L 2 SF 5/23 B (R)

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
LSG Niedersachsen-Bremen
1. Instanz
SG Hildesheim (NSB)
Aktenzeichen
S 41 R 275/20
Datum
2. Instanz
LSG Niedersachsen-Bremen
Aktenzeichen
L 2 SF 5/23 B (R)
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

Soweit das Gericht selbst für Unklarheiten hinsichtlich des Fortbestehens der Pflicht zur Wahrnehmung eines Zeugenvernehmungstermins verantwortlich ist, verstößt die Verhängung eines Ordnungsgeldes gegen das Gebot eines fairen Verfahrens.

Auf die Beschwerde der Zeugin wird der Beschluss des Sozialgerichts Hildesheim vom 11. April 2023 aufgehoben.

 

Die Staatskasse trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Beschwerdeführerin aus dem Beschwerdeverfahren.

 

 

 

 

G R Ü N D E:

I.

 

Die Beschwerdeführerin ist Psychologin. Nachdem die einen Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente geltend machende Klägerin des Ausgangsverfahrens dem Sozialgericht mitgeteilt hatte, dass sie sich bei der Beschwerdeführerin in Behandlung befunden habe, wobei es „einige Sitzungen“ gegeben habe, forderte das Sozialgericht die Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 2. August 2022 zur Vorlage eines Befundberichts auf. Hieran erinnerte das Sozialgericht mit Schreiben vom 27. September 2022.

 

Daraufhin schilderte die Beschwerdeführerin in einem dreiseitigen Bericht vom 20. Oktober 2022, wonach sie insbesondere die Klägerin „bis Juli 2019“ bei Bedarf „im Rahmen von Krisensituationen“ behandelt habe (Bl. 118 ff. GA).

 

Mit Schreiben vom 29. November 2022 bedankte sich das Sozialgericht für diese Antwort, bat jedoch zugleich darum, „das übersandte Befundberichtsformular (nochmals beigefügt) ausgefüllt zurückzusenden und darüber hinaus mitzuteilen, zu welchen konkreten Zeitpunkten sich die Klägerin bei Ihnen in Behandlung befunden hat“.

 

Mit Schreiben vom 24. Januar 2023 bat das Sozialgericht noch einmal „eindringlich um Mitwirkung“; für den „Eingang Ihres Berichtes“ sei nunmehr der 21. Februar 2023 als Frist notiert worden.

 

Nachfolgend hat das Sozialgericht die Beschwerdeführerin zur Zeugenvernehmung für den 3. April 2023 geladen.

 

Die Ladung enthielt auf richterliche Anordnung den Zusatz: „Die Ladung kann aufgehoben werden, wenn der vom Gericht mit Schreiben vom 29. November 2022 angeforderte schriftliche Befundbericht (nochmals beigefügt) vor dem Termin beim Gericht eingegangen ist.“

 

Daraufhin übersandte die Zeugin dem Sozialgericht mit Schreiben vom 21. März 2023 (bei Gericht eingegangen am 27. März 2023) erneut ihren dreiseitigen Behandlungsbericht vom 20. Oktober 2022 und teilte ergänzend mit, dass zu der Klägerin kein Kontakt mehr bestehe, daher sei eine aktuelle Einschätzung der Situation nicht möglich.

 

Das Sozialgericht hat dieses Schreiben unbeantwortet gelassen.

Die Zeugin ist zum Vernehmungstermin am 3. April 2023 nicht erschienen. Daraufhin hat das Sozialgericht mit Beschluss vom 11. April 2023 gegen die Beschwerdeführerin wegen des unentschuldigten Ausbleibens im Vernehmungstermin ein Ordnungsgeld in Höhe von 300 €, ersatzweise drei Tage Ordnungshaft, festgesetzt.

