L 2 R 319/22

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Sachgebiet
Rentenversicherung
1. Instanz
SG Braunschweig (NSB)
Aktenzeichen
S 13 R 404/19
Datum
2. Instanz
LSG Niedersachsen-Bremen
Aktenzeichen
L 2 R 319/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Auch bei Vorlage einer eine frühere Geburt zum Ausdruck bringenden Urkunde, deren Original vor der erstmaligen Angabe des Geburtsdatums im Sinne von § 33a Abs. 2 SGB I ausgestellt worden ist, trägt der Versicherte die materielle Beweislast für die geltend gemachte Geburt zu einem früheren Zeitpunkt.

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 29. September 2022 aufgehoben.

 

Die Klage wird abgewiesen.

 

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

 

Tatbestand

Die Beklagte wendet sich mit ihrer Berufung gegen die erstinstanzlich ausgesprochene Verpflichtung zur Vergabe einer neuen Versicherungsnummer (VNr) für den Kläger.

 

Der Kläger ist in der Türkei geboren. Er siedelte im April 1979 (vgl. Bescheid vom 28. Januar 2019, Bl. 36 f. VV sowie Lebenslauf, Bl. 107 GA) in das Bundesgebiet über. Seinerzeit verfügte er über türkische Ausweisdokumente, denen zufolge er am 5. März 1961 geboren war. Auf dieser Grundlage wurde ihm am 3. Juli 1979 die Versicherungsnummer 29 050361D 023 erteilt.

 

Mit Beschluss vom 9. Januar 1995 (Bl. 45 f.) wies das Amtsgericht K. auf Antrag des Klägers das Standesamt an, im neu anzulegenden Familienbuch als Geburtsdatum des Klägers den 25. November 1957 auszuweisen (eine vergleichbare Anordnung erging zugleich bezüglich des Geburtsdatums der Ehefrau). Die gerichtliche Anhörung habe die Gewissheit einer unzutreffenden Erfassung des Geburtsdatums des Klägers in den vorgelegten Urkunden ergeben. Aufgrund der „überzeugenden Erklärungen“ der Eheleute sei deren Unrichtigkeit festzustellen, zumal eine unzureichende Sorgfalt bei der Führung der standesamtlichen Register im türkischen Herkunftsgebiet des Klägers gerichtsbekannt sei.

 

Im Zuge eines Kontoklärungsverfahrens wies sich der inzwischen eingebürgerte Kläger im Juli 2018 mit einem deutschen Personalausweis aus, welcher das Geburtsdatum 25. November 1957 festhielt.

 

Die Beklagte forderte ihn daraufhin im August 2018 zur Vorlage eines Auszuges aus dem Einwohnerbuch des türkischen Standesamtes auf. Der Kläger legte daraufhin eine (ausweislich der Übersetzung, Bl. 29 VV, von einem „Kreis National Erziehungsdirektor“ unterzeichnete) Schulbescheinigung vom 18. Oktober 2018 vor, ausweislich derer eine Überprüfung „unserer offiziellen Registratur“ ergeben habe, dass L., (Vorname des Vaters: M.; Vorname der Mutter: N.; türkische Personalnummer 23312430952) mit dem Geburtsdatum 5. März 1961 erfasst sei und im Schuljahr 1963/64 die erste Klasse der Grundschule O. P. besucht und im Schuljahr 1966/67 von der 4. in die 5. Klasse versetzt worden sei. Der Kläger legte ferner einen Auszug aus dem Einwohnerbuch des türkischen Standesamtes vor (Bl. 28 VV), welcher ebenfalls das Geburtsdatum 5. März 1961 auswies (vgl. auch den Auszug aus dem türkischen Personenstandsregister, Bl. 55 VV, ausweislich dessen der Kläger bei der Registrierung am 28. März 1967 mit einem Geburtsdatum vom 5. März 1961 erfasst worden ist).

