1. Erfolgt ein Kassenwechsel bei laufender durch die Alt -Kasse bewilligter Psychotherapie (antragspflichtige Leistungen des Kapitels 35.2 EBM) ist die Neu -Kasse daran gebunden, ohne dass es einer Anzeige oder einer erneuten Bewilligung durch die Neu -Kasse bedarf.
2. Für die Forderung nach einer Anzeige bzw. erneuten Bewilligung gibt es keine Rechtsgrundlage.
I. Die Bescheide der Beklagten in der Fassung der Widerspruchsbescheide, betreffend die sachlich - rechnerischen Richtigstellungen in den Quartalen 1/18, 2/18 und 3/18 (Therapien) werden aufgehoben, die für die Therapie abgerechneten Leistungen werden anerkannt und entsprechend vergütet.
II. Die Kosten der Verfahren werden der Beigeladenen zu 2 auferlegt.
T a t b e s t a n d :
Gegenstand der Verfahren sind die in den Quartalen 1/18, 2/18 und 3/18 vorgenommenen sachlich-rechnerischen Richtigstellungen nach § 106d Abs. 3 SGB V. Die Klägerin, eine psychologische Psychotherapeutin, beantragte für einen Patienten nach vorausgegangenen probatorischen Sitzungen bei der AOK, bei der der Patient versichert war, eine Kurztherapie 1 (K1), die von der Krankenkasse als Erstantrag am 17.07.2017 für zwölf Therapieeinheiten genehmigt wurde. Die nachfolgende Kurzzeittherapie 2 (K2) wurde für weitere zwölf Therapieeinheiten ebenfalls von der AOK mit Schreiben vom 02.01.2018 bewilligt (Fortführungsantrag vom 12.12.2017). Im Februar 2018 wechselte der Patient seine Krankenkasse. Er war dann bei der BKK Linde versichert. Die Therapie, die nach Kassenwechsel stattfand, wurde am 03.07.2018 abgeschlossen.
Die BKK Linde, zu den Verfahren gemäß § 75 Abs. 2 SGG notwendig beigeladen, stellte bei der Beklagten für die oben genannten Quartale Anträge nach § 106d Abs. 3 SGB V. Sie führte aus, die Praxis habe es versäumt, für die von der Vorkasse (AOK Bayern) bewilligten, aber bis zum Kassenwechsel noch nicht erbrachten Therapiestunden auch von der BKK Linde, wie vorgesehen, eine Kostenzusage einzuholen. Die BKK Linde habe bisher keine Kostenzusage für eine Richtlinien-Therapie erteilt.
Der Antragstellung folgten die streitgegenständlichen Bescheide. Darin führte die Beklagte aus, sie habe nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts kein Recht zu einer eigenständigen Prüfung der materiell-rechtlichen Voraussetzungen (BSG, Urteil vom 23.03.2016, Az B 6 KA 8/15 R). Die Prüfung beschränke sich lediglich auf formelle Voraussetzungen, wie zum Beispiel, ob Fristen versäumt wurden. Die Krankenkasse habe der Beklagten mitgeteilt, dass die Gebührenordnungspositionen nicht gemäß den Abrechnungsbestimmungen des einheitlichen Bewertungsmaßstabes (EBM) bzw. weiteren abrechnungsrelevanten vertraglichen Bestimmungen bzw. Richtlinien abgerechnet worden seien.
Gegen die Bescheide legte die Klägerin Klagen zum Sozialgericht München ein. Sie vertrat die Auffassung, entgegen der Meinung der Krankenkasse bestehe für sie keine Anzeigepflicht. Bei einem Wechsel der Krankenkasse müssten die Kosten der bereits bewilligten Behandlung durch die Neukrankenkasse übernommen werden. Entsprechendes ergebe sich auch aus verschiedenen Entscheidungen des Bundessozialgerichts (vgl BSG, Urteil vom 20.11.2001, Az B 1 KR 31/99 R; BSG, Urteil vom 20.11.2001, Az B 1 KR 26/00 R).
