L 29 AS 320/23 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
29
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 213 AS 1028/23 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 29 AS 320/23 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 27. März 2023 zum vorläufigen Rechtsschutz aufgehoben und die aufschiebende Wirkung der beim Sozialgericht Berlin zum gerichtlichen Aktenzeichen S 213 AS 1232/23 anhängigen Klage des Antragstellers gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 26. Januar 2023 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6. März 2023 angeordnet.

 

 

Der Antragsgegner erstattet dem Antragsteller dessen notwendige außergerichtliche Kosten des gesamten Verfahrens.

 

Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seiner Verfahrensbevollmächtigten bewilligt.

 

 

 

Gründe

 

Die Beschwerde gegen den o.g. Beschluss des Sozialgerichts Berlin (SG) ist zulässig und begründet. Das SG hat den gemäß 86b Abs. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaften und auch im Übrigen zulässigen, auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG i.V.m. § 39 Nr. 1 1. Alt. Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) sofort vollziehbaren Aufhebungsbescheid des Antragsgegners vom 26. Januar 2023 gerichteten (Haupt-) Antrag zu Unrecht abgelehnt. Denn anders, als das SG im angefochtenen Beschluss meint, überwiegt im Hinblick auf die Erfolgsaussichten in der Hauptsache das Aussetzungsinteresse des Antragstellers das Vollziehungsinteresse des Antragsgegners. Der angefochtene Bescheid erweist sich nach der im vorliegenden auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gerichteten Verfahren gebotenen und auch nur möglichen überschlägigen Prüfung als offensichtlich rechtswidrig. Die Voraussetzungen der einzig für die getroffene Aufhebungsentscheidung des Antragsgegners einschlägigen Ermächtigungsgrundlage aus § 40 Abs. 1 S. 1 SGB II i.V.m. § 48 Abs. 1 S. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) liegen nicht vor, wonach, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung – hier der Bescheid über die Bewilligung von Grundsicherungsleistungen für die Zeit von Juni 2022 bis Mai 2023 - vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben ist. Dies ist nicht der Fall. Bei summarischer Prüfung ist keine wesentliche Änderung eingetreten, sondern liegen die Leistungsvoraussetzungen für den Bezug von Grundsicherung für Arbeitsuchende gemäß § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II im Fall des Antragstellers nach wie vor vor. Leistungsberechtigt im Sinne der Vorschrift sind Personen, die – wie bei summarischer Prüfung der Antragsteller - 1. das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a noch nicht erreicht haben, 2. erwerbsfähig sind, 3. hilfebedürftig sind und 4. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte). Insbesondere kann dem Antragsteller entgegen der Annahme des SG im angefochtenen Beschluss ein gewöhnlicher Aufenthalt in Deutschland i.S.v. § 7 Abs. 1 Nr. 4 SGB II wohl nicht abgesprochen werden. Den gewöhnlichen Aufenthalt hat gemäß § 30 Abs. 3 S. 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Danach hat der wohl seit September 2014 in Berlin wohnhafte Antragsteller weiterhin seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland. Die nach § 30 Abs. 3 S. 2 SGB I erforderliche Zukunftsoffenheit des hiesigen Aufenthalts kann auch nicht im Hinblick auf die vom Landesamt für Einwanderung mit Bescheid vom 16. Dezember 2022 verfügte Feststellung des Verlusts des Rechts des Antragstellers auf Freizügigkeit in der Bundesrepublik Deutschland verneint werden, weil die gegen diesen Bescheid zum Verwaltungsgericht Berlin (VG) im Verfahren VG 15 K 38/23 erhobene Klage gemäß § 80 Abs. 1 S. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) aufschiebende Wirkung entfaltet, zumal der Gesetzgeber in § 80 Abs. 1 S. 2 VwGO ausdrücklich bestimmt, dass dies auch bei feststellenden Verwaltungsakten gilt. Entgegen der Rechtsansicht des SG im angefochtenen Beschluss wirkt die Verlustfeststellung des Landesamtes für Einwanderung erst ab deren Bestandskraft oder sofortiger Vollziehbarkeit. Da angesichts der innerhalb der gemäß § 74 Abs. 1 S. 2 VwGO einmonatigen Klagefrist zum VG erhobenen Klage noch keine Bestandskraft eingetreten ist und der Bescheid des Landesamtes für Einwanderung weder gemäß § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 bis 3 VwGO von Gesetzes wegen noch gemäß § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO aufgrund einer entsprechenden behördlichen Anordnung sofort vollziehbar ist, fehlt es zur Zeit an dessen innerer Wirksamkeit bzw. Vollziehbarkeit. Soweit das SG zur Untermauerung seiner entgegenstehenden Rechtsauffassung auf den Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts (LSG) vom 8. Juli 2021 – L 6 AS 92/21 B ER – verweist, folgt dem der hier erkennende Senat nicht. Das Schleswig-Holsteinische LSG führt im genannten Beschluss aus, dass bereits die behördliche Verlustfeststellung zur Ausreisepflicht des Ausländers nach § 7 Abs. 1 S. 1 Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) führe und ihre Bestands- oder Rechtskraft dafür nicht erforderlich sei (vgl. Schleswig-Holsteinisches LSG, Beschluss vom 8. Juli 2021 – L 6 AS 92/21 B ER –, zitiert nach juris Rn. 23; so auch LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 19. März 2018 – L 19 AS 133/18 B ER -, zitiert nach juris Rn. 9; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16. März 2020 – L 19 AS 2035/19 B ER –, zitiert nach juris Rn. 49), weil anders als nach § 7 FreizügG/EU in der bis zum 27. August 2007 geltenden Fassung, in der noch die Unanfechtbarkeit für die Ausreisepflicht gefordert worden sei, durch die Streichung dieses Begriffs die Wirksamkeit der Feststellungsentscheidung nach § 7 FreizügG/EU im europarechtlich zulässigen Rahmen habe vorverlagert werden und nicht mehr die Unanfechtbarkeit habe erfordern sollen (vgl. Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht, a.a.O., Rn. 24; so auch LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16. März 2020 – L 19 AS 2035/19 B ER -, zitiert nach juris Rn. 49). Dies überzeugt nicht. Soweit hierfür im vorliegenden Zusammenhang auf die Begründung zur Änderung des § 7 Abs. 1 FreizügG/EU durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007, BT-Drs. 16/5065 S. 211 zu Nummer 8 a. aa., verwiesen wird (vgl. Schleswig-Holsteinisches LSG, a.a.O.; LSG Nordrhein-Westfalen, a.a.O.), bleibt unberücksichtigt, dass der Gesetzgeber ebendort am Ende explizit darauf hinweist, dass die Ausreisepflicht nunmehr sofort durchgesetzt werden kann, es sei denn, es werden Rechtsmittel eingelegt. Die Neuregelung soll sich mithin in einer zeitlichen Vorverlagerung der Ausreisepflicht erschöpfen, solange keine Rechtsbehelfe eingelegt werden. Mithin ist der Gesetzesbegründung ebenso wenig wie dem Gesetzeswortlaut etwas dafür zu entnehmen, dass der Verlustfeststellung Tatbestandswirkung für die (fehlende) Leistungsberechtigung nach § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II schon vor Bestandskraft oder ohne sofortige Vollziehbarkeit zukommen soll. Die Neufassung von § 7 Abs. 1 FreizügG/EU hat vielmehr lediglich zur Folge, dass die Ausreisepflicht nur noch die Wirksamkeit der Feststellung und nicht erst deren Unanfechtbarkeit voraussetzt, was sich in der Tat nur in den Fällen auswirken kann, in denen mangels Widerspruchs oder Klage oder wegen Anordnung der sofortigen Vollziehung keine aufschiebende Wirkung eintritt (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 6. November 2017 – L 8 SO 262/17 B ER –, zitiert nach juris Rn. 29; so im Ergebnis auch etwa LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 28. Mai 2019 – L 8 SO 109/19 B ER –, zitiert nach juris Rn. 9; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 10. Dezember 2018 – L 21 AS 959/18 B ER –, zitiert nach juris Rn. 36).

 

Der Antragsteller ist im Übrigen auch nicht gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen ausgenommen, weil er gemäß § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II seit mindestens fünf Jahren seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat, ohne dass hier – vgl. o. – eine bindende Verlustfeststellung vorliegt.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst.

 

Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beruht auf § 73a Abs. 1 S. 1 SGG i.V.m. §§ 114 Zivilprozessordnung (ZPO).

 

Der Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.

 

Korte                                                             Dauns                                                 Lietzmann

Rechtskraft
Aus
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