 

Mit Anwaltsschreiben vom 4. Dezember 2018 teilte der Kläger mit, dass ein Nachweis über das tatsächliche Geburtsdatum mit Hilfe einer eidesstattlichen Versicherung der Mutter geführt werden könne. Um Vergabe einer entsprechend geänderten Versicherungsnummer werde gebeten.

 

Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 28. Januar 2019 mit der Begründung ab, dass kein den Anforderungen des § 33a SGB I genügender Nachweis eines früheren Geburtsdatums durch vor dem Tag der Vergabe der ersten Versicherungsnummer ausgestellte Urkunden geführt worden sei.

 

Mit seinem Widerspruch legte der Kläger einen Auszug aus dem Schülerverzeichnis der O. P. Schule für das Schuljahr 1965/66 vor, in dem er unter der laufenden Nr. 17 als Schüler mit einem Alter von 9 Jahren erfasst worden sei (Bl. 51 VV, vgl. auch das Verzeichnis für das Schuljahr 1964/65, in dem der Kläger im Alter von 8 Jahren erfasst ist, Bl. 49 VV). Nach diesen Auszügen war auch der nach den amtlichen Unterlagen am 1. Januar 1956 geborene Bruder Q. (im deutschen Sprachgebrauch: R.) des Klägers Schüler der Klasse.

 

Den Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Bescheid vom 18. September 2019 zurück. Sowohl die Schulbescheinigung als auch der Auszug aus dem türkischen Einwohnerbuch würden das in der Versicherungsnummer ausgewiesene Geburtsdatum bestätigen. Relevanz könnten nach § 33a SGB I zum Nachweis eines anderen Geburtsdatums ohnehin nur vor der erstmaligen Vergabe der Versicherungsnummer ausgestellte Urkunden erlangen.

 

Mit der am 16. Oktober 2019 erhobenen Klage hat der Kläger geltend gemacht, dass auch der Auszug aus dem Schülerverzeichnis der Grundschule für das Schuljahr 1964/65 eine zum Nachweis des früheren Geburtsdatums berücksichtigungsfähige Urkunde im Sinne des § 33a SGB I darstelle.

 

Der Kläger hat im Klageverfahren einen Auszug aus dem Schülerverzeichnis der O. P. Schule der Klasse 3a für das Schuljahr 1965/66 vorgelegt, in dem er unter der laufenden Nr. 17 als Schüler mit einem Alter von 9 Jahren erfasst worden sei (vgl. Bl. 19 sowie die vorgelegte Übersetzung ins Deutsche, Bl. 20 GA).

 

Der Kläger hat dargelegt, dass ihm „als Zehnjähriger“ ein erstes Personaldokument vom türkischen Standesamt mit dem „falschen Geburtsdatum“ 5. März 1961 ausgehändigt worden sei (Bl. 42 GA). Die „Eintragung des falschen Geburtsdatums“ habe sich „schlicht daraus“ ergeben, dass zur damaligen Zeit in der Türkei standesamtliche Vorgänge nicht mit der notwendigen Sorgfalt bearbeitet worden seien.

 

Er sei am 15. April 1979 als Asylbewerber in das Bundesgebiet eingereist, da er einer christlichen Minderheit angehöre und Sorge vor religiöser Verfolgung gehabt habe. Allerdings hat der Kläger diesbezüglich bei seiner informatorischen Befragung in der mündlichen Verhandlung erläutert, dass er nicht zunächst ein Asylverfahren habe durchlaufen müsse, sondern sogleich nach der Einreise in das Bundesgebiet über eine Arbeitserlaubnis verfügt habe.

 

Erst nach dem Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit sei eine Reise in die Türkei zur Ausstellung eines neuen Ausweisdokuments (mit zutreffendem Ausweis des Geburtsdatums) in Betracht gekommen (Bl. 43 GA).

 

Die Beklagte hat geltend gemacht, dass aus ihrer Sicht schon keine Identität zwischen der in der Klassenliste ausgewiesenen Person und dem Kläger nachgewiesen sei.

