1. Kommt es im Fall behördlicher Aufhebungsentscheidungen auf die subjektive Einsichtsfähigkeit des Bescheidempfängers an, weil das Gesetz zumindest dessen grobe Fahrlässigkeit voraussetzt (vgl. § 45 Abs. 2 Satz 3 Nrn. 2 und 3, § 48 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 2 und 4 SGB X), wird das Gericht regelmäßig einen persönlichen Eindruck von diesem gewinnen müssen, um die subjektiven Aufhebungsvoraussetzungen beurteilen zu können. Auch in einem derartigen Fall lassen sich – wie bei der Erforderlichkeit weiterer Ermittlungsmaßnahmen – Erfolgsaussichten i. S. v. § 114 ZPO zumeist nicht verneinen.
2. Prozesskostenhilfe kann jedenfalls dann nicht mit Verweis auf die Zurechnung des Verhaltens eines Bedarfsgemeinschaftsmitglieds nach den Grundsätzen der Duldungs- oder Anscheinsvollmacht abgelehnt werden, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Prozesskostenhilfe begehrende Person aufgrund von geistigen Beeinträchtigungen nur eingeschränkt sozialrechtlich handlungsfähig ist und den Rechtsschein einer Vollmacht nicht setzen kann.
Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 18. Mai 2023 aufgehoben. Der Klägerin wird für das erstinstanzliche Verfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt H H, , P, beigeordnet.
Außergerichtliche Kosten sind für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Die Beschwerde richtet sich gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe für ein beim Sozialgericht Berlin anhängiges Klageverfahren, in dem sich die Klägerin gegen einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid des Beklagten wendet.
Die 2002 geborene Klägerin lebt zusammen mit ihrer Mutter in einer Wohnung. Am 10. Mai 2021 beantragte die Mutter der Klägerin für sich und die Klägerin die Weiterbewilligung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
Mit Bescheid vom 3. Juni 2021 bewilligte der Beklagte der Klägerin und ihrer Mutter Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 1. Juli 2021 bis zum 30. Juni 2022. Dabei rechnete der Beklagte Kindergeld für die Klägerin als Einkommen an.
Die Familienkasse Berlin Brandenburg hob mit einem an die Mutter der Klägerin adressierten Bescheid vom 1. Juli 2021 die Festsetzung des Kindergeldes für die Klägerin ab August 2021 auf.
Mit Änderungsbescheid vom 12. Juli 2021 bewilligte der Beklagte der Klägerin und ihrer Mutter für die Zeit vom 1. August 2021 bis zum 30. Juni 2022 Leistungen nach dem SGB II ohne Anrechnung von Kindergeld.
Die Bundesagentur für Arbeit bewilligte der Klägerin mit Bescheid vom 17. August 2021 Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben gemäß §§ 112 ff. Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) i.V.m. § 49 und §§ 64 ff. Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) für die Zeit vom 1. September 2021 bis zum 28. Februar 2023.
Ab dem 7. Oktober 2021 zahlte die Familienkasse Kindergeld in Höhe von 219 Euro monatlich auf das Konto der Klägerin.
Am 29. Oktober 2021 informierte die Mutter der Klägerin den Beklagten über eine Betriebskostennachforderung und gestiegene Unterkunftskosten. Über die Zahlung des Kindergeldes wurde der Beklagte nicht informiert.
Der Beklagte bewilligte der Klägerin und ihrer Mutter mit Bescheid vom 1. November 2021 Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 1. Dezember 2021 bis zum 30. Juni 2022 unter Berücksichtigung der veränderten Unterkunftskosten. Kindergeld rechnete der Beklagte weiterhin nicht an.
Am 16. Mai 2022 beantragte die Mutter der Klägerin für sich und die Klägerin erneut Leistungen nach dem SGB II. Sie gab dabei Kindergeld als Einkommen an.
Mit Änderungsbescheid vom 23. Mai 2022 bewilligte der Beklagte der Klägerin und ihrer Mutter Leistungen nach dem SGB II für Juni 2022 unter Berücksichtigung des Kindergeldes.
Mit Bescheid vom 21. November 2022 hob der Beklagte die Entscheidung über die Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II gegenüber der Klägerin für die Monate Oktober und November 2021 ganz in Höhe von jeweils 212,27 Euro und für die Monate Dezember 2021 bis Mai 2022 teilweise in Höhe von jeweils 219 Euro auf. Zugleich forderte der Beklagte die Erstattung von insgesamt 1.738,54 Euro von der Klägerin. Zur Begründung teilte der Beklagte mit, dass die Klägerin Kindergeld erhalten habe, das als Einkommen anzurechnen sei.
Den dagegen erhobenen Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 27. Dezember 2022 zurück. Der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid sei rechtmäßig. Die Klägerin habe es zumindest grob fahrlässig unterlassen, die Kindergeldzahlungen rechtzeitig mitzuteilen.
