L 13 KG 1/21

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Kindergeld-/Erziehungsgeldangelegenheiten
Abteilung
13
1. Instanz
SG Köln (NRW)
Aktenzeichen
S 25 KG 7/19
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 13 KG 1/21
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 10 KG 1/23 B
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 26.11.2020 wird zurückgewiesen.

 

Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

Tatbestand:

 

Streitig ist die Gewährung von Kindergeld auf Grundlage von § 1 Abs. 2 Bundeskindergeldgesetz (BKGG).

 

Der am 00.00.1998 geborene Kläger ist syrischer Staatsangehöriger. Er reiste am 13.09.2015 in die Bundesrepublik Deutschland als Flüchtling ein und hat eine Aufenthaltserlaubnis auf Grundlage von § 25 Abs. 2 Aufenthaltsgesetz. Sein Vater ist am 00.07.2016 verstorben, seine Mutter lebt - ebenso wie seine beiden (jüngeren) Geschwister - in Syrien. Telefonischer Kontakt des Klägers zu seiner Mutter besteht. Seit August 2018 bis August 2021 machte er eine Ausbildung zum technischen Assistenten in der Medizin am Universitätsklinikum in A. Seine Ausbildungsvergütung betrug zwischen 965,24 Euro und 1122,03 Euro brutto.

 

Der Kläger beantragte am 06.04.2017 die Bewilligung von Kindergeld für sich selbst. Er gab an, den Aufenthaltsort seiner Eltern bzw. seiner Mutter kenne er nicht, habe aber tags zuvor mit ihr telefoniert, ein Aufgebotsverfahren wegen Verschollenheit habe er nicht beantragt. Mit Bescheid vom 04.07.2017 lehnte die Beklagte die Gewährung von Kindergeld auf Grundlage von § 1 Abs. 2 BKGG ab.

 

Mit Antrag vom 12.11.2018 beantragte der Kläger erneut die Bewilligung von Kindergeld. Sein Bevollmächtigter erklärte hierzu, die Mutter des Klägers lebe in N., M. in Syrien. Adressen mit Straßennamen und Hausnummern gebe es dort nicht. Sie lebe von einer kleinen Pension ihres verstorbenen Ehemannes; der Kläger habe gelegentlich Telefonkontakt zu ihr.

 

Mit Bescheid vom 07.02.2019 lehnte die Beklagte auch diesen Antrag auf Bewilligung von Kindergeld mit Wirkung ab Juli 2018 ab. Der Kläger sei weder Vollwaise noch sei ihm der Aufenthaltsort seiner Eltern bzw. seiner Mutter unbekannt. Dem widersprach der Kläger am 28.03.2019. Mit Widerspruchsbescheid vom 05.06.2019 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Der Kläger sei keine Vollwaise, kenne den Aufenthaltsort seiner Mutter und habe gelegentlichen telefonischen Kontakt zu ihr. Selbst bei sich ändernden Aufenthaltsorten seiner Mutter könne er daher ihren Aufenthaltsort zumindest telefonisch erfragen.

 

Dagegen hat der Kläger rechtzeitig zum Sozialgericht (SG) Köln Klage erhoben.

 

Er hat vorgetragen, der bestehende gelegentliche Telefonkontakt zur Mutter stehe einem Anspruch auf Grundlage von § 1 Abs. 2 BKGG nicht entgegen. Es handele sich hierbei um eine Härtefallvorschrift die auch in seinem Fall zum Tragen komme. Seine Mutter sei herzkrank und wirtschaftlich nicht in der Lage, ihm Unterhalt zu leisten. Unter Verweis auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 05.05.2015 (Az. B 10 KG 1/14 R) führt er aus, das sozialrechtliche Kindergeld diene alleinstehenden Flüchtlingen als Ausgleich für die eigenen Belastungen und sei daher nicht mit dem steuerrechtlichen Kindergeld vergleichbar. Seine Mutter habe keinen festen Wohnsitz da sie aufgrund des Bürgerkrieges nicht immer an einem Ort lebe. Sie sei selbst wirtschaftlich von ihrer Verwandtschaft abhängig.

 

Die Beklagte hat – unter Vorlage der Entscheidung – auf ein Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Rheinland-Pfalz vom 05.07.2016 (Az.: L 3 KG 3/15) verwiesen und entgegnet, grundsätzlich diene das Kindergeld der elterlichen Entlastung und stehe Personen zu, die als Eltern oder ähnlich wie Eltern mit Unterhalt von Kindern belastet seien. Das sozialrechtliche Kindergeld nach § 1 Abs. 2 BKGG stelle eine Ausnahmeregelung dar und sei als solche eng auszulegen. Wenn Eltern im Ausland lebten - und deshalb keinen Kindergeldanspruch hätten - begründe dies noch keinen Anspruch auf Kindergeld des im Inland lebenden Kindes an sich selbst. Mit einem Vollwaisen i.S.v. § 1 Abs. 2 BKGG sei nur ein Kind vergleichbar, das nicht wisse wo sein überlebender Elternteil seinen Aufenthaltsort habe und deshalb einem Vollwaisen gleichzustellen sei.