 

Mit Urteil vom 29. September 2022, der Beklagten zugestellt am 2. November 2022, hat das Sozialgericht der Klage unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide stattgegeben und die Beklagte verpflichtet, die bisherige Versicherungsnummer des Klägers zu sperren und ihm eine neue Versicherungsnummer unter Berücksichtigung des Geburtsjahres 1957 (bei unbekanntem genauen Geburtsmonat und –tag) zu vergeben. Das Schülerverzeichnis stelle eine zum Nachweis eines abweichenden Geburtsdatums im Sinne von § 33a SGB I geeignete Urkunde dar. Aus Sicht des Gerichts bestünden angesichts der Ausweisung auch des Namens des Vaters in dem Verzeichnis keine Zweifel an der Identität zwischen dem dort angegebenen Schüler und dem Kläger. Aus dieser Urkunde lasse sich schließen, dass der Kläger bereits 1957 geboren sein müsse.

 

Mit ihrer am 1. Dezember 2022 eingelegten Berufung rügt die Beklagte, dass keine tragfähige Grundlage für die Feststellung eines früheren Geburtsdatums ersichtlich sei. Das Schülerverzeichnis selbst weise als Geburtsdatum den 5. März 1961 aus. Ohnehin sei nicht zu erkennen, dass bei der Schule eine sorgfältige Registrierung und Bestimmung des Geburtsdatums erfolgt sei.

 

Die Beklagte beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts vom 29. September 2022 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

 

Der Kläger beantragt,

 

            die Berufung zurückzuweisen.

 

Auf Aufforderung des Senates zur Vorlage eines „detaillierten Lebenslaufs“ hat der Kläger mit Schriftsatz vom 6. März 2023 zunächst einen Lebenslauf vorgelegt, der sich bezogen auf den Zeitraum vor der Einreise in das Bundesgebiet mit folgenden Angaben begnügt hat (vgl. Bl. 107 GA):

 

            „1963 – 1968 Grundschule in S. (T.) Türkei

            1973                Schneiderausbildung in U. Türkei“

 

Nachdem die Beklagte die unzureichenden Angaben insbesondere für die Jahre in der Türkei nach 1973 gerügt hatte, hat der Kläger mit Schriftsatz vom 28. März 2023 seine entsprechenden Angaben wie folgt gefasst (Bl. 177 GA):

 

            „1963 – 1968 Grundschule in S. (T.) Türkei

1968 – 1973   Unterstützung bei der familiären Bewirtschaftung des eigenen Hofes (Äcker pflügen/ernten, Schafe hüten) in T. Türkei

            1973 – 1975    Schneiderausbildung in U. Türkei

1975 – 1979   tätig als Schneider (übernommen vom Ausbildungsbetrieb) U. /Türkei“

 

Der Kläger hat die Geburtsdaten seiner sechs Geschwister mitgeteilt (Bl. 107 GA).

 

Er habe keine Zeiten in der türkischen Sozialversicherung zurückgelegt. Es gebe keine türkische Urkunde über die am 2. Januar 1979 im türkischen T. geschlossene Ehe mit seiner Ehefrau. Wehrdienst habe er in der Türkei nicht abgeleistet.

 

Da er bei der Einreise in das Bundesgebiet „auf der Flucht“ gewesen sei, habe er keine weiteren Dokumente als den Personalausweis mitgeführt.

 

Die standesamtliche Erfassung von Geburten beim türkischen Standesamt in V. sei in seiner Kindheit nur unregelmäßig „alle paar Jahre“ auf der Basis von Angaben des Dorfvorstehers erfolgt. Dabei sei es zur fehlerhaften Erfassung des Geburtsdatums gekommen.

 

Der Senat hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung informatorisch gehört, insoweit wird auf das Sitzungsprotokoll verwiesen.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet. Das zur Überprüfung gestellte Urteil ist unter Abweisung der Klage aufzuheben, da der Kläger keinen Anspruch auf die Vergabe einer anderen Versicherungsnummer hat.

