L 7 AS 955/19 NZB

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 40 AS 4037/18
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 7 AS 955/19 NZB
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

Ob eine abstrakte Rechtsfrage (hier: zur Aufteilung einer nicht nach kalten Betriebskosten und Heizkosten aufgeschlüsselten Nebenkostenvorauszahlung entgegen der Rechtsprechung des BSG) konkret klärungsfähig und entscheidungserheblich ist, beurteilt sich auch für das Landessozialgericht als Beschwerdegericht grundsätzlich auf der Grundlage der vorinstanzlich festgestellten Tatsachen, an die es im Beschwerdeverfahren gebunden ist.

Auf die Beschwerde des Beklagten wird die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Dresden vom 27. Juni 2019 zugelassen.

 

 

G r ü n d e :

 

I.

Der Beklagte begehrt die Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Dresden (SG) vom 27.06.2019, mit dem er für März bis August 2016 verurteilt wurde, den Klägern abschließend höhere Leistungen zu bewilligen und Erstattungsforderungen zu mindern. In vier weiteren Beschwerdeverfahren der Beteiligten sind Zeiten von Januar bis Februar 2014 (Az.: L 7 AS 958/19 NZB), September 2016 bis Februar 2017 (Az.: L 7 AS 959/19 NZB), März bis August 2017 (Az.: L 7 AS 957/19 NZB) und September bis Oktober 2017 (Az. L 7 AS 956/19 NZB) streitig.

 

Das SG stützte seine Entscheidung allein auf einen höheren monatlichen Bedarf für Heizung von 137,25 € statt der vom Beklagten anerkannten 110,49 €, da die einheitliche Vorauszahlung der monatlichen Betriebs- und Heizkosten von 225,- € nicht beziffert und anders als vom Beklagten vorgenommen aufzuteilen sei. Diese Berechnung folge der Rechtsprechung des BSG und Berufungsgerichts (Hinweis auf BSG v. 18.11.2014 - B 4 AS   9/14 R - Rn. 5, 34 f. zu Sächs. LSG v. 19.12.2013 - L 7 AS 637/12 - juris Rn. 3, 54 ff.; BSG v. 16.06.2015 - B 4 AS 44/14 R - Rn. 2, 32 ff.; vgl. weiterhin BSG v. 16.06.2015 - B 4 AS 45/14 R - Rn. 2, 32 ff.; Sächs. LSG v. 14.09.2018 - L 7 AS 1167/15 - juris Rn. 3, 31 ff., nachgehend BSG v. 12.09.2019 - B 14 AS 278/18 B - juris: Verwerfung der Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision als unzulässig). Die Berufung sei nicht zuzulassen. Insbesondere sei weder ersichtlich noch dargetan, dass die Rechtsfrage nach vorgenannten Entscheidungen wieder grundsätzliche Bedeutung habe.

 

Gegen das - ihm am 15.07.2019 zugestellte - Urteil hat der Beklagte am 06.08.2019 beim erkennenden Gericht Beschwerde eingelegt und die Zulassung der Berufung beantragt (Beschwerdeschrift v. 02.08.2019). Folgende Rechtsfragen seien von grundsätzlicher Bedeutung (vgl. a.a.O., S. 2; Ziffer 2. geringfügig geändert durch Schreiben v. 09.09.2020):

"1. Verstößt die derzeitige Rechtsprechung zur Bestimmung des Bedarfs an Heizkosten bei nicht-näher-aufgeschlüsselten Betriebskostenvorauszahlungen gegen das Bedarfs- und Individualbemessungsprinzip des SGB II, wenn die einheitliche Vorauszahlung derart pauschaliert aufgeschlüsselt wird, dass

- in einem ersten Schritt die einheitliche Vorauszahlung pauschaliert um einen abstrakt zu bestimmenden Wert an kalten Betriebskosten reduziert wird, der aus einer ortsbezogenen statistischen Erhebung stammt und multipliziert wird, mit einer festen Größe an angemessen zustehenden Quadratmetern Wohnungsgröße,

- um sodann in einem zweiten Schritt, den so verbliebenen Wert als Bedarf an Heizkosten im Sinne des SGB II - Individualbedarfs zu bestimmen?

