L 9 SO 429/21

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
9
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 43 SO 298/20
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 9 SO 429/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung der Klägerin wird Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 06.10.2021 geändert.

Der Bescheid vom 19.10.2017 wird geändert. Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin von Juli 2017 bis einschließlich Oktober 2017 weitere Kosten der Unterkunft in Höhe von monatlich 89,86 € und im November und Dezember 2017 iHv jeweils 95,86 € zu bewilligen.

Die Beklagte hat der Klägerin in beiden Instanzen die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

 

Die Klägerin begehrt die vollständige Übernahme von Unterkunftskosten für ihre Wohnung von Juli 2017 bis Dezember 2017.

 

Die 1951 in Georgien geborene Klägerin ist im Jahr 2009 gemeinsam mit ihrem Ehemann nach Deutschland gekommen. Die Kinder sind nicht eingereist, der Ehemann ist im Jahr 2013 verstorben. Die Klägerin lebt jetzt allein in der Wohnung C.-Straße 7 in E. Diese hat eine Wohnfläche von ca. 66 qm und befindet sich im zweiten Obergeschoss, es müssen ca. 35 Stufen überwunden werden, ein Aufzug ist nicht vorhanden. Die Grundmiete belief sich ab dem 01.11.2015 auf 322,62 € und der Abschlag für die Betriebskosten (ohne Heizkosten) auf 156 € (insgesamt 478,62 €). Über anzurechnendes Einkommen und Vermögen verfügt die Klägerin nicht. Die Beklagte bewilligte ihr zur Sicherung des Lebensunterhaltes seit dem Jahr 2012 Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB XII.

 

Die Klägerin leidet ua an einer Herzerkrankung nach mehreren überstandenen Herzinfarkten, Arthrose und einer depressiven Episode. Sie ist schwerbehindert mit einem GdB von 70 und dem Merkzeichen G. Am 17.12.2015 führte eine Pflegefachkraft der Beklagten einen Hausbesuch bei der Klägerin durch. Ihr wurde eine Wohnung im Erdgeschoss oder mit Aufzug empfohlen, eine größere Wohnfläche als 50 qm sei nicht erforderlich. Bei einem Umzug benötige die Klägerin umfassende Fremdhilfe, es sei allerdings fraglich, ob sie aufgrund der Sprachbarriere eigenständig in der Lage sei, sich um entsprechenden Wohnraum zu bemühen.

 

Mit Schreiben vom 07.01.2016 forderte die Beklagte die Klägerin zur Kostensenkung auf. Die angemessenen Unterkunftskosten für einen Ein-Personen-Haushalt in E beliefen sich auf 352,50 € (50 qm x 7,05 €), weshalb die tatsächlichen Kosten iHv 478,62 € nur noch für sechs Monate übernommen werden könnten. Innerhalb dieser Frist seien die Kosten auf den angemessenen Betrag zu senken.

 

Die Klägerin teilte der Beklagten am 09.05.2016 mit, sie habe bei der Wohnungssuche bislang nur Absagen erhalten. Sie fügte eine Bescheinigung ihres Vermieters bei, wonach er ihr keine Wohnung mit einer Bruttokaltmiete von 352,20 € anbieten könne, sowie Ausdrucke aus dem Internet mit Wohnungsangeboten.

 

Mit Bescheid vom 20.10.2016 bewilligte die Beklagte der Klägerin ab November 2016 nur noch Unterkunftskosten iHv 342,50 €. Die Klägerin legte gegen den Bescheid am 17.11.2016 Widerspruch ein. Die Unterkunftskosten seien vollständig zu übernehmen, da keine Kostensenkungsaufforderung erfolgt sei, die Beklagte nicht über ein schlüssiges Konzept verfüge und ihr aus gesundheitlichen Gründen ein Umzug nicht zugemutet werden könne.