In der mündlichen Verhandlung am 22.06.2023, in der weder Vertreter der beigeladenen BKK-Linde (Beigeladene zu 2), noch des ebenfalls beigeladenen BKK-Landesverbandes (Beigeladene zu 1) anwesend waren, wurde die Sach-und Rechtslage mit den anwesenden Beteiligten erörtert. Die Klägerin machte darauf aufmerksam, sie habe von einem Kassenwechsel nichts gewusst. Die Versichertenkarten würden von der Sekretärin eingelesen. Hinzu komme, dass die Behandlung hätte überhaupt nicht unterbrochen werden können. Dem Patienten sei es offensichtlich auch nicht bewusst gewesen, den Kassenwechsel anzuzeigen.
Der Vertreter der Beklagten wies auf eine Broschüre, herausgegeben von der KVB, mit der Überschrift "Wegweiser zur Erbringung psychotherapeutischer Leistungen als ärztlicher Psychotherapeut, als psychologischer Psychotherapeut und als Kinder-und Jugendlichen Psychotherapeut " (Stand Juli 2017) hin. Zum Punkt "Kassenwechsel" wurde dort wie folgt ausgeführt:
"Wechselt ein Patient während einer laufenden Psychotherapie seine Krankenkasse, darf die Psychotherapie - unbeschadet der Regelung in § 21 Abs. 3 Bundesmantelvertrag - erst dann zu Lasten der neuen Krankenkasse abgerechnet werden, wenn der Patient einen Antrag auf Kostenübernahme der laufenden Psychotherapie bei der jetzt zuständigen Krankenkasse gestellt hat (gegebenenfalls mittels des Formblattes PTV1)." Somit müsse die Genehmigung erneut eingeholt werden. Es handle sich um eine eingeübte Verwaltungspraxis. Die Beklagte habe ihrer Entscheidung die rechtliche Begründung der Krankenkasse zugrunde gelegt. Letztendlich gehe es um die zu klärende Frage, ob die Bewilligung der Therapie durch die "Alt"- Kasse fortwirke oder nicht.
Die Klägerin stellte folgenden Antrag:
"Die Bescheide über die sachlich-rechnerischen Richtigstellungen, betreffend die Quartale 1/18, 2/18 und 3/18 werden aufgehoben und die für die Therapien abgerechneten Leistungen werden anerkannt und entsprechend vergütet."
Der Vertreter der Beklagten beantragte, die Klage abzuweisen. Hilfsweise wird beantragt, im Falle des Unterliegens die Kosten der Verfahren der Beigeladenen zu 2 BKK Linde aufzuerlegen.
Beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren die Beklagtenakten. Im Übrigen wird auf den sonstigen Akteninhalt, insbesondere die Schriftsätze der Beteiligten, sowie die Sitzungsniederschrift vom 22.06.2023 verwiesen.
E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :
Die zum Sozialgericht München eingelegten Klagen sind zulässig - es handelt sich um kombinierte Anfechtungs-und Verpflichtungsklagen nach § 54 SGG - und auch begründet. Die angefochtenen Bescheide sind als rechtswidrig anzusehen und die Klägerin ist in ihren Rechten verletzt.
Rechtsgrundlage für die sachlich-rechnerischen Berichtigungen ist § 106d Abs. 3 SGB V. Danach prüfen die Krankenkassen die Abrechnungen der an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte und Einrichtungen insbesondere hinsichtlich (1.) des Bestehens und des Umfangs ihrer Leistungspflicht.
Davon hat die Beigeladene zu 2 Gebrauch gemacht. Sie hat bei der Beklagten Anträge nach § 106d Abs. 3 SGB V gestellt, denen die Beklagte stattgegeben und die die nunmehr angefochtenen Bescheide erlassen hat. Bei den von der Klägerin abgerechneten Leistungen des Kapitels 35.2 EBM, die sachlich-rechnerisch berichtigt wurden, handelt es sich um antragspflichtige Leistungen. Die Klägerin hat bei der AOK entsprechende Anträge gestellt, zunächst für K1, dann später für K2. Daraufhin wurden von der AOK jeweils zwölf Therapieeinheiten genehmigt.
Rechtlich nicht zu beanstanden ist, dass die Beklagte die Antragsbegründung der Beigeladenen zu 2 in ihren Bescheiden übernommen hat. Denn nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 23.03.2016, Az B 6 KA 8/15 R) hat die Beklagte kein eigenständiges Prüfungsrecht der materiell-rechtlichen Voraussetzungen für eine von der Krankenkasse nach § 106d Abs. 3 SGB V beantragte sachlich-rechnerische Richtigstellung.