 

Der Anspruch auf Vergabe bzw Neuvergabe (Berichtigung) einer VNr richtet sich nach § 147 und § 152 Nr 3 SGB VI iVm § 3 VKVV. Nach § 147 Abs. 1 SGB VI kann der Träger der Rentenversicherung für Personen eine VNr vergeben, wenn dies zur personenbezogenen Zuordnung der Daten für die Erfüllung einer gesetzlichen Aufgabe nach diesem Gesetzbuch erforderlich oder dies durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes bestimmt ist. Für die nach diesem Buche versicherten Personen hat er eine VNr zu vergeben. Nach § 147 Abs. 2 SGB VI setzt sich die VNr einer Person aus der Bereichsnummer des die VNr vergebenden Trägers der Rentenversicherung, dem Geburtsdatum, dem Anfangsbuchstaben des Geburtsnamens, der Seriennummer, die auch eine Aussage über das Geschlecht einer Person enthalten darf, und der Prüfziffer zusammen (vgl. dazu und zum Folgenden: BSG, U.v. 5. April 2001 – B 13 RJ 35/00 R –, BSGE 88, 89).

 

Nach § 33a Abs. 1 SGB I ist, soweit Rechte oder Pflichten davon abhängig sind, dass eine bestimmte Altersgrenze erreicht oder nicht überschritten ist, das Geburtsdatum maßgebend, das sich aus der ersten Angabe des Berechtigten oder Verpflichteten oder seiner Angehörigen gegenüber einem Sozialleistungsträger oder, soweit es sich um eine Angabe im Rahmen des Dritten oder Sechsten Abschnitts des Vierten Buches Sozialgesetzbuch handelt, gegenüber dem Arbeitgeber ergibt. Von einem nach Abs. 1 maßgebenden Geburtsdatum darf gemäß Abs. 2 nur abgewichen werden, wenn der zuständige Leistungsträger feststellt, dass (1.) ein Schreibfehler vorliegt oder (2.) sich aus einer Urkunde, deren Original vor dem Zeitpunkt der Angabe nach Abs. 1 ausgestellt worden ist, ein anderes Geburtsdatum ergibt. Die Abs. 1 und 2 gelten gemäß Abs. 3 auch für Geburtsdaten, die Bestandteil der VNr oder eines anderen in den Sozialleistungsbereichen des Sozialgesetzbuches (SGB) verwendeten Kennzeichens sind, entsprechend.

 

Mit dem Wort "darf" wird dem Leistungsträger kein Ermessensspielraum eingeräumt; es hat vielmehr den Sinn einer Ermächtigung und Befugnis (BSG, Urteil vom 5. April 2001 – B 13 RJ 35/00 R –, BSGE 88, 89, Rn. 27).

 

Diese Vorschrift enthält insbesondere keine Beschränkung auf eine Berücksichtigung nur bestimmter Arten von Urkunden, so dass sich der Urkundenbegriff des § 33a Abs. 2 Nr 2 SGB I nach den allgemeinen Bestimmungen richten muss. Danach sind Urkunden alle durch Niederschrift verkörperten Gedankenerklärungen, die geeignet sind, im Rechtsverkehr Beweis zu erbringen (vgl BGHZ 65, 300, 301 ff). Dass nur Urkunden zu berücksichtigen sind, deren Original vor der ersten Angabe des Versicherten im Sinne von § 33a Abs. 1 SGB I ausgestellt worden ist, bedeutet nicht, dass das Original der Urkunde vorliegen muss. Gerade Urkunden, die von einer öffentlichen Behörde innerhalb der Grenzen ihrer Amtsbefugnisse oder von einer mit öffentlichem Glauben versehenen Person innerhalb ihres Geschäftskreises in der vorgeschriebenen Form aufgenommen worden sind (öffentliche Urkunde iS von § 415 Abs. 1 der Zivilprozessordnung <ZPO>), befinden sich häufig in amtlicher Verwahrung. Ausschlaggebend ist, ob zur vollen Überzeugung des Gerichts festgestellt werden kann, dass eine Urkunde, deren Original vor dem Zeitpunkt der ersten Angabe iS des § 33a Abs. 1 SGB I ausgestellt worden ist, ein anderes Geburtsdatum ergibt. Daher kann für die Überzeugungsbildung des Gerichts auch eine Kopie von Bedeutung sein, unabhängig davon, wann diese ausgestellt worden ist (BSG, aaO, Rn. 24).