 

Mit Bescheid vom 20.01.2017 bewilligte die Beklagte die Grundsicherung für den Zeitraum Februar 2017 bis Dezember 2017. Unterkunftskosten wurden wiederum iHv 342,50 € bewilligt. Die Klägerin legte gegen den Bescheid am 13.02.2017 Widerspruch ein.

 

Am 17.02.2017 wurde die Klägerin vom MDK begutachtet. Da sie nur wenig deutsch spricht, wurden ihre Antworten von der Mitarbeiterin des Pflegedienstes übersetzt. Sie gab an, sie könne nur schlecht gehen und nicht lange stehen. Sie verlasse das Haus nur für Arztbesuche und werde dann von einer Mitarbeiterin des Pflegedienstes begleitet. Der Pflegedienst erledige auch alle Amts- und Bankgeschäfte sowie den Schriftverkehr. Als ihr Ehemann 2013verstarb, habe sie Depressionen bekommen. Vom Sozialamt sei sie aufgefordert worden, sich eine andere Wohnung zu suchen, das belaste sie zusätzlich. Sie finde keine andere Wohnung und könne den Umzug nicht bewältigen. Das Gutachten gelangt zu dem Ergebnis, bei der Klägerin bestehe lediglich ein geringer Hilfebedarf bei der Selbstversorgung, bei der Fortbewegung im außerhäuslichen Bereich und bei der Haushaltsführung. Ein Pflegegrad könne daher nicht anerkannt werden. Beim Umgang mit Finanz- und Behördenangelegenheiten sowie beim Verlassen der Wohnung sei sie jedoch überwiegend unselbständig. Die Beklagte bewilligte der Klägerin auf dieser Grundlage Hilfe zur Weiterführung des Haushaltes nach § 70 SGB XII in Form der Kostenübernahme für die hauswirtschaftliche Versorgung durch einen Pflegedienst.

 

Der Vermieter erhöhte die Grundmiete zum 01.04.2017 auf 329,86 €, die Gesamtkosten erhöhten sich dadurch auf 485,86 €. Der Abschlag für die Betriebskosten wurde zum 01.11.2017 auf 162 € angepasst, die Gesamtmiete belief sich dann auf 491,86 €.

 

Den Widersprüchen der Klägerin vom 17.11.2016 und 13.02.2017 half die Beklagte mit Bescheid vom 01.03.2017 insoweit ab, als bei der Kaltmiete 262 € berücksichtigt wurden. Insgesamt bestehe ein Anspruch auf Unterkunftskosten iHv 352,50 €. Die weitergehenden Widersprüche wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 06.04.2017, zugegangen am 11.04.2017, zurück. Sie habe die angemessenen Unterkunftskosten mit Hilfe eines beauftragten Instituts (Empirica) ermittelt. Die Klägerin sei am 07.01.2016 zur Kostensenkung aufgefordert worden. Die gesundheitlichen Einschränkungen stünden einem Umzug nicht entgegen, zumal ihr bei der Durchführung Hilfestellungen bewilligt werden könnten.

 

Die Klägerin hat am 10.05.2017 Klage erhoben. Die Unterkunftskosten seien vollständig zu übernehmen, da die Beklagte nicht über ein schlüssiges Konzept verfüge und der Klägerin aus gesundheitlichen Gründen ein Umzug nicht zugemutet werden könne.

 

Mit Änderungsbescheid vom 19.10.2017 hat die Beklagte rückwirkend ab dem 01.07.2017 Unterkunftskosten iHv 396 € (300 € Kaltmiete und 96 € Betriebskosten) anerkannt. Dieser Betrag beruht auf einer Analyse des örtlichen Wohnungsmarktes, die von der Fa. Empirica erstellt worden ist. Für den Zeitraum November 2016 bis Juni 2017 hat sich die Beklagte bereit erklärt, Unterkunftskosten entsprechend dem Wert aus der Tabelle in § 12 WoGG zzgl. 10% iHv 429 € monatlich zu bewilligen. Die weitergehenden Unterkunftskosten hat die Klägerin selbst getragen.