Am 27. Januar 2023 hat die Klägerin Klage vor dem Sozialgericht Berlin gegen den Bescheid vom 21. November 2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Dezember 2022 erhoben.
Mit Beschluss vom 18. Mai 2023 hat das Sozialgericht den Antrag der Klägerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten abgelehnt und zur Begründung im Wesentlichen mitgeteilt: Die beabsichtigte Rechtsverfolgung sei aussichtslos. Jedenfalls bestünden nur entfernte Erfolgsaussichten. Bezüglich der Monate Oktober und November 2021 schließe § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) Vertrauensschutz aus, weil insoweit allein der Zufluss von Einkommen nach Erlass des Bewilligungsbescheides maßgeblich sei. Hinsichtlich der Monate Dezember 2021 bis Mai 2022 lägen die Voraussetzungen des § 45 SGB X vor. § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 SGB X schließe das Vertrauen in den Bestand der Bewilligungsentscheidung aus. Es könne dahinstehen, ob die Klägerin ihre Mitteilungspflicht hinsichtlich der Kindergeldzahlung gekannt habe. Denn jedenfalls ihre Mutter habe die Mitteilungspflicht gekannt. Zur Überzeugung des Gerichts stehe fest, dass die Mutter der Klägerin jedenfalls grob fahrlässig der ihr obliegenden Mitteilungspflicht nicht nachgekommen sei. Die Kenntnis ihrer Mutter müsse sich die Klägerin nach den Grundsätzen der Duldungs- oder Anscheinsvollmacht zurechnen lassen. Es sei trotz mehrfacher gerichtlicher Aufforderung nicht vorgetragen worden, weshalb eine Mitwirkungspflichtverletzung der Mutter und eine Verschuldenszurechnung ausscheiden sollten.
Mit Schreiben vom 31. Mai 2023 hat die Klägerin Beschwerde gegen den Beschluss vom 18. Mai 2023 erhoben.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den der Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.
II.
Die Beschwerde ist zulässig, insbesondere ist sie statthaft (§ 172 Sozialgerichtsgesetz – SGG) sowie form- und fristgerecht (§ 173 SGG) eingelegt worden. Die Beschwerde ist auch begründet.
Nach § 73a Abs. 1 SGG i.V.m. § 114 Zivilprozessordnung (ZPO) erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Diese Voraussetzungen liegen vor.
Die Klage hat hinreichende Aussicht auf Erfolg.
Bei der Prüfung der hinreichenden Aussicht auf Erfolg im Rahmen der Prozesskostenhilfe erfolgt nur eine vorläufige Prüfung. Dabei ist der verfassungsrechtlich gezogene Rahmen (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz – GG) zu beachten. Deshalb dürfen keine überspannten Anforderungen gestellt werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16. April 2019, 1 BvR 2111/17, zitiert nach juris, Rn. 22). Die Prüfung der Erfolgsaussicht soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das Nebenverfahren der Prozesskostenhilfe vorzuverlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Im Hinblick auf die fehlende Aussicht einer Klage auf Erfolg darf Prozesskostenhilfe nur verweigert werden, wenn ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine entfernte ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13. Juli 2005, 1 BvR 175/05, zitiert nach juris, Rn. 10; BVerfG, Beschluss vom 20. Mai 2022, 2 BvR 1982/20, zitiert nach juris, Rn. 46).
Erfolgsaussichten bestehen vor allem dann, wenn weitere Ermittlungen durchzuführen sind, um die streiterhebliche Frage abschließend beurteilen zu können, oder wenn um klärungsbedürftige schwierige Rechtsfragen gestritten wird (vgl. Gall in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, § 73a SGG, Stand: 15. Juni 2022, Rn. 44). Kommt es im Fall behördlicher Aufhebungsentscheidungen auf die subjektive Einsichtsfähigkeit des Bescheidempfängers an, weil das Gesetz zumindest dessen grobe Fahrlässigkeit voraussetzt (vgl. § 45 Abs. 2 Satz 3 Nrn. 2 und 3, § 48 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 2 und 4 SGB X), wird das Gericht regelmäßig einen persönlichen Eindruck von diesem gewinnen müssen, um die subjektiven Aufhebungsvoraussetzungen beurteilen zu können. Auch in einem derartigen Fall lassen sich – wie bei der Erforderlichkeit weiterer Ermittlungsmaßnahmen – Erfolgsaussichten zumeist nicht verneinen (vgl. LSG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 13. März 2023, L 4 R 25/23 B PKH, zitiert nach juris, Rn. 14; Sächsisches LSG, Beschluss vom 15. Januar 2013, L 3 AS 1184/12 B PKH, zitiert nach juris, Rn. 22). Bei teilweiser Erfolgsaussicht ist bei gerichtskostenfreien Verfahren i.S.d. § 183 SGG für das gesamte Verfahren Prozesskostenhilfe zu gewähren (vgl. Gall in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, § 73a SGG, Stand: 15. Juni 2022, Rn. 50).