 

Im Termin zur mündlichen Verhandlung am 26.11.2020 vor dem SG hat der Kläger unter anderem erklärt, der Telefonkontakt zu seiner Mutter gehe aufgrund der Beschränkung auf Internet-basierte Telefonate (WhatsApp) von seiner Mutter aus. Sie könne ihn nur anrufen, wenn das Internet funktioniere, was nicht immer der Fall sei. Seine Mutter habe in Syrien keine Arbeit und daher auch kein Geld; für die von ihr inzwischen angemietete Wohnung in N. habe zum Teil er von Deutschland aus die Miete bezahlt. Telefonischen Kontakt zu ihr und seinen Geschwistern habe er manchmal zweimal im Monat, in manchen Monaten aber auch gar nicht. Für die weiteren Einzelheiten der Erklärungen des Klägers wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.

 

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 26.11.2020 abgewiesen und zur Begründung ausgeführt:

 

„Die Klage gerichtet gegen den Bescheid der Beklagten vom 07.02.2019 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 05.06.2019 ist als Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 1 und 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und auch im Übrigen zulässig. Insbesondere wurde die Klage fristgerecht innerhalb der Monatsfrist des § 87 SGG erhoben. Ein Ab-Vermerk der die Übergabe zur Post dokumentiert existiert nicht; eine solche ergibt sich insbesondere nicht aus dem allein elektronisch dokumentierten „Ab-Vermerk“ (mit Datum 06.06.2019). Daher ist von einer Bekanntgabe des Widerspruchsbescheides entsprechend der Angabe des Klägerbevollmächtigten am 13.06.2019 auszugehen.

 

Die Klage ist aber unbegründet, da der angefochtene Bescheid rechtmäßig ist und den Kläger daher nicht i.S.v. § 54 Abs. 2 SGG in seinen Rechten verletzt. Er hat keinen Anspruch auf Zahlung von Kindergeld (an sich selbst) auf Grundlage von § 1 Abs. 2 BKGG.

 

Nach § 1 Abs. 2 Satz 1 BKGG erhält Kindergeld für sich selbst, wer in Deutschland seien Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort hat, Vollwaise ist oder den Aufenthalt seiner Eltern nicht kennt und nicht bei einer anderen Person als Kind zu berücksichtigen ist. Der Kläger hat zwar seinen Wohnsitz in Deutschland und ist bei keiner anderen Person als Kind kindergeldrechtlich zu berücksichtigen. Er ist aber kein (Voll-) Waise und er ist auch nicht wegen Unkenntnis des Aufenthalts seiner Eltern mit einem Vollwaisen gleichzustellen.

 

Da der Vater des Klägers - woran auch die Beklagte offenbar keine Zweifel hat – verstorben ist, ist der Kläger lediglich Halbwaise. Wenn seine Mutter sich in Deutschland aufhalten würde, könnte sie - bei Vorliegen der Übrigen gesetzlichen Voraussetzungen - Kindergeld an sich selbst für den Kläger beanspruchen.

 

Der Kläger ist als Halbwaise nicht in Unkenntnis des Aufenthalts seiner Mutter. Ihm ist bekannt, in welchem Ort in Syrien sie lebt und welche Wohnung sie dort angemietet hat. Teilweise hat er sogar die Miete für diese Wohnung bezahlt und steht in zumindest telefonischem Kontakt zu seiner Mutter. Er ist daher weder Vollwaise noch ist er aufgrund fehlender Kenntnis vom Aufenthalt seiner Mutter mit einem solchen gleichzustellen.

 

Das Tatbestandsmerkmal „(Un-) Kenntnis vom Aufenthalt“ ist zwar nicht gleichzusetzen mit einer Verschollenheit der Eltern nach dem Verschollenheitsgesetz. Die blosse Kenntnis, dass die Eltern bzw. der überlebende Elternteil „irgendwo“ lebt, schließt einen Anspruch nach § 1 Abs. 2 BKGG nicht per se aus (Irmen in: Hambüchen, BEEG, EStG, BKGG, Stand 12/2009, § 1 BKGG, Rn. 49), wobei die (Un-) Kenntnis anhand eines subjektiven Maßstabes aus Sicht des betroffenen Kindes zu beurteilen ist (BSG, Urteil vom 08.04.1992, Az.: 10 RKg 12/91, juris Rn. 17f.).