 

Im vorliegenden Fall sind jedoch die in Kopie vorgelegten Unterlagen aus türkischen Schülerverzeichnissen nicht geeignet, zur vollen Überzeugung des Senates die Feststellung eines anderen als des in der bislang vergebenen Versicherungsnummer mit dem 5. März 1961 ausgewiesenen Geburtsdatums zu treffen. Dies wirkt zu Lasten des die materielle Beweislast tragenden Klägers aus.

 

Bei der ersten Angabe des Klägers gegenüber einem Sozialleistungsträger nach der Einreise in das Bundesgebiet hat dieser selbst das Geburtsdatum 5. März 1961 angegeben; diesbezüglich ist auch kein Schreibfehler im Sinne des § 33a Abs. 2 Nr. 1 SGB I unterlaufen.

 

Der Senat kann natürlich nicht ausschließen, dass bei der Erfassung des Geburtsdatums des Klägers in der Türkei ein Fehler unterlaufen ist und dass dieser tatsächlich bereits im Jahr 1957 geboren sein könnte. Es verbleiben aber ernsthafte Zweifel, ob nicht doch der Kläger tatsächlich erst später und namentlich erst im Jahr 1961 geboren worden ist. Damit kommt ein Erfolg der Klage nicht in Betracht.

 

Ungeachtet aller Hinweise für Defizite hinsichtlich der Verlässlichkeit des standesamtlichen Datenbestandes insbesondere in ländlichen Teilen der Türkei in früheren Jahrzehnten kann dies natürlich schon im Ausgangspunkt nicht zur Folge, dass generell von der Unrichtigkeit der von den türkischen Behörden erfassten Daten auszugehen sein sollte oder gar pauschal den eigenen Angaben des Betroffenen ein größerer Grad an Verlässlichkeit zuzusprechen wäre als den amtlichen Dokumentationen (vgl. auch zur europarechtlichen Verpflichtung zur Beachtung der von den zuständigen Behörden der anderen Mitgliedstaaten ausgestellten Urkunden und ähnlichen Schriftstücke über den Personenstand, sofern deren Richtigkeit nicht durch konkrete, auf den jeweiligen Einzelfall bezogene Anhaltspunkte ernstlich in Frage gestellt ist: EuGH, Urteil vom 2. Dezember 1997 – C-336/94 –, juris). Es bedarf einer sorgfältigen Prüfung und Abwägung im jeweiligen Einzelfall, wobei die materielle Beweislast für ein früheres als das in den standesamtlichen Unterlagen des Heimatstaates dokumentierte Geburtsdatum der Versicherte zu tragen hat.

 

Soweit das BSG in diesem Zusammenhang darauf abstellt, dass ein wesentlicher Grund für die „weithin unpräzisen Registereintragungen in der Türkei“ die unvermittelte und kulturell nicht nachvollzogene Einführung des Schweizer Zivilgesetzbuches im Jahre 1926 gewesen sein dürfte (BSG, U.v. 5. April 2001 – B 13 RJ 35/00 R –, BSGE 88, 89, Rn. 30), ist festzuhalten, dass diese Einführung im Zeitpunkt der Registrierung des Klägers im türkischen Personenstandsregister am 28. März 1967 (vgl. den Auszug Bl. 54 VV und die Übersetzung Bl. 55 VV) bereits rund 40 Jahre zurücklag. Ohnehin wäre auf der Basis weithin unpräziser Registereintragungen natürlich auch die Verlässlichkeit von Schulregistereintragungen kritisch zu hinterfragen, zumal gerade auch unter Zugrundelegung des eigenen Vortrages des Klägers nicht erkennbar ist, dass den Lehrern in der Schule bei der Einschulung verlässliche Unterlagen zur exakten Erfassung des Geburtsdatums der Schüler zur Verfügung standen.