 

Die Klägerin hat beantragt,

 

die Bescheide der Beklagten vom 20.01.2017 sowie vom 21.06., 20.07. und 19.10.2017 sämtliche in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.04.2017 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab Juli 2017 bis einschließlich Dezember 2017 weitere Kosten der Unterkunft in Höhe von monatlich 89,85 € und ab November 2017 iHv 95,86 € zu gewähren.

 

Die Beklagte hat beantragt,

 

die Klage abzuweisen.

 

Die Beklagte ist davon ausgegangen, dass sie ab Juli 2017 über ein schlüssiges Konzept zur Ermittlung der angemessenen Unterkunftskosten verfügt. Unter Vorlage einer amtsärztlichen Stellungnahme vom 26.10.2018 hat sie mitgeteilt, es seien keine Gründe ersichtlich, die aus medizinischer Sicht einen Umzug als nicht zumutbar erscheinen lassen. Jedoch benötige die Klägerin Hilfe bei der Wohnungssuche und bei der Durchführung eines Umzugs.

 

Das Sozialgericht hat Berichte u.a. zur Umzugsfähigkeit der Klägerin von den behandelnden Ärzten X., Dr. P. und J. eingeholt. Einen vor dem Sozialgericht geschlossenen Widerrufsvergleich hat die Beklagte innerhalb der Widerrufsfrist widerrufen (Widerrufsfrist 2 Wochen, Zustellung des Vergleichsprotokolls 09.08.2019; Widerruf 21.08.2019).

 

Mit Urteil vom 06.10.2021, der Klägerin zugestellt am 05.11.2021, hat das Sozialgericht die Klage unter Zulassung der Berufung abgewiesen. Die Klägerin habe keinen weitergehenden Anspruch auf Kosten der Unterkunft. Die angemessene Nettokaltmiete von 300 € sei auf der Grundlage eines schlüssigen Konzepts ermittelt worden. Auch gegen die Ermittlung der angemessenen kalten Betriebskosten iHv 96 € bestünden keine Bedenken, da sie auf der Grundlage des Betriebskostenspiegels NRW ermittelt worden seien. Die bewilligten Unterkunftskosten seien auch konkret angemessen, da der Klägerin ein Umzug in andere Wohnung möglich und zumutbar sei. Sie habe nicht nachgewiesen, dass es ihr nicht möglich sei, eine angemessene Wohnung zu finden. Sie sei mit Schreiben vom 07.01.2016 zur Kostensenkung aufgefordert und ausreichend über ihre Obliegenheiten informiert worden. Gesundheitliche Gründe stünden einem Umzug nicht entgegen.

 

Die Klägerin hat am 09.11.2021 Berufung eingelegt. Sie bezieht sich auf ihr bisheriges Vorbringen und trägt ergänzend vor, sie sei zu keinem Zeitpunkt zutreffend über die Unangemessenheit der Kosten der Unterkunft belehrt worden.

 

Die Klägerin beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 06.10.2021 zu ändern, den Bescheid vom 19.10.2017 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, ihr von Juli 2017 bis einschließlich Oktober 2017 weitere Kosten der Unterkunft in Höhe von monatlich 89,86 € und im November und Dezember 2017 iHv jeweils 95,86 € zu bewilligen.

 

Die Beklagte beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Die Beklagte hält das Urteil des Sozialgerichts für zutreffend. Ein Anspruch auf weitergehende Unterkunftskosten bestehe nicht.

 

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten, die vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind.

 

Entscheidungsgründe

 

I. Die vom Sozialgericht zugelassene Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhoben worden (§§ 151 Abs. 1, 64 Abs. 2 SGG).

 

II. Die Berufung ist begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Unrecht abgewiesen. Die Klägerin hat Anspruch auf weitere Unterkunftskosten von Juli 2017 bis einschließlich Oktober 2017 iHv monatlich 89,86 € und im November 2017 und Dezember 2017 iHv jeweils 95,86 €.