 

Gegen diesen Beschluss richtet sich die Beschwerde der Zeugin vom 21. April 2023. Die Zeugin macht insbesondere geltend, dass bei anderen gerichtlichen Nachfragen die Beantwortung im Rahmen eines frei formulierten Berichts wie sie ihn auch im vorliegenden Fall unter dem Datum vom 20. Oktober 2022 übersandt habe, ausgereicht habe.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten Bezug genommen.

 

II.

 

Der zur Überprüfung gestellte Ordnungsgeldbeschluss ist rechtswidrig. Er missachtet den Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit und die Gebote eines fairen Verfahrens, da das Gericht selbst durch eine unklare Ausgestaltung seiner Anfragen und Ladungen maßgeblich zum Nichterscheinen der Zeugin beitragen hat.

 

Einem ordnungsgemäß geladenen Zeugen, der nicht erscheint, werden, ohne dass es eines Antrages bedarf, nach § 118 Abs. 1 SGG i.V.m. § 380 ZPO die durch das Ausbleiben verursachten Kosten auferlegt. Zugleich wird gegen ihn ein Ordnungsgeld und für den Fall, dass dieses nicht beigetrieben werden kann, Ordnungshaft festgesetzt. Eine entsprechende Sanktionierung des Ausbleibens darf jedoch nur unter Beachtung des Verfassungsgrundsatzes der Verhältnismäßigkeit und der Gebote eines fairen Verfahrens erfolgen.

 

Aus dem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip wird als "allgemeines Prozessgrundrecht" der Anspruch auf ein faires Verfahren abgeleitet. Die Gerichte müssen das Verfahren so gestalten, wie die Beteiligten es von ihnen erwarten dürfen: Sie dürfen sich nicht widersprüchlich verhalten und aus eigenen oder ihnen zuzurechnenden Fehlern oder Versäumnissen keine Verfahrensnachteile ableiten (BVerfG, B.v. 26. April 1988 – 1 BvR 669/87 –, BVerfGE 78, 123, Rn. 7f.  mwN).

 

Aus Ausfluss dieses Gebotes des fairen Verfahrens haben die Gerichte Fürsorgepflichten gegenüber den Beteiligten wahrzunehmen (BVerfG, B.v. 20. Juni 1995 – 1 BvR 166/93 – BVerfGE 93, 99, Rn. 46). Diese Fürsorgepflicht erstreckt sich auch auf Zeugen (BGH, Urteil vom 16. Juni 1983 – 2 StR 4/83 –, Rn. 22, juris; BGH, Beschluss vom 10. Januar 2012 – StB 20/11 –, Rn. 9, juris). Im sachlich angemessenen Umfang sind die Gerichte aufgrund der Fürsorgepflichten auch gehalten, den Beteiligten unterlaufene Fehler auszugleichen (BGH, B.v. 17. Juni 2009 – XII ZB 75/07 –, Rn. 18, juris).

 

Hieran anknüpfend ist in der Rechtsprechung namentlich anerkannt, dass eine Wiedereinsetzung auch unabhängig vom Verschulden des Beteiligten zu gewähren ist, wenn dies wegen einer Verletzung der prozessualen Fürsorgepflicht des Gerichts geboten ist. In solchen Fällen tritt ein in der eigenen Sphäre des Beteiligten liegendes Verschulden hinter das staatliche Verschulden zurück (BSG, B.v. 9. Mai 2018 – B 12 KR 26/18 B –, SozR 4-1500 § 65a Nr 4, SozR 4-1500 § 67 Nr 13, Rn. 10). Entsprechend diesen Grundsätzen und unter Einbeziehung des Verfassungsgrundsatzes der Verhältnismäßigkeit hat ein eigenes Verschulden auf Seiten einer Zeugin zurückzutreten, wenn das vernehmende Gericht selbst maßgeblich dazu beitragen hat, dass Unklarheiten über die fortbestehende Pflicht zur Wahrnehmung eines zunächst anberaumten Vernehmungstermins entstanden sind.

