L 4 P 668/23 ER-B

Land
Bundesrepublik Deutschland
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
4.
1. Instanz
SG Konstanz (BWB)
Aktenzeichen
S 8 P 2061/22 ER
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 4 P 668/23 ER-B
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Konstanz vom 30. Januar 2023 wird bezogen auf den Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.



Gründe


1. Die gemäß § 173 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde des Antragstellers ist zulässig, insbesondere nicht nach § 172 Abs. 3 Nr. 1 i.V.m. § 144 SGG ausgeschlossen. Denn der Antragsteller wendet sich gegen die Vollziehung eines Bescheids über die Herabsetzung von laufenden Leistungen der Pflegeversicherung für mehr als ein Jahr (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).


2. Die Beschwerde des Antragstellers ist aber nicht begründet. Das SG hat den Antrag, die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage vom 3. Juni 2022 (S 3 P 924/22) gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 2. August 2021 in der Fassung des Bescheids vom 20. August 2021, diese in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. Mai 2022 anzuordnen, zu Recht abgelehnt. Der angefochtene Beschluss erweist sich nicht zum Nachteil des Antragstellers als unrichtig.

a) Der einstweilige Rechtschutz richtet sich im vorliegenden Fall nach § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG. Danach ist der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung statthaft, wenn Widerspruch oder Anfechtungsklage entgegen der Grundregel des § 86a Abs. 1 SGG nicht schon kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung haben (vgl. Senatsbeschluss vom 14. Juli 2016 – L 4 R 1086/16 – juris, Rn. 16; LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 27. Dezember 2021 – L 10 BA 10034/21 B ER – juris, Rn. 28). Die aufschiebende Wirkung entfällt u.a. gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 3 SGG für die Anfechtungsklage in Angelegenheiten der Sozialversicherung bei Verwaltungsakten, die eine laufende Leistung herabsetzen oder entziehen. Zu den Entscheidungen, die unter diese Vorschrift fallen, gehören auch Bescheide der Pflegekassen, mit denen – wie mit den Bescheiden der Antragsgegnerin vom 2. August 2021 und 20. August 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. Mai 2022 – Pflegegeld nur noch nach einem niedrigeren Pflegegrad gewährt und dieses damit herabgesetzt wird. Die Anfechtungsklage des Antragstellers vom 3. Juni 2022 (S 3 P 924/22) entfaltet danach keine aufschiebende Wirkung.

b) Nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Die Entscheidung über den Anordnungsantrag trifft das Gericht anhand einer eigenständigen Abwägung der Beteiligteninteressen. Gegeneinander abzuwägen sind das öffentliche Interesse am sofortigen Vollzug des Verwaltungsaktes und das private Interesse am Aufschub der Vollziehung. Dabei ist allerdings zu beachten, dass das Gesetz mit dem Ausschluss der aufschiebenden Wirkung in den Fällen des § 86a Abs. 2 Nr. 3 SGG dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Herabsetzung der Leistung grundsätzlich Vorrang eingeräumt und das Vollzugsrisiko auf den Versicherten verlagert hat. Diese typisierend zu Lasten des Einzelnen ausgestaltete Risikoverteilung ist bei der Abwägung der einzelnen Gesichtspunkte, insbesondere der konkreten Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens, dem konkreten Vollziehungsinteresse und der für die Dauer einer möglichen aufschiebenden Wirkung drohenden Rechtsbeeinträchtigung zu berücksichtigen. Im Einzelfall kann danach zwar die Interessenabwägung zugunsten des Betroffenen ausfallen, wie vor allem bei offensichtlicher Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides und infolgedessen fehlendem öffentlichen Interesse an seiner Vollziehung (Senatsbeschluss vom 14. Juli 2016 – a.a.O.; Burkiczak, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, Stand Juni 2022, § 86b SGG Rn. 196). Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung hat jedoch eine mit gewichtigen Argumenten zu begründende Ausnahme zu bleiben (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 86b Rn. 12c). Die aufschiebende Wirkung der Klage ist in entsprechender Anwendung des § 86a Abs. 3 Satz 2 SGG in der Regel nur anzuordnen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheids bestehen oder wenn seine Vollziehung für den Versicherten eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte (vgl. Senatsbeschluss vom 14. Juli 2016 – a.a.O.; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 23. Juni 2021 – L 5 BA 2420/21 ER-B – www.sozialgerichtsbarkeit.de; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 16. August 2013 – L 11 R 3031/13 ER – juris, Rn. 19 f.; Binder, in: Berchtold, HK-SGG, 6. Aufl. 2021, § 86b Rn. 18).