Die von der Klägerin zitierten Entscheidungen (BSG, Urteil vom 20.11.2001, Az B 1 KR 31/99 R; BSG, Urteil vom 20.11.2001, Az B 1 KR 26/00 R) sind nach Auffassung des Gerichts auf die streitgegenständlichen Entscheidungen nicht unmittelbar übertragbar. Denn sie betreffen entweder die Frage der Leistungspflicht der Krankenkassen untereinander im Bereich der ambulanten zahnärztlichen Versorgung (Zahnersatz-Leistungen; Heil-und Kostenplan) bzw. den stationären Bereich nach einem Kassenwechsel. Allerdings ergeben sich aus dem erstgenannten Urteil Hinweise zur Auffassung des Krankenversicherungsenats des BSG. Danach soll der Grundsatz gelten, dass bei einem Kassenwechsel die übernehmende Kasse für alle Behandlungsmaßnahmen zuständig wird, die im Zeitpunkt des Übertritts noch nicht durchgeführt waren. Dazu, ob diese automatisch zuständig wird, oder ob bei antragspflichtigen Leistungen eine Anzeigepflicht gegenüber der "Neu"-Kasse besteht oder sogar ein erneuter Antrag auf Bewilligung und wenn ja von wem zu stellen ist und, ob es sich hierbei um eine rein formale Voraussetzung handelt, finden sich keinerlei Ausführungen.
Als meldepflichtige bzw. antragstellende Personen/Institutionen kommen die Alt-Kasse, der Patient und die Behandlerin/der Behandler in Betracht.
Welche Daten in den strittigen Quartalen zwischen der "Alt"-Kasse und der "Neu"-Kasse grundsätzlich ausgetauscht werden bzw. tatsächlich ausgetauscht wurden, ist hier nicht bekannt. Allerdings wäre zu erwarten gewesen, dass der "Neu"-Kasse nach der ersten Abrechnung für das Quartal 1/18 hätte auffallen müssen, dass antragspflichtige Leistungen abgerechnet werden. Die "Neu"-Kasse hätte dann entsprechend reagieren müssen.
Der Behandlerin/dem Behandler obliegt grundsätzlich eine Mitwirkungspflicht, auch der Krankenkasse gegenüber, die sich aus § 72 Abs. 1 SGB V ergibt. Dies schließt auch eine Information der "Neu"-Kasse hinsichtlich des Vorliegens einer Genehmigung durch die "Alt"-Kasse und der laufenden psychotherapeutischen Behandlung mit ein. Voraussetzung ist jedoch, dass die Behandlerin/der Behandler Kenntnis von dem Kassenwechsel hatte, was die Klägerin verneinte, indem sie auch darauf hinwies, nicht sie, sondern ihre Sekretärin lese die Versichertenkarten ein. Grundsätzlich ist die Kenntnis der Sekretärin/Sprechstundenhilfe dem abgerechnenden Arzt, der abgerechnenden Psychotherapeutin zurechenbar, wobei hier unklar ist, ob die Sprechstundenhilfe überhaupt Kenntnis von dem Wechsel der Krankenkasse hatte. Abgesehen davon dürfte der Klägerin auch eine Exkulpation gelingen. Ohne Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass nach der Broschüre "Wegweiser zur Erbringung psychotherapeutischer Leistungen als ärztlicher Psychotherapeut, als psychologischer Psychotherapeut und als Kinder-und Jugendlichen Psychotherapeut " (Stand Juli 2017) nur dann zulasten der neuen Krankenkasse abgerechnet werden, wenn der Patient einen Antrag auf Kostenübernahme der laufenden Psychotherapie stellt. Daraus ergibt sich jedoch für die Behandlerin/den Behandler nicht die Pflicht, eine begonnene Therapie anzuzeigen, geschweige denn einen erneuten Antrag auf Bewilligung/Genehmigung zu stellen. Vielmehr ist die Rede von einer Pflicht des Patienten, einen erneuten Antrag zu stellen.