2. Oder ist die Bedarfsbestimmung vielmehr dergestalt vorzunehmen, als dass anhand der konkret vorliegenden nicht-näher-aufgeschlüsselten Betriebskostenvorauszahlung nicht die abstrakt-angemessene Wohnfläche bei der Pauschalierung zu Grunde gelegt wird, sondern ein konkret statistisch ermitteltes Verhältnis zwischen kalten Betriebskosten und Heizkosten, welches sodann die Betriebskostenvorauszahlung aufschlüsselt; wobei das Verhältnis zwischen den benannten Kostenpositionen sich infolge einer ortsbezogenen Bestimmung des gutachtlichen Wertes der Angemessenheit der Kosten der Unterkunft im Sinne des § 22 Abs. 1 SGB II (dem sog. schlüssigen Konzept) erschließen lässt?"

 

Die Rechtsprechung des BSG zur Bemessung nicht aufgeschlüsselter Betriebskostenvorauszahlungen sei weder rechtlich und tatsächlich plausibel noch überzeugend sowie nicht mit den Gegebenheiten am Wohn- und Mietmarkt vereinbar. In mehreren, ausführlich dargelegten, Beispielsfällen werde sie realitätsfern. Der erkennende Senat sei ihr nur gefolgt, da sie "im vorliegenden Einzelfall praktikabel" gewesen sei und "nicht signifikant" von der nachträglichen Abrechnung der tatsächlichen Heizkosten abgewichen habe (Hinweis auf Sächs. LSG v. 14.09.2018 - L 7 AS 1167/15 - juris Rn. 36). Der 3. Senat des Berufungsgerichts sei der Rechtsprechung des BSG nicht gefolgt, ohne die Revision zuzulassen (Hinweis auf Sächs. LSG v. 11.06.2020 - L 3 AS 1120/16 zu SG v. 15.06.2016 - S 28 AS 6303/13 und Sächs. LSG v. 11.06.2020 - L 3 AS 1121/16 zu SG v. 15.06.2016 - S 28 AS 2490/14 - alle n.v.). Der 8. Senat habe auf seine Beschwerden und unter Beteiligung der auch hier bevollmächtigten Rechtsanwältin zur gleichen Rechtsfrage fünf Berufungen zugelassen (Hinweis auf Sächs. LSG v. 09.11.2020 - L 8 AS 519-523/20 NZB zu SG A.... v. 29.05.2020 - S 14 AS 3834/18 u.a., jeweils n.v.; Berufungsverfahren seit dem 01.04.2022 im 4. Senat anhängig, Az.: L 4 AS 949-953/20).

 

II.

Die statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde des Beklagte ist begründet, da die Berufung gegen das Urteil des SG vom 27.06.2019 zuzulassen ist. Der Begründung hierfür bedarf es an sich nicht (§ 145 Abs. 4 Satz 2 SGG). Sie kann indes im Einzelfall - wie hier - geboten sein (vgl. z.B. Wehrhahn in jurisPK-SGG, 2. Aufl., § 145 Rn. 23).

 

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Berufung liegen vor, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG).

 

Grundsätzliche Bedeutung (§ 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG) hat eine Rechtssache, wenn sie - bei Beschwerde nach § 145 SGG zum Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung (zu § 160   Abs. 2 Nr. 1 SGG vgl. nur BSG v. 26.11.2020 - B 14 AS 49/19 B - Rn. 5) - eine (abstrakte) Rechtsfrage aufwirft, die eine grundsätzliche, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung hat (sog. Breitenwirkung), (abstrakt) klärungsbedürftig und (konkret) klärungsfähig (entscheidungserheblich) ist (ausführlicher hierzu z.B. Bienert, info also 2014, S. 198,   201 f.; Keller in: Meyer-Ladewig, SGG, 13. Aufl., § 144 Rn. 28 i.V.m. Leitherer, a.a.O.,      § 160 Rn. 6 ff.; Wehrhahn, a.a.O., § 144 Rn. 31 ff.).

 

Nicht klärungsbedürftig ist eine Rechtsfrage, wenn sie bereits entschieden ist oder durch Auslegung des Gesetzes, eventuell unter Berücksichtigung bereits ergangener Rechtsprechung, eindeutig beantwortet werden kann, soweit nicht neue Gesichtspunkte vorgetragen werden, die zu einer über die bisherige Erörterung hinausgehenden Betrachtung der grundsätzlich bereits entschiedenen Rechtsfrage führen können und die Möglichkeit einer anderweitigen Entscheidung nicht offensichtlich ausschließen (zu § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG vgl. z.B. BSG v. 30.09.1992 - 11 BAr 47/92 - Rn. 8). Für eine Zulassung nach § 144 Abs. 2   Nr. 1 SGG genügt insoweit das Vorliegen neuer Gesichtspunkte, da § 145 Abs. 2 SGG keine § 160a Abs. 2 Satz 3 SGG entsprechende Regelung enthält (vgl. z.B. Keller, a.a.O., § 145 Rn. 4). Eine erneute Klärungsbedürftigkeit kann insbesondere eintreten, wenn der Rechtsauffassung des BSG in nicht geringfügigem Umfang widersprochen wird oder wesentlich neue Gesichtspunkte gegen die Auffassung des BSG vorgebracht werden (vgl. z.B. BSG v. 21.07.2011 - B 4 AS 34/11 B - Rn. 7 m.w.N., zu den Darlegungsanforderungen nach § 160a Abs. 2 Satz 3 SGG vgl. insoweit z.B. BSG v. 28.02.2017 - B 5 RS 42/16 B - Rn. 9).