 

Im vorliegenden Fall hat die Zeugin auf Aufforderung des Sozialgerichts durchaus an der Aufklärung des Sachverhalts nachhaltig mitgewirkt, indem sie in ihrem einem dreiseitigen Bericht vom 20. Oktober 2022 die seinerzeit bereits mehrere Jahre zurückliegende „bis Juli 2019“ durchgeführte Behandlung der Klägerin geschildert hat. Selbstverständlich hätte das Sozialgericht daran anknüpfend konkrete Nachfragen stellen können, soweit aus seiner Sicht noch weiterer Aufklärungsbedarf hinsichtlich einzelner (dann möglichst konkret aufzuzeigender Punkte) bestanden hat. Es erschließt sich schon nicht, weshalb das Sozialgericht ungeachtet der ihm vorliegenden dreiseitigen Schilderung der Zeugin an Stelle konkreter Nachfragen lediglich erneut ein Befundberichtsformular an die Zeugin gerichtet hat.

 

Nur ergänzend sei angemerkt, dass sich den Akten nicht entnehmen lässt, welches konkrete Formular an die Zeugin übersandt worden ist; jedenfalls viele in der niedersächsischen Sozialgerichtsbarkeit gebräuchlichen Anforderungsformulare sind auf ärztliche Befundberichte ausgerichtet und passen daher nur bedingt für Anfragen an Psychologen. Erforderlich ist ohnehin nur eine inhaltliche (konkret nachvollziehbare) Beantwortung der gerichtlichen Nachfragen in der Sache.

 

Unklar blieb auch, wie genau die Zeugin angesichts des bereits mit den wesentlichen Behandlungsdaten übermittelten Berichts den Zusatz auf der Nachfrage verstehen sollte, dass sie mitzuteilen habe, zu welchen konkreten Zeitpunkten sich die Klägerin bei ihr in Behandlung befunden habe. Was genau das Sozialgericht damit erfragen wollte, ob es etwa aus seiner Sicht auf die genauen Daten der (ohnehin schon mehrere Jahre zurückliegenden) Konsultationen der Zeugin durch die Klägerin ankam, erschließt sich nicht anhand der gerichtlichen Nachfrage.

 

Jedenfalls enthielt die nachfolgend an die Zeugin gerichtete Vernehmungsladung auf richterliche Anordnung den Zusatz: „Die Ladung kann aufgehoben werden, wenn der vom Gericht mit Schreiben vom 29. November 2022 angeforderte schriftliche Befundbericht (nochmals beigefügt) vor dem Termin beim Gericht eingegangen ist.“

 

Aus der Sicht der rechtsunkundigen Zeugin konnte (und sollte) diese Formulierung dahingehend verstanden werden, dass sie mit einer schriftlichen Äußerung „vor dem Termin“ die für sie mit deutlichem Aufwand verbundene Vernehmung vermeiden konnte. Es war auch für das Sozialgericht augenscheinlich, dass die Zeugin mit ihrer erneuten schriftlichen Einlassung vom 21. März 2023 entsprechend der vom Gericht selbst in Aussicht gestellten Möglichkeit die Notwendigkeit einer persönlichen Einvernahme abwenden wollte.

 

Bei dieser Ausgangslage hätte ein faires Verfahren unter angemessener Berücksichtigung auch der Interessen der rechtsunkundigen Zeugin erfordert, dass das Sozialgericht diese darüber in Kenntnis gesetzt hätte, wenn es an dem anberaumten Vernehmungstermin festhalten wollte. Dafür bestand bei Eingang der schriftlichen Äußerung am 27. März 2023, und damit eine Woche vor dem anberaumten Vernehmungstermin auch ausreichend Zeit, zumal auf dem Schreiben vom 21. März 2023 auch die Telefonnummer der Zeugin vermerkt war.

 

Die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Beschwerdeführerin sind entsprechend § 193 SGG auf die Staatskasse zu übernehmen (vgl. Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 17. August 2020 – L 14 AS 870/20 B –, Rn. 24, juris).

 

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).

Rechtskraft
Aus
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