Rücknahme eines Antrages nach § 86b SGG vor Zustellung des Beschlusses des Sozialgerichts
Der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 30. Juni 2022 wird aufgehoben.
Dem Kläger wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt St W-N, M , D, beigeordnet.
Außergerichtliche Kosten beider Rechtszüge sind nicht zu erstatten.
Gründe:
I.
Der Antragsteller begehrt die Aufhebung des Beschlusses des Sozialgerichts Berlin (SG) vom 30. Juni 2022, mit welchem das SG seinen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abgelehnt hat.
Der Antragsteller stellte - vertreten durch seinen Prozessbevollmächtigten - am 13. Juni 2022 beim SG einen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes und vorläufige Verpflichtung des Antragsgegners zur Gewährung von Leistungen der Grundsicherung nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) ab dem 1. Juli 2022 in Höhe des Regelsatzes und eines Zuschusses zur Kranken- und Pflegeversicherung. Mit Schreiben vom 15. Juni 2022 teilte der Antragsgegner dem SG das Fehlen von Unterlagen und seine Prüfbereitschaft nach Vorlage derselben mit. Das SG bat den Antragsteller daraufhin mit Schreiben vom 15. Juni 2022 um Mitwirkung und Abgabe einer Erledigungserklärung hinsichtlich des Eilverfahrens, da das Rechtsschutzbedürfnis des Eilverfahrens aufgrund der vom Antragsgegner erklärten Prüfbereitschaft entfallen sei. Mit bei dem SG am 21. Juni 2006 per besonderem elektronischen Anwaltspostfach (beA) eingegangenem Schreiben erklärte der Prozessbevollmächtigte des Antragstellers, die angeforderten Unterlagen würden unverzüglich beim Antragsgegner vorgelegt werden. Eine Prüfung der Erledigung des Eilverfahrens könne erst nach Bewilligung von Prozesskostenhilfe bzw. einem Kostengrundanerkenntnis des Antragsgegners erfolgen. Daraufhin wurde dem Antragsteller durch Beschluss des SG vom 22. Juni 2022 Prozesskostenhilfe für das Verfahren vor dem SG unter Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten bewilligt. Mit Schreiben vom selben Tage teilte das SG diesem mit, es werde nunmehr einer Erledigungserklärung bis zum 24. Juni 2022 entgegengesehen. Durch Bescheid vom 22. Juni 2022 bewilligte der Antragsgegner dem Antragsteller vorläufig Leistungen nach dem SGB XII für den Zeitraum 1. Mai 2022 bis 31. Dezember 2022. Mit Schreiben vom 22. Juni 2022 forderte der Antragsteller den Antragsgegner auf, weitere Unterlagen betreffend seinen Antrag auf Übernahme der Beiträge zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung zu übersenden. Durch gerichtliches Schreiben vom 23. Juni 2022 forderte das SG den Prozessbevollmächtigten des Antragstellers erneut auf, das Eilverfahren innerhalb von zwei Werktagen für erledigt zu erklären. Ausweislich eines handschriftlichen Vermerkes des zuständigen Vorsitzenden des SG habe dieser telefonisch am 29. Juni 2022 die Erledigung angefordert.
Durch Beschluss vom 30. Juni 2022, dem Prozessbevollmächtigten des Antragstellers per elektronischem Rechtsverkehr (ERV) am 8. Juli 2022 zugestellt, wies das SG den Antrag des Antragstellers auf Gewährung vorläufigen Rechtschutzes zurück.
Am 7. Juli 2022 übersandte der Prozessbevollmächtigte per beA ein auf den 28. Juni 2022 datiertes Schreiben an das SG, in welchem er darauf hinwies, dass der Eilantrag bereits am 23. Juni 2022 für erledigt erklärt worden sei. Das Schreiben vom 23. Juni 2022 wurde beigefügt. Darin hatte der Antragsteller das Eilverfahren für erledigt erklärt.
Das vom Prozessbevollmächtigten des Antragstellers zu den Gerichtsakten per ERV übermittelte Empfangsbekenntnis bestätigt den Erhalt des Beschlusses am 8. Juli 2022.