 

Ob die (abstrakte) Rechtsfrage (konkret) klärungsfähig und entscheidungserheblich (zur Unterscheidung vgl. z.B. Becker, SGb 2007, S. 265, 267 f. und ders., ASR, 2014, S. 90, 96) ist, beurteilt sich grundsätzlich auf der Grundlage der vorinstanzlich festgestellten Tatsachen, an die auch das Landessozialgericht als Beschwerdegericht gebunden ist (vgl. z.B. Sächs. LSG v. 14.09.2012 - L 3 AS 8/12 NZB - juris Rn. 32, auch zu Ausnahmen, wie insb. bei von Amts wegen zu beachtenden Verfahrenshindernissen, die einer sachlichen Entscheidung entgegenstehen, vgl. hierzu weiterhin z.B. Becker, a.a.O., S. 267 bzw. S. 96, Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 1. Aufl., Rn. 129; zur Bindung an die vorinstanzlich festgestellten Tatsachen bei § 160 SGG vgl. § 163 SGG und z.B. Karmanski in: BeckOGK-SGG, § 160 Rn. 32, Stand: 01.05.2023; zur Unterscheidung zwischen Fehlern bei der Sachverhaltsfeststellung als Verfahrensmangel und materiellen Rechtsanwendung als kein Verfahrensmangel vgl. z.B. Cantzler in: Berchtold/Richter, Prozesse in Sozialsachen, 2. Aufl., § 7 Rn. 90; zur Geltendmachung eines Verfahrensmangels bei vorinstanzlich fehlerhaft festgestellten Tatsachen vgl. z.B. Leitherer, a.a.O., § 160a Rn. 14j).

 

Unter Berücksichtigung dieser Kriterien hat die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung. Der Beklagte hat in nicht geringfügigem Umfang der Rechtsprechung des BSG (dessen   4. Senats) widersprochen. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit diesem Vorbringen im Beschwerdeverfahren würde hier eine Entscheidung in der Hauptsache vorwegnehmen.

 

Die vom Beklagten aufgeworfene Rechtsfrage zur Aufteilung einer nicht nach kalten Betriebskosten und Heizkosten aufgeschlüsselten Nebenkostenvorauszahlung ist im angestrebten Berufungsverfahren auch klärungs- und entscheidungsfähig. Die vorinstanzliche Entscheidung beruht ausschließlich auf der tatsächlichen Feststellung, dass die Kläger "im streitgegenständlichen Zeitraum in einer Wohnung (lebten), für die … eine einheitliche, ohne gesonderte Aufschlüsselung der Anteile für kalten Nebenkosten und Heizkosten - Nebenkostenvorauszahlung … zu entrichten" war (vgl. SG v. 27.06.2019, a.a.O., z.B. S. 2). Ob die vom SG festgestellten Tatsachen zutreffend sind, ist zwar zumindest fragwürdig, da der Mietvertrag der Kläger eine konkrete Aufteilung der Nebenkosten vorsieht (vgl. § 2 Ziffer 2. des Mietvertrags v. 19.04.2008, von den Klägern im vorinstanzlichen Verfahren zu L 7 AS 958/19 NZB vorgelegt), indes (nunmehr) erst im Berufungsverfahren aufzuklären (vgl. hierzu BSG v. 20.08.2009 - B 14 AS 41/08 R - Rn. 27).

 

Das Beschwerdeverfahren wird als Berufungsverfahren fortgesetzt, ohne dass es der Einlegung einer Berufung bedarf (§ 145 Abs. 5 Satz 1 SGG).

 

Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung in der Hauptsache vorbehalten (vgl. entsprechend BSG v. 01.12.1988 - 8/5a RKn 11/87 - juris Rn. 2).

 

Die Beschwerde gegen diesen Beschluss ist ausgeschlossen (§ 177 SGG).

Rechtskraft
Aus
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