Der Senat geht davon aus, dass ernstliche Zweifel im Sinne von § 86a Abs. 3 Satz 2 SGG nur dann bestehen, wenn ein Obsiegen des Antragstellers in der Hauptsache wahrscheinlicher ist als ein Unterliegen. Dementsprechend begründen lediglich solche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide ein überwiegendes Aufschubinteresse, die nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Eilentscheidung einen Erfolg des Rechtsbehelfs, hier die Klage gegen die Bescheide vom 2. August 2021 und 20. August 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. Mai 2022, zumindest überwiegend wahrscheinlich erscheinen lassen. Nicht schon ausreichend ist hingegen, dass im Gerichtsverfahren möglicherweise noch ergänzende Tatsachenfeststellungen zu treffen sind
(LSG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 27. Oktober 2020 – L 7 BA 15/19 B ER – juris, Rn. 54; LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 27. Dezember 2021 – a.a.O., Rn. 33). Damit die in § 86a Abs. 2 Nr. 3 SGG vorgenommene gesetzliche Risikoverteilung geändert werden kann, müssen bereits im Eilverfahren erhebliche Gründe für ein Obsiegen in der Hauptsache sprechen. Allerdings scheidet eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung auch nicht immer aus, wenn solche Gründe und damit ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides nicht festzustellen sind (Binder, a.a.O.). Zu berücksichtigen ist vielmehr auch, welche nachteiligen Folgen dem Antragsteller aus der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts, vor allem für seine grundrechtlich geschützten Rechtspositionen, erwachsen und ob bzw. wie diese ggf. rückgängig gemacht werden können (Beschluss des Senats vom 16. September 2019 – L 4 BA 373/19 ER-B – nicht veröffentlicht). Im Hinblick auf den Anspruch auf effektiven Rechtschutz (Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz <GG>) sind dabei umso geringere Anforderungen an die Erfolgsaussichten des Hauptsacherechtsbehelfs zu stellen, je schwerwiegender und unabänderlicher die dem Betroffenen auferlegte Belastung ist. Im Rahmen der Abwägungsentscheidung ist daher auch dann von einem Überwiegen des privaten Aufschubinteresses auszugehen, wenn die sofortige Vollziehung für den Versicherten eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte (Beschluss des Senats vom 16. September 2019 – a.a.O.; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19. Februar 2021 – L 28 BA 2/21 B ER – juris, Rn. 15).

Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe überwiegt das Anordnungsinteresse des Antragstellers vorliegend nicht das öffentliche Interesse an der Vollziehung der angefochtenen Bescheide. Der Senat hält ein Obsiegen des Antragstellers in der Hauptsache nicht für wahrscheinlicher als sein Unterliegen (dazu unter aa) und sieht auch keine Anhaltspunkte dafür, dass dem Antragsteller durch die Vollziehung der angefochtenen Bescheide eine unbillige Härte drohen könnte (dazu unter bb).

