1. Die Agentur für Arbeit muss auch dann Leistungen nach § 44a Abs. 1 Satz 7 SGB II erbringen, wenn die widerspruchsberechtigten Träger das Verfahren nach § 44a SGB II nicht pflichtgemäß betreiben.
2. § 44a Abs. 1 Satz 7 SGB II bietet widerspruchsberechtigten Trägern nach § 44a Abs. 1 Satz 2 SGB II keine Handhabe, durch pflichtwidriges Handeln auf nicht absehbare Zeit eine Leistungsverpflichtung der Agentur für Arbeit zu begründen.
3. Die Agentur für Arbeit darf daher einen – aus ihrer Sicht pflichtwidrig handelnden – widerspruchsberechtigten Träger auffordern, binnen einer angemessenen Frist zu erklären, ob er der Einschätzung zur Erwerbsfähigkeit widerspreche, und dies ggf. zu begründen. Kommt der andere Träger dieser Aufforderung nicht nach, berechtigt dies die Agentur für Arbeit nicht zur Leistungsablehnung wegen fehlender Erwerbsfähigkeit. Vielmehr darf sie nun trotz fehlenden ausdrücklichen Widerspruchs oder trotz fehlender Widerspruchsbegründung die gutachterliche Stellungnahme des zuständigen Trägers der Rentenversicherung gemäß § 44a Abs. 1 Satz 4 und 5 SGB II einholen und auf deren Grundlage abschließend über die Erwerbsfähigkeit entscheiden.
hat der 4. Senat des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg am 24. April 2023 durch den Vorsitzenden Richter am Landessozialgericht Seifert, den Richter am Landessozialgericht Bröder und die Richterin am Sozialgericht Hain beschlossen:
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 16. März 2023 wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers auch im Beschwerdeverfahren.
Gründe
Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 16. März 2023 hat keinen Erfolg. Zur Begründung verweist der Senat gemäß § 142 Abs. 2 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf die zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts, die er sich zu eigen macht. Zu Recht ist das Sozialgericht davon ausgegangen, dass der Antragsgegner nicht berechtigt ist, ohne Durchführung des Verfahrens nach § 44a Abs. 1 bis 2 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) von einer Erwerbsunfähigkeit des Antragstellers auszugehen und deshalb Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende abzulehnen. Ein Anordnungsgrund ist glaubhaft gemacht, weil nach den Angaben des Antragstellers und den Ermittlungen des Antragsgegners nicht erkennbar ist, dass ersterer über berücksichtigungsfähiges, bedarfsdeckendes Einkommen oder Vermögen verfügt.
Ergänzend sei auf Folgendes hingewiesen:
Nach der ratio legis von § 44a Abs. 1 bis 2 SGB II ist die Agentur für Arbeit, wenn sie Erwerbsunfähigkeit von Arbeitsuchenden annimmt – ob die im vorliegenden Fall erfolgte Zuerkennung von Pflegegrad 4 hierfür ein geeigneter Maßstab ist, sei dahingestellt –, verpflichtet, solange gemäß § 44a Abs. 1 Satz 7 SGB II Leistungen nach dem SGB II zu erbringen, bis ein anderer Leistungsträger seine Zuständigkeit anerkannt hat oder die Agentur für Arbeit auf der Grundlage der sie und alle weiteren gesetzlichen Leistungsträger nach den SGB II, III, V, VI und XII bindenden gutachterlichen Stellungnahme des zuständigen Trägers der Rentenversicherung über den Widerspruch nach § 44a Abs. 1 Sätze 2 ff. SGB II entschieden hat. Die Regelungen der § 44a Abs. 1 bis 2 SGB II sollen – auch aus verfassungsrechtlichen Gründen (Art. 1, Art. 20 Grundgesetz) – verhindern, dass sich der Streit über die Erwerbsfähigkeit von Hilfebedürftigen für diese so auswirken, dass sie weder von den Leistungsträgern des SGB II noch denen des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch (SGB XII) Leistungen erhalten. Denn erwerbsfähige Hilfebedürftige fallen in die Zuständigkeit des SGB II, nicht erwerbsfähige in die des SGB XII. Damit Hilfebedürftige, bildlich gesprochen, nicht "zwischen zwei Stühlen sitzen", darf die in § 44a Abs. 1 Satz 7 SGB II angeordnete Erbringung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende durch die Agentur für Arbeit nicht erst einsetzen, wenn zwischen den Leistungsträgern des SGB II und des SGB XII tatsächlich Streit über das Vorliegen von Erwerbsfähigkeit besteht. Vielmehr muss § 44a Abs. 1 Satz 7 SGB II auch für den Fall gelten, dass die betroffenen Leistungsträger des SGB II und des SGB XII das Verfahren nach § 44a Abs. 1 bis 2 SGB II bzw. § 45 SGB XII nicht ordnungsgemäß betreiben. Wie bei der Nahtlosigkeitsregelung gemäß § 125 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) erwächst dies aus der Pflicht zur engen Zusammenarbeit beider Leistungsträger (§ 86 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – SGB X); dadurch wird die Rechtsposition des Leistungsempfängers angemessen geschützt. Hilfebedürftige sind auf diese Weise nicht nur bei einem schon bestehenden Streit zwischen den Leistungsträgern bis zu einer Entscheidung der Einigungsstelle nach deren Anrufung, sondern bereits im Vorfeld so zu stellen, als wären sie erwerbsfähig (vgl. BSG, Urteil vom 7. November 2006 – B 7b AS 10/06 R –, Rn. 20; Blüggel, in: Eicher/Luik/Harich, SGB II, 5.A., § 44a Rn. 2, 19, 62, 66; Brems, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5.A., § 44a Rn. 80 ff; Blüggel, SGb 2011, 9 (15 ff.)); jeweils m.w.N.). Ist die Agentur für Arbeit aber somit auch bei unzureichender Zusammenarbeit oder bei nicht ausdrücklich erklärtem oder trotz Aufforderung nicht begründetem Widerspruch des Leistungsträger nach dem SGB XII zur Leistung nach § 44a Abs. 1 Satz 7 SGB II verpflichtet, ist sie in diesen Fällen auch zur Einholung einer gutachterlichen Stellungnahme des zuständigen Träger der Rentenversicherung berechtigt. Andernfalls böte § 44a Abs. 1 Satz 7 SGB II pflichtwidrig handelnden Leistungsträgern nach dem SGB XII eine Handhabe, auf nicht absehbare Zeit eine Leistungsverpflichtung der Agentur für Arbeit zu begründen.
Der Antragsgegner kann daher den – aus seiner Sicht pflichtwidrig handelnden, weil das Verfahren verzögernden – beigeladenen Sozialhilfeträger auffordern, binnen einer angemessenen Frist zu erklären, ob er der Einschätzung zur Erwerbsfähigkeit widerspreche, und dies ggf. zu begründen (vgl. Blüggel a.a.O.; Brems a.a.O.). Kommt der Beigeladene dem nicht nach, berechtigt dies den Antragsgegner indes nicht, nunmehr Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende wegen fehlender Erwerbsfähigkeit abzulehnen (a.A. möglicherweise Blüggel, a.a.O.; Brems, a.a.O.); denn auch dann befänden sich Hilfsbedürftige „zwischen den Stühlen“ und blieben – ausschließlich wegen einer Verletzung des Zusammenarbeitsgebots nach § 86 SGB X – trotz Bedürftigkeit – ohne Leistungen. Allerdings darf der Antragsgegner, wenn der Beigeladene auf die o.g. Aufforderung nicht reagiert, trotz fehlenden ausdrücklichen Widerspruchs und/oder trotz ggf. fehlender Widerspruchsbegründung die gutachterliche Stellungnahme des zuständigen Trägers der Rentenversicherung gemäß § 44a Abs. 1 Satz 4 und 5 SGB II einholen und auf deren Grundlage abschließend über die Erwerbsfähigkeit des Antragstellers entscheiden.
Diese Entscheidung kann gem. § 177 SGG nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht angefochten werden.