 

Der Kläger gibt an, dass er in der Türkei im Alter von zehn Jahren (auf der Basis seines Vortrages also im Jahr 1967/68) erstmals ein das Geburtsjahr 1961 ausweisendes Ausweisdokument erhalten habe. Danach hätten die türkischen Behörden einem Zehnjährigen einen Ausweis ausgestellt, wonach er erst 6 Jahre alt sei. Eine solche Diskrepanz ist so auffällig, dass im allgemeinen eine zeitnahe Berichtigung zu erwarten gewesen wäre. Entsprechendes gilt für die Folgezeit: 1973 ist der Kläger nach eigenen Angaben nach von seinem Heimatort nach U. übergesiedelt. Seinerzeit müsste er sich – als (auf der Basis seiner Angaben) tatsächlich etwa 16jähriger – mit Papieren ausgewiesen haben, wonach er erst 12 Jahre alt war. Auch damals wäre eine entsprechende Diskrepanz bei lebensnaher Betrachtung noch so auffällig gewesen, dass der Sache voraussichtlich nachgegangenen worden wäre. Natürlich lassen sich auch außergewöhnlich Abläufe vorstellen, bei denen dies etwa niemandem aufgefallen sein sollte – solche Eventualitäten müssen aber nicht richtungweisend für die richterliche Überzeugungsbildung sein.

 

Soweit Unterlagen aus türkischen Schülerverzeichnissen der Schuljahre 1964/65 und 1965/1966 vorgelegt worden sind, weisen diese in der Tat ein Schüler aus, dessen Name mit dem Namen des Klägers übereinstimmt und bei dem ein Name des Vaters (M. W.) vermerkt ist, der mit dem Namen des Vaters des Klägers übereinstimmt.

 

Allerdings macht der Kläger selbst geltend (wie er insbesondere auch bereits 1994/1995 in dem damaligen Verfahren beim Amtsgericht Braunschweig geltend gemacht hat), dass er tatsächlich am 25. November 1957 geboren sei. Hiervon ausgehend wäre er im Schuljahr 1965/66, welches seinerzeit in der Türkei von Sommer 1965 bis Sommer 1966 dauerte, zu keinem Zeitpunkt 9 Jahre alt gewesen. Der vorgelegte Auszug aus dem Schülerverzeichnis der O. P. Schule der Klasse 3a für das Schuljahr 1965/66 weist aber unter der laufenden Nr. 17 einen Schüler mit dem Namen des Klägers und einem Alter von 9 Jahren aus (vgl. Bl. 19 sowie die vorgelegte Übersetzung ins Deutsche, Bl. 20 GA).

 

Das vom Kläger angeführte Geburtsdatum 25. November 1957 passt auch nicht zu seiner Darstellung in der mündlichen Verhandlung, wonach er bei der Schulentlassung im Sommer 1968 11 Jahre alt gewesen sein will. Ausgehend von dem selbst geltend gemachten Geburtsdatum wäre der Kläger seinerzeit erst zehn Jahre alt gewesen. Diese Diskrepanz wäre auch dann zu bestätigen, wenn das Geburtsdatum vielleicht nicht exakt zutreffen sollte, der Kläger aber jedenfalls – wie er in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat – im „Spätherbst 1957“ geboren worden sein sollte.

 

Entsprechende Diskrepanzen zeigen sich auch im Hinblick auf die Einschulung. Diese soll im Sommer 1963 im Alter von sechs Jahren erfolgt sein. Ausgehend von einer Geburt im Spätherbst 1957 war der Kläger aber im Sommer 1963 noch gar nicht sechs Jahre alt. Weshalb man ihn dann gleichwohl zeitgleich mit seinem deutlich älteren Bruder eingeschult haben sollte, erschließt sich nicht.