 

1. Streitgegenstand des Verfahrens ist nur noch der Änderungsbescheid vom 19.10.2017, mit dem die Beklagte rückwirkend ab dem 01.07.2017 Unterkunftskosten iHv 396 € (300 € Kaltmiete und 96 € Betriebskosten) bewilligt hat. Ergeht während des Klageverfahrens ein Änderungsbescheid, der gem. § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens wird und die ursprüngliche Regelung vollständig ersetzt (§ 39 Abs. 2 SGB X), so ist nur noch dieser Änderungsbescheid Klagegegenstand (BSG Urteil vom 29.04.2015 – B 14 AS 8/14 R). Die Klägerin hat den streitigen Zeitraum auf Juli 2017 bis Dezember 2017 und die Leistungen auf solche für Unterkunft und Heizung beschränkt. Bei diesen handelt es sich um abtrennbare selbstständige Ansprüche (BSG Urteil vom 14.04.2011 – B 8 SO 18/09 R). Die Klägerin macht ihren Anspruch zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG) geltend.

2. Die Klägerin erfüllte im streitigen Zeitraum die Voraussetzungen des § 41 Abs. 1 und 2 SGB XII. Sie hatte ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland, konnte ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus Einkommen und Vermögen nach § 43 SGB XII bestreiten und hat die Altersgrenze überschritten. Die Leistungen der Grundsicherung umfassen gem. § 42 Nr. 4a SGB XII iVm § 42a SGB XII die Bedarfe für Unterkunft und Heizung. Die Regelungen in § 42a Abs. 3 bis 5 SGB XII aF sind hier nicht einschlägig, so dass gem. § 42a Abs. 1 SGB XII aF die Vorschriften des Vierten Abschnitts des Dritten Kapitels (§§ 35 ff) anzuwenden sind.

3. Die Klägerin hat Anspruch auf Übernahme der tatsächlichen Unterkunftskosten im streitigen Zeitraum.

Die Bedarfe für Unterkunft und Heizung werden in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht, soweit diese angemessen sind (§ 35 SGB XII). Zur Berechnung dieser Bedarfe sind die tatsächlichen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung, deren Angemessenheit und ihre Verteilung auf die in der Wohnung lebenden Personen zu ermitteln sowie ggf weitere mögliche Einwände zu prüfen (BSG Urteil vom 22.08.2013 – B 14 AS 85/12 R).

Es kann offenbleiben, ob die Angemessenheitswerte der Beklagten auf einem schlüssigen Konzept im Sinne der Rechtsprechung des BSG (vergl. hierzu nur BSG Urteil vom 17.09.2020 – B 4 AS 22/20 R) beruhen. Dafür spricht allerdings, dass auch ein ausschließlich auf Angebotsmieten beruhendes Konzept diese Anforderungen erfüllen kann (BSG Urteil vom 17.09.2020 – B 4 AS 22/20 R; LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 05.12.2019 – L 7 AS 1764/18; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 28.05.2020 – L 6 AS 833/17; LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 26.11.2021 – L 21 AS 1617/18). Im Rahmen der abstrakten Angemessenheit folgt ein Anspruch auf höhere Unterkunftskosten nicht aus dem Umstand, dass die Klägerin auf eine barrierefreie Wohnung angewiesen sein könnte. Bei der Bestimmung der für die abstrakte Angemessenheit maßgeblichen Faktoren (abstrakt angemessener Wohnfläche, maßgeblicher Vergleichsraum und abstrakt angemessener, im Quadratmeterpreis ausgedrückter Wohnungsstandard) sind persönliche Lebensumstände des Hilfebedürftigen, auch wenn sie für bestimmte Personengruppen typisch sein mögen, nicht einzubeziehen (BSG Urteile vom 02.09.2021 – B 8 SO 13/19 R und vom 22.08.2012 – B 14 AS 13/12 R). Es bedarf auch keiner Entscheidung, ob das Schreiben der Beklagten vom 07.01.2016 die Anforderungen an eine Kostensenkungsaufforderung erfüllt. Dafür spricht allerdings, dass es nach der Rechtsprechung des BSG nicht erforderlich ist, dass die tatsächlich angemessenen Aufwendungen angegeben werden (BSG Urteil vom 21.07.2021 – B 14 AS 31/20 R).