Am 17. Juli 2022 hat der Antragsteller gegen den Beschluss des SG vom 30. Juni 2022 Beschwerde eingelegt und gleichzeitig einen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren gestellt. Der Beschluss des SG sei aufzuheben, da das Eilverfahren zum Zeitpunkt des Beschlusses vom Antragsteller bereits für erledigt erklärt worden sei. Die Erledigungserklärung sei am 23. Juni 2022 dem SG per ERV übermittelt worden und nach Rückmeldung des SG, dass die zugesandten Dokumente nicht lesbar seien, nochmals am 28. Juni 2022. Aus Klarstellungsgründen sei der Beschluss aufzuheben. Zudem seien die Kosten beider Rechtszüge dem Antragsgegner aufzuerlegen.
Der Beschwerdeschrift waren die Prüfprotokolle des elektronischen Postfaches des Prozessbevollmächtigten (beA Nachrichten 155053140 vom 23. Juni 2022 und 156046806 vom 28. Juni 2022) beigefügt. Ausweislich beider Prüfprotokolle konnte der jeweilige Versand nicht bestätigt werden. Die OSCI-Bibliothek konnte die OSCI Nachricht nicht fehlerfrei laden. Hinsichtlich der beigefügten pdf-Dokumente ist ausgeführt, es sei kein Prüfergebnis vorhanden, da keine Signatur gefunden werden konnte.
Der Senat hat das SG um Prüfung des Eingangs der elektronischen Nachrichten im vorliegenden Verfahren gebeten. Das SG hat daraufhin mitgeteilt, im Eureka-Fach sei für den 23. Juni 2022 nur der Eingang des Bescheides des Antragsgegners vermerkt. Für den 28. Juni 2022 seien keine Eingänge vermerkt.
Der Antragsteller meint, auf den Eingang von Schriftsätzen bei dem Kammervorsitzenden des SG komme es nicht an. Die technischen Probleme in der internen Weiterleitung des Gerichts bei elektronischem Zugang von Schreiben seien der Gerichtsbarkeit zuzurechnen.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der den Antragsteller betreffenden Verwaltungsvorgänge des Antragsgegners verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der Beratung und Entscheidung des Senates geworden sind.
II.
Die zulässige Beschwerde ist begründet. Der Beschluss des Sozialgerichts war aufzuheben. Er ist nichtig und damit wirkungslos. Einer Sachentscheidung des SG über den Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes stand die Erledigungserklärung des Antragstellers vom 7. Juli 2022 entgegen.
Dass der Antragsteller die Rücknahme seines Antrages auf Erlass einer einstweiligen Verfügung bereits am 23. Juni 2022 oder am 28. Juni 2022 erklärt hat, lässt sich nicht feststellen. Ein Zugang dieses Schreibens beim SG vor dem 7. Juli 2022 lässt sich dem Akteninhalt nicht entnehmen. Prüfvermerke über den elektronischen Eingang beim SG liegen nicht vor. Den vom Prozessbevollmächtigten des Antragstellers übersandten Prüfprotokollen vom 23. Juni 2022 und vom 28. Juni 2022 ist zu entnehmen, dass die Nachrichten nicht fehlerfrei geladen werden konnten. Hinsichtlich der angehängten pdf-Dokumente ist ein Prüfergebnis nicht vorhanden. Ein Zugang beim SG ist deshalb nicht nachgewiesen.
Eine Rücknahme des Antrages durch den Antragsteller erfolgte aber jedenfalls am 7. Juli 2022 (und damit noch vor Zustellung des Beschlusses vom 30. Juni 2022 beim Bevollmächtigten des Antragstellers am 8. Juli 2022). Eine Antragsrücknahme muss – ebenso wie die Klagerücknahme – nicht ausdrücklich erklärt werden, sondern kann auch konkludent erfolgen, zum Beispiel durch eine Beschränkung des Klageantrages (vgl. Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 21. Februar 1969 – 3 RK 99/65 – SozR Nr. 10 zu § 102 SGG juris Rdnr. 15; Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/ Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 102 Rn. 7b, m. w. N.). Bei verständiger Würdigung des Vorbringens des Prozessbevollmächtigten des Antragstellers (vgl. § 123 SGG) in dessen beim SG am 7. Juli 2022 eingegangenem Schreiben vom 28. Juni 2022, in welchem er auf sein Schreiben vom 23. Juni 2022 Bezug genommen hat, ergibt sich, dass der Antragsteller jedenfalls mit diesem Schreiben das Verfahren für erledigt erklären wollte, soweit dieses nicht bereits erledigt war. Es war bei Auslegung seines tatsächlichen Willens (entsprechend §§ 133, 157 Bürgerliches Gesetzbuch) eindeutig, dass er an der Fortführung des Verfahrens kein Interesse mehr hatte. Denn im Schriftsatz vom 28. Juni 2022 hatte er ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der Eilantrag bereits am 23. Juni 2022 für erledigt erklärt worden sei.