 

Die aufgezeigten Widersprüche lassen sich auch nicht einleuchtend dahingehend auflösen, dass der Kläger bereits im Spätherbst 1956 geboren worden sein könnte. Dafür fehlt eine verlässliche Erkenntnisgrundlage. Abgesehen davon, dass der Kläger selbst eine Geburt erst im Spätherbst 1957 geltend macht, erscheint eine Geburt bereits im Jahr 1956 auch vor dem Hintergrund wenig naheliegend, dass in demselben Jahr bereits sein Bruder Q. (im deutschen Sprachgebrauch: R.) geboren worden ist (wobei gerade auf der Grundlage der vom Kläger geltend gemachten Unzulänglichkeiten der Datenerfassungen in den türkischen Standesämtern jedenfalls offen bleiben muss, ob das für den Bruder amtlich erfasste Geburtsdatum 1. Januar 1956 taggenau verlässlich registriert worden ist oder der Sache letztlich nur eine Geburt im Laufe des Jahres 1956 zum Ausdruck bringen sollte).

 

Darüber hinaus gibt es inhaltliche Widersprüche zwischen den vorgelegten Auszügen aus den damaligen Schülerverzeichnissen und anderen Unterlagen in den türkischen Schulregistern. Ausweislich der vom Kläger beigebrachten „Schulungsbescheinigung“ des Kreiserziehungsdirektors vom 18. Oktober 2018 ist er in der dort in Bezug genommenen „offiziellen Registratur“ durchaus mit dem Geburtsdatum 5. März 1961 erfasst, er soll allerdings – was natürlich inhaltlich nicht damit in Einklang zu bringen ist – gleichwohl im Schuljahr 1963/64 die 1. Klasse besucht und „im“ (gemeint wohl: nach dem) Schuljahr 1966/67 von der 4. in die 5. Klasse versetzt worden sein. Dem Senat steht keine belastbare Erkenntnisgrundlage zur Verfügung, um diese inhaltlichen Widersprüche verlässlich auflösen zu können.

 

In der Gesamtbewertung ist überdies zu berücksichtigen, dass ausgehend von dem Vortrag des Klägers dieser die Türkei erst im Alter von etwa 22 Jahren verlassen hat. Gleichwohl vermag der Kläger keinerlei Unterlagen aus dem seinerzeit in der Türkei geführten Leben vorzulegen. Es kann weder Schulzeugnisse noch ein Lehrzeugnis vorlegen, obwohl er in der Türkei eine Schneiderlehre durchlaufen haben will. Er hat keine Beitragszeiten in der türkischen Rentenversicherung zurückgelegt, obwohl er vor der Ausreise in der Türkei mehrere Jahre lang gearbeitet haben will. Das gänzliche Fehlen von Unterlagen aus den damaligen Jahren kann nicht allein mit der geltend gemachten Ausreise unter Verfolgungsgesichtspunkten erklärt werden. Selbst wenn der Kläger bei dieser nur in begrenztem Rahmen Unterlagen hätte mitführen wollen, hätte er sich entsprechende Dokumente nachfolgend problemlos auf dem Postweg nachsenden oder bei Reisen von Familienangehörigen mitbringen lassen können, zumal jedenfalls ein Großteil der Brüder des Klägers seit Längerem im Bundesgebiet beheimatet ist (vgl. nur die Ausweiskopien Bl. 108 GA).

 

Selbstverständlich kann das gänzliche Fehlen entsprechender Unterlagen auch mit einer Verkettung unglücklicher Umstände erklärt werden. Eine entsprechende bloße Möglichkeit bedeutet aber in diesem Zusammenhang nicht, dass von einem entsprechenden die richterliche Überzeugungsbildung tragenden Nachweis auszugehen ist.

 

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), sind nicht gegeben.

Rechtskraft
Aus
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