Nach § 35 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB XII in der im streitigen Zeitraum gF sind die Aufwendungen für die Unterkunft, die den der Besonderheit des Einzelfalles angemessenen Umfang übersteigen, als Bedarf anzuerkennen, solange es der betroffenen Person nicht möglich oder nicht zuzumuten ist, durch einen Wohnungswechsel, durch Vermieten oder auf andere Weise die Aufwendungen zu senken, in der Regel jedoch längstens für sechs Monate. Die Vorschrift begründet eine Obliegenheit zur Kostensenkung (BSG Urteil vom 27.02.2008 - B 14/7b AS 70/06 R; BSG Urteil vom 19.02.2009 – B 4 AS 30/08 R jeweils zur Parallelvorschrift im SGB II). Es ist in diesem Rahmen zu überprüfen, ob Kostensenkungsmaßnahmen sowohl subjektiv zumutbar als auch objektiv möglich sind (BSG Urteil vom 15.06.2016 – B 4 AS 36/15 R). Dabei können die persönlichen Lebensumstände des Leistungsberechtigten zu erheblich eingeschränkten Obliegenheiten zur Kostensenkung führen (BSG Urteil vom 02.09.2021 – B 8 SO 13/19 R).

 

Die Klägerin trifft ohne entsprechende Unterstützung durch die Beklagte keine Obliegenheit zur Kostensenkung. Bei der Klägerin kommen mehrere Faktoren zusammen, die es ihr im Zusammenspiel unmöglich machen, ohne fremde Hilfe eine andere Wohnung anzumieten. Der Klägerin fehlt es an der notwendigen Geschäftserfahrung und der Fähigkeit, ihre Angelegenheiten im administrativen Bereich selbst zu regeln. Dies ergibt sich aus dem Gutachten des MDK vom 17.02.2017, wonach die Klägerin beim Umgang mit Finanz- und Behördenangelegenheiten überwiegend unselbständig ist. Der Pflegedienst erledigt daher Amts- und Bankgeschäfte sowie den Schriftverkehr. Die Klägerin verfügt nicht über diese Fähigkeiten, da sie erst im fortgeschrittenen Alter nach Deutschland gekommen ist. Unterstützung durch die Familie erhält sie nicht. Darüber hinaus fehlt es der Klägerin an den für die Anmietung einer Wohnung erforderlichen Sprachkenntnissen, auch dies folgt aus dem Gutachten des MDK vom 17.02.2017, sie spricht nur wenig deutsch, weshalb ihre Antworten von der Mitarbeiterin des Pflegedienstes übersetzt wurden. Schließlich ist die Klägerin in ihrer Mobilität eingeschränkt und kann daher selbstständig keine Wohnungsbesichtigungen durchführen. Auch dies ist Voraussetzung, um eine Wohnung anmieten zu können (Urteil des Senates vom 08.09.2022 – L 9 SO 281/21). Die Klägerin kann zwar ihre Wohnung allein verlassen, denn nach ihren Angaben in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht befindet sich auch ein Rollator im Erdgeschoss des Hauses, den sie für Sparziergänge nutzt. Es gelingt ihr jedoch nicht, selbständig weiter entfernte Orte aufzusuchen. Auch dies folgt aus dem Gutachten des MDK vom 17.02.2017, wonach sie beim Verlassen der Wohnung überwiegend unselbständig ist und zB bei Arztbesuchen von einer Mitarbeiterin des Pflegedienstes begleitet wird. Diese verschiedenen Einschränkungen der Klägerin wirken sich in der Summe so aus, dass sie nicht in der Lage ist, eine andere Wohnung zu finden und einen entsprechenden Vertrag abzuschließen. Davon geht letztlich auch die Beklagte aus. Nach dem Hausbesuch vom 17.12.2015 hat der Mitarbeiter der Beklagten ausdrücklich vermerkt, dass es fraglich sei, ob die Klägerin aufgrund der Sprachbarriere eigenständig in der Lage sei, sich um entsprechenden Wohnraum zu bemühen. In der gegenüber dem Sozialgericht abgegebenen amtsärztlichen Stellungnahme vom 26.10.2018 wird ebenfalls die Einschätzung geäußert, dass die Klägerin Hilfe bei der Wohnungssuche benötigt.