Im gerichtskostenfreien Verfahren nach § 183 SGG ist eine Erledigungserklärung des Klägers/Antragstellers als Klage-/Antragsrücknahme zu behandeln (Schmidt, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Auflage 2020, § 102 Rn. 3; Keller, ebd., § 125 Rn. 10). Die Anhängigkeit des Antrages beim SG hat damit geendet, der Beschluss des SG vom 30. Juni 2022 wurde wirkungslos (vgl. zur Wirkungslosigkeit einer bereits ergangenen, aber zum Zeitpunkt der Rücknahme noch nicht rechtskräftigen Entscheidung gem. § 202 Satz 1 SGG iVm § 269 Abs. 3 S. 1 ZPO: BSG, Urteil vom 1. Juli 2010 – B 13 R 58/09, juris). Es war nur noch über die Kosten des Rechtsstreits zu entscheiden (vgl. Schmidt, in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Auflage 2020, § 102 Rn. 9).
Gegen einen wirkungskosen Beschluss ist grundsätzlich das Rechtsmittel eröffnet, das gegen einen fehlerfreien Beschluss gleichen Inhalts gegeben wäre (vgl. für Urteile Bundesgerichtshof, Beschluss vom 5. Dezember 2005 – II ZB 2/05, NJW-RR 2006, S. 565). Auf diese Weise kann der Rechtsschein beseitigt und der ansonsten drohende Eintritt der formellen Rechtskraft verhindert werden. Aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit ist der Beschluss vom 30. Juni 2022 im Beschwerdeverfahren aufzuheben.
Dem Kläger war Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren zu bewilligen. Die Rechtsverfolgung hat aus den oben dargelegten Gründen hinreichende Aussicht auf Erfolg (§ 73a Abs. 1 SGG iVm §§ 114 ff. ZPO).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 Satz 1, 3 SGG. Dem Antragsgegner waren keine Kosten aufzuerlegen. Der Antragsteller hat bereits keinen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Soweit er auf den fehlenden Zuschuss zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung verwiesen hat, ist nicht erkennbar, dass im streitgegenständlichen Zeitraum sein Versicherungsschutz geruht hat. Der Antragsteller hat auch nicht glaubhaft gemacht, dass er nicht über die zur Deckung seines Lebensbedarfes notwendigen Mittel verfügt bzw. dass ihm der Verlust der von ihm bewohnten Unterkunft droht. Auszüge seines Girokontos sind nur bis 31. Mai 2022 aktenkundig. Von welchen Mitteln er seinen Umzug von Bochum nach Berlin bewerkstelligt hat und von welchen Mitteln er seit seinem Umzug nach Berlin am 20. April 2022 bis zum 23. Juni 2022 seinen Lebensunterhalt bestritten hat, ist unklar.
Die Tatsache, dass das Sozialgericht mit Beschluss vom 30. Juni 2022 den Antragsgegner verpflichtet hat, dem Antragsteller die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten, bindet den Senat nicht. Das Verbot der reformatio in peius gilt nicht für Kostenentscheidungen (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 123 Rn. 5, 193 Rn. 2a).
Eine entsprechende Anwendung des § 21 Gerichtskostengesetz (GKG) kommt nicht in Betracht, denn eine unrichtige Sachbehandlung durch das SG liegt nicht vor. Zum Zeitpunkt des Beschlussfassung durch das SG lag die Erledigungserklärung des Antragstellers noch nicht vor.
Dieser Beschluss ist gem. § 177 SGG unanfechtbar.
Dr. Dewitz Heinrich-Reichow Müller