Was die Überlegung betrifft, der Patient seinerseits müsse einen Antrag auf Bewilligung bei der Neukasse stellen, wie dies im "Wegweiser ..." postuliert wird, erscheint diese Forderung rein tatsächlich wenig realitätsnah, insbesondere dann, wenn der psychische Gesundheitszustand ein solches Tätigwerden des Patienten ausschließt.
Unter Berücksichtigung der vorgenannten Aspekte hätte es nahegelegen, die Verfahren im Wege eines Vergleichs zu erledigen, was jedoch mangels Teilnahme der beigeladenen Seite - es gab auch keine Äußerung im Vorfeld - nicht möglich war.
Ausschlaggebend für die Entscheidung des Gerichts ist, ob für ein Erfordernis, eine bereits begonnene Therapie anzuzeigen oder sogar die Therapie durch die "Neu"-Kasse erneut bewilligen zu lassen, eine Rechtsgrundlage besteht. Dies ist nach Auffassung des Gerichts aber nicht der Fall. Denn der "Wegweiser..." , herausgegeben von der Beklagten ist nicht als Rechtsgrundlage anzusehen. Es handelt sich vielmehr um reine informelle Hinweise der Beklagten, die eine Rechtsgrundlage nicht darstellen und die sich außerdem nicht an den Behandler richten, sondern dem Patienten die Pflicht zur erneuten Beantragung der Psychotherapie auferlegen.
Auch aus der Bewilligung der AOK, wonach diese Erklärung, gemeint ist die Bewilligung der Therapieeinheiten, unter der Voraussetzung erfolgt, dass während des Behandlungszeitraums ein Leistungsanspruch gegenüber unserer Krankenkasse bestehen bleibt, kann nicht auf das Erfordernis einer erneuten Bewilligung von der "Neu"-Kasse geschlossen werden. In der Genehmigung heißt es wie folgt: "Diese Erklärung erfolgt unter der Voraussetzung, dass während des Behandlungszeitraums ein Leistungsanspruch gegenüber unserer Krankenkasse bestehen bleibt." Es handelt sich hierbei an sich um eine auflösende Bedingung als Nebenbestimmung im Sinne von § 32 SGB X. Einer solchen Nebenbestimmung bedarf es allerdings nicht. Denn nach § 19 Abs. 1 SGB V erlischt mit dem Ende der Mitgliedschaft der Anspruch auf Leistungen durch die "Alt"-Kasse. Offen bleibt die Frage, ob die von der AOK gewährte Bewilligung fortbesteht und für die nachfolgende Krankenkasse, hier die BKK-Linde eine Bindung entfaltet.
Entsprechende Regelungen zu einer Anzeigepflicht oder erneuten Bewilligung von Therapieleistungen bei der "Neu"-Kasse müssten im SGB V, in der Psychotherapie-Richtlinie oder in der Psychotherapie-Vereinbarung zur Anlage 1 BMV-Ä enthalten sein. Dies ist jedoch nicht der Fall. Es ist lediglich in § 34 Psychotherapie-Richtlinie die Rede von dem Antragserfordernis, ebenfalls in § 11 zur Anlage 1 BMV-Ä. Eine Regelung darüber, ob ein erneuter Antrag bei einem Kassenwechsel erforderlich ist, findet sich jedoch nicht.
Neben der fehlenden Rechtsgrundlage mitentscheidend war auch der Gesichtspunkt, dass der Gesetzgeber in den §§ 173ff. SGB V ein Recht der gesetzlich Versicherten, die Krankenkasse frei zu wählen, vorsieht. Würde gefordert werden, der Versicherte müsste bei einem Wechsel der Krankenkasse in laufender Therapie erneut einen Antrag auf Bewilligung stellen, so würde dies einen Wechsel der Kasse deutlich erschweren. Denn der Versicherte müsste damit rechnen, dass die "Neu"-Kasse - nicht gebunden an die alte Bewilligung - die Therapie ablehnen könnte. Hinzu kommt, dass bei laufender Therapie diese nicht ohne weiteres unterbrochen werden kann, bis die Entscheidung der "Neu"-Kasse über einen Antrag vorliegt. Eine Unterbrechung der Therapie ist dem Patienten nicht zumutbar.
Aus den genannten Gründen war den Klagen stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG in Verbindung mit § 155 Abs. 4 VwGO.