In einer solchen Konstellation, in der die Klägerin selbst keine andere Wohnung anmieten kann, sind die Unterkunftskosten zu übernehmen, bis der Betroffene entsprechende Unterstützung bei der Wohnungssuche tatsächlich erhält (Urteil des Senates vom 08.09.2022 – L 9 SO 281/21; Krauß in: Hauck/Noftz SGB II, § 22, Rn. 176). Die Beklagte hätte der Klägerin daher eine Unterstützung bei der Wohnungssuche anbieten müssen. Sie wusste, dass die Klägerin dabei auf Hilfe angewiesen ist, denn ihr waren spätestens aufgrund des Hausbesuches vom 17.12.2015 die fehlenden Deutschkenntnisse und aufgrund des ärztlichen Attestes vom 30.11.2015 auch die zahlreichen Erkrankungen der Klägerin bekannt. Die Unterstützung durch die Beklagte hätte zB in der Vermittlung einer geeigneten und angemessenen Wohnung oder der Bewilligung von Sozialleistungen, mit denen sie entsprechende Dienstleistungen in Anspruch nehmen kann, bestehen können. Die Übernahme von Wohnungsbeschaffungskosten, zB für einen Makler, ist in § 35 Abs. 2 Satz 5 SGB XII ausdrücklich vorgesehen. Darüber hinaus kommen unterstützende Maßnahmen durch den Sozialhilfeträger auf Grundlage von §§ 67, 68 SGB XII (hierzu Urteil des Senates vom 08.09.2022 – L 9 SO 281/21; Krauß in: Hauck/Noftz SGB II, § 22, Rn. 176) in Betracht. Leistungen zur Beschaffung einer Wohnung sind in § 68 Abs. 1 Satz 1 SGB XII ausdrücklich vorgesehen. in Betracht.

 

Soweit die Mitarbeiter des Pflegedienstes der Klägerin in gewissem Umfang bei der Wohnungssuche geholfen haben, zB durch den Ausdruck von Wohnungsanzeigen aus dem Internet, handelt es sich dabei um reine Gefälligkeiten. Denn die Beklagte hat der Klägerin nicht gezielt Leistungen zur Beschaffung einer Wohnung bewilligt, weshalb auch ein evtl. Verschulden von Mitarbeitern des Pflegedienstes bei der Suche nach einer kostenangemessenen Wohnung der Klägerin nicht zugerechnet werden kann (hierzu Urteil des Senates vom 08.09.2022 – L 9 SO 281/21).

4. Dem Anspruch der Klägerin steht nicht entgegen, dass sie die Unterkunftskosten im streitigen Zeitraum aus ihren Regelsätzen bereits vollständig beglichen hat. Nach der Rechtsprechung des BSG steht der Bewilligung von Sozialhilfeleistungen bei einer rechtswidrigen Ablehnung eine zwischenzeitliche Bedarfsdeckung im Wege der Selbsthilfe oder Hilfe Dritter nicht entgegen (BSG Urteil vom 26.10.2017 – B 8 SO 11/16 R mwN; für Eingliederungshilfeleistungen BSG Urteil vom 22.03.2012 – B 8 SO 30/10 R).

 

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

IV. Die Revision war wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).

Rechtskraft
Aus
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