Gemessen daran ist der Klägerin Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren zu bewilligen.
Die Erfolgschance der Klage ist jedenfalls insoweit nicht nur eine entfernte, als sich die Klage gegen die Aufhebung der Entscheidung über die Bewilligung von Leistungen für die Monate ab Dezember 2021 (und die daran anknüpfende Erstattungsforderung) richtet. Als Rechtsgrundlage der Aufhebung kommt insoweit allein § 45 SGB X in Betracht. Die Erfolgschance der Klage hängt daher maßgeblich davon ab, ob sich die Klägerin gemäß § 45 Abs. 2 SGB X auf Vertrauensschutz berufen kann. Nach § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X kann sich der Begünstigte auf Vertrauen nicht berufen, soweit der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die er vorsätzlich oder grob fahrlässig unrichtig oder unvollständig gemacht hat (Nr. 2) oder er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte (Nr. 3).
Ob die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 oder 3 SGB X vorliegen, erscheint offen. Die Klägerin hat nach den Angaben ihres Prozessbevollmächtigten Lernschwächen und Verständnisprobleme. Sie sei geistig beeinträchtigt und bei ihr habe bis zum 18. Lebensjahr ein Grad der Behinderung von 80 vorgelegen. Der Klägerin wurden Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben für behinderte Menschen bewilligt. Somit liegen – von Amts wegen weiter aufzuklärende – Anhaltspunkte dafür vor, dass die Klägerin nicht über die für die Aufhebung erforderliche subjektive Einsichtsfähigkeit in Bezug auf die Pflicht zur Mitteilung des Kindergeldbezugs und die Rechtswidrigkeit der Bewilligungsentscheidung verfügte (vgl. zum subjektiven Tatbestand des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nrn. 2 oder 3 SGB X Padé, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, § 45 SGB X, Stand: 17. April 2023, Rn. 88).
Ebenso wenig ist es ohne Weiteres möglich, der Klägerin eine Bösgläubigkeit ihrer Mutter nach den Grundsätzen der Duldungs- oder Anscheinsvollmacht zuzurechnen (vgl. dazu BSG, Urteil vom 8. Dezember 2020, B 4 AS 46/20 R, zitiert nach juris). In Betracht kommt, dass diese Grundsätze im vorliegenden Fall nicht zur Anwendung kommen, weil nur eingeschränkt sozialrechtlich handlungsfähige Beteiligte nicht den Rechtsschein einer Vollmacht setzen können (vgl. Neumann in: Hauck/Noftz, SGB X, § 13, Stand 2. EL 2023, Rn. 27) und im Hinblick auf die vorgetragene geistige Beeinträchtigung Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass bei der Klägerin eine solche Einschränkung vorliegt.
Unabhängig davon ergibt sich aus dem Vorbringen der Klägerin und der Verwaltungsakte weder mit hinreichender Sicherheit, dass die Mutter der Klägerin im Oktober 2021 (zurechenbar) Kenntnis von der Wiederaufnahme der Kindergeldzahlungen auf das Konto der Klägerin erlangt hat, noch, wann der Mutter die Wiederaufnahme der Zahlungen ggf. zu einem späteren Zeitpunkt vor dem Weiterbewilligungsantrag vom 16. Mai 2022 bekannt wurde. Auch insoweit bedarf der Sachverhalt von Amts wegen weiterer Aufklärung. Zwar folgt aus § 117 Abs. 1 Satz 2 ZPO, dass das Streitverhältnis einschließlich des Sachverhalts substantiiert darzustellen ist (vgl. Gall in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG, § 73a SGG, Stand: 15.06.2022, Rn. 71). Es würde jedoch die Darlegungsanforderungen im Prozesskostenhilfeverfahren überspannen, von der Klägerin für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe auch Sachverhaltsangaben zu fordern, die zur (vorläufigen) Prüfung der Zurechnung der Bösgläubigkeit einer dritten, am Verfahren nicht beteiligten Person (ihrer Mutter) erforderlich sind.
Da auch die wirtschaftlichen Voraussetzungen des § 114 ZPO vorliegen, war der Klägerin Prozesskostenhilfe zu bewilligen.
Die Entscheidung über die Beiordnung beruht auf § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 121 Abs. 2 ZPO. Rechtsanwalt Heinicke war ohne die Einschränkung des § 121 Abs. 3 ZPO beizuordnen, weil dessen Kanzlei in Potsdam nicht weiter vom Sozialgericht Berlin entfernt liegt als der in Berlin am weitesten vom Sozialgericht Berlin entfernt liegende Ort (vgl. Schultzky in: Zöller, ZPO, 34. Auflage 2022, § 121 Rn. 24 m.w.N).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO.
Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).