründen des erstinstanzlichen Urteils (§ 153 Abs. 2 SGG).

IV. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

V. Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).

Rechtskraft
Aus
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