aa) Nach dem gegenwärtigen Sach- und Streitstand spricht bei der im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes allein gebotenen summarischen Prüfung nicht mehr für als gegen einen Erfolg der Klage des Antragstellers. Eine Rechtswidrigkeit der angefochtenen Bescheide ist nach derzeitiger Sachlage nicht überwiegend wahrscheinlich. Der Senat teilt nach eigener Prüfung die vom SG insoweit vertretene Auffassung und nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen auf die zutreffenden Darlegungen in dem angefochtenen Beschluss Bezug (§ 142 Abs. 2 Satz 3 SGG). Das Vorbringen des Antragstellers im Beschwerdeverfahren rechtfertigt keine abweichende Beurteilung. Soweit sich der Antragsteller auf die Beurteilung seines Pflegebedarfs durch seine ihn seit Jahren pflegende Mutter stützt, handelt es sich um laienhafte Bewertungen, die ersichtlich nicht unter Berücksichtigung der „Richtlinien zum Verfahren der Feststellung der Pflegebedürftigkeit sowie zur pflegefachlichen Konkretisierung der Inhalte des Begutachtungsinstruments nach dem Elften Buch des Sozialgesetzbuches (Begutachtungs-Richtlinien – BRi) vom 15. April 2016“, zuletzt geändert durch Beschluss vom 22. März 2021, getroffen wurden. Diese stehen in weiten Teilen nicht mit den Befunden in Einklang, die die Pflegefachkräfte S1 und W1 aufgrund der erfolgten Hausbesuche erhoben und in den Gutachten vom 30. Oktober 2019 bzw. 10. Juni 2021 dokumentierten. Beispielhaft wird insoweit auf die Kriterien in Modul 4 (Selbstversorgung) hingewiesen, die die Mutter mit Ausnahme von drei Kriterien sämtlich mit „unselbständig“ bewertete. Insoweit ist nicht nachvollziehbar, dass der Antragsteller bei den angesprochenen Verrichtungen (u.a. Waschen des vorderen Oberkörpers, Körperpflege im Bereich des Kopfes, Waschen des Intimbereichs, Duschen und Baden einschließlich Waschen der Haare, An- und Auskleiden von Ober- und Unterkörper) selbst bei kleinschrittiger Anleitung in keiner Weise mitzuwirken vermag. Schließlich rechtfertigt auch der anlässlich der stationären Behandlung in der L1-Klinik seitens der behandelnden Ärzte erteilte Hinweis, der Pflegegrad des Antragstellers reiche nicht mehr aus, nicht ohne weiteres die Schlussfolgerung, die angefochtenen Bescheide seien rechtswidrig. Insoweit ist schon nicht erkennbar, inwieweit diesem Hinweis überhaupt eine detaillierte Prüfung und Bewertung der maßgeblichen Kriterien in den Modulen 1 bis 6 unter Berücksichtigung der BRi zugrunde lag oder ob die Einschätzung eher vom Umfang des allgemeinen Betreuungsbedarfs des Antragstellers geprägt war, der für die Einstufung in einen Pflegegrad nicht von maßgeblicher Bedeutung ist. Auch mit dem subjektiven Eindruck des Prozessbevollmächtigten des Antragstellers, vier von fünf Gutachten des MDK hielten einer Überprüfung nicht stand, lässt es im konkreten Einzelfall des Antragstellers nicht begründen, dass ein Erfolg der Klage überwiegend wahrscheinlich ist.


bb) Die sofortige Vollziehung hat vorliegend für den Antragsteller keine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte i.S.d. § 86a Abs. 3 Satz 2 SGG zur Folge. Eine solche liegt vor, wenn dem Betroffenen durch die sofortige Vollziehung Nachteile entstehen, die über die eigentliche Zahlung hinausgehen und nur schwer wiedergutzumachen sind. Solche Nachteile sind nicht ersichtlich und hat der Antragsteller auch nicht geltend gemacht. Insbesondere liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Antragsteller ohne das begehrte höhere Pflegegeld nach Pflegegrad 4 unversorgt bleibt. Die Pflege des Antragstellers ist gesichert und wird fortlaufend im häuslichen Bereich durch die Mutter des Antragstellers erbracht. Kosten zur Sicherung der Pflege hat der Antragsteller nicht vorgetragen und sind auch sonst nicht ersichtlich. Ein etwaiger Wunsch der Eltern des Antragstellers, für erbrachte Unterstützungsleistungen eine höhere Entlohnung in Form eines höheren Pflegegeldes zu erlangen, ist rechtlich ohne Relevanz. Nach Abschluss des Hauptsacheverfahrens S 3 P 924/22 kann im Falle eines Obsiegens des Antragstellers ohne weiteres eine Nachzahlung erfolgen.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 Abs. 1 Satz 1, Abs. 4 SGG.

4. Dieser Beschluss ist mit der Beschwerde nicht anfechtbar (§ 177 SGG).


 

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