 

Nach Überzeugung der Kammer ist die (Un-) Kenntnis vom Aufenthalt der Eltern aber nicht so zu verstehen, dass einem Vollwaisen schon derjenige gleichzustellen ist, der keine Kenntnis einer (ladungsfähigen) Anschrift hat oder nicht jederzeit telefonischen Kontakt zu seinem (verbliebenen) Elternteil herstellen kann. Die Kenntnis vom Aufenthalt ist nicht gleichzusetzen mit der Kenntnis einer (nach nationalem Recht vergleichbaren) ladungsfähigen Adresse (vgl. hierzu: Dau, jurisPR-SozR 11/2016, Anm. 3 zu SG Mainz, Urteil vom 22.09.2015, S 14 KG 4/15). Dies legt schon der Wortlaut des Gesetzes nahe, der sprachlich nicht einmal auf den „Aufenthaltsort“ sondern lediglich den „Aufenthalt“ abstellt. Aufenthalt ist sprachlich im körperlichen Sinne zu verstehen, d.h. den Aufenthalt hat jemand dort, wo er sich örtlich befindet (Seewald/Felix, Kindergeldrecht, Stand Oktober 2019, § 1 BKGG, Rn. 119). Für die anspruchsausschließende Kenntnis genügt es jedenfalls, wenn ein Kind weiß, wo sich sein Elternteil grundsätzlich aufhält. Denn dann ist davon auszugehen, dass ein Kontakt zu den jeweils örtlichen Bedingungen zumindest herstellbar ist. Nach Auffassung der Kammer ist es fernliegend, die postalisch problematische Erreichbarkeit einer Person mit Unkenntnis von deren Aufenthalt gleichzusetzen. Zwar geht auch die Kammer davon aus, dass der Kläger aufgrund der örtlichen Verhältnisse in Syrien nicht jederzeit Kontakt zu seien Mutter herstellen kann und faktisch auf deren (telefonische) Kontaktinitiative - von der sie Gebrauch macht - angewiesen ist. Bei der Regelung des § 1 Abs. 2 BKGG handelt es sich um einen Ausnahmetatbestand, der eng auszulegen ist (Hess LSG, Urteil vom 25.06.2014, Az.: L 6 KG 3/11, juris Rn. 21). Es besteht daher kein Anlass, ein Kind trotz faktischer Kenntnis vom Aufenthalt der Eltern bzw. des Elternteils mit einem Vollwaisen im Hinblick darauf gleichzusetzen, dass die praktische Kontaktaufnahme aufgrund äußerer örtlicher Bedingungen für einen gewissen Zeitraum erschwert ist.

 

Für die Frage, ob der Kläger Kindergeld für sich selbst beanspruchen kann kommt es auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit seiner Mutter und die Frage, ob sie in der Lage ist, ihm Unterhalt zu gewähren, nicht an. § 1 Abs. 2 BKGG knüpft tatbestandlich weder an die Leistungsfähigkeit der Eltern noch an deren faktisch ausbleibende Unterhaltsleistungen an. Eine (weit) über den Wortlaut des Gesetzes hinausgehende erweiternde Auslegung findet im Gesetz keinerlei Grundlage. Zwar dient nach den Motiven des Gesetzgebers das sozialrechtliche Kindergeld nach § 1 Abs. 2 BKGG dazu, die Belastungen, die mit einem Status als Vollwaise einhergehen, anzuerkennen (vgl. hierzu: BSG, Urteil vom 05.05.2015, Az.: B 10 KG 1/14 R, juris Rn. 27). Daraus kann aber nicht geschlossen werden, dass all diejenigen, deren Eltern nicht leistungsfähig sind (und ihrerseits z.B. wegen ihres Auslandsaufenthalts vom Bezug des Kindergeldes ausgeschlossen sind) Anspruch auf sozialrechtliches Kindergeld auf Grundlage von § 1 Abs. 2 BKGG haben.

 

Ob der Kläger die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 1 Abs. 3 BKGG erfüllt, kann angesichts des Vorstehenden dahingestellt bleiben.“

 

Dagegen richtet sich die rechtzeitige Berufung des Klägers, der dazu auf eine im Deutschen Bundestag gehaltene Rede Bezug nimmt.

 

Der Kläger beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 26.11.2020 abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 07.02.2019 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 05.06.2019 zu verurteilen, dem Kläger für die Zeit ab August 2018 Kindergeld nach § 1 Abs. 2 Bundeskindergeldgesetz nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

 

Die Beklagte beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Der erkennende Senat hat die Bewilligung von Prozesskostenhilfe mit Beschluss vom 23.09.2021 abgelehnt. Bereits nach dem Wortlaut des § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BKGG scheide eine Zahlung von Kindergeld an den Kläger aus. Auch eine erweiternde Auslegung komme nicht in Betracht.

 

Wegen der Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.

 

 

Entscheidungsgründe:

 

Die zulässige Berufung ist unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht als unbegründet abgewiesen.

 

Der Senat nimmt Bezug auf seinen eigenen Beschluss vom 23.09.2021 und auf die Gründe des angefochtenen Urteils, die er sich zu eigen macht, § 153 Abs. 2 SGG.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich (§ 160 Abs. 2).

 

 

Rechtskraft
Aus
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