L 32 AS 2002/19

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
32
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 53 AS 12925/16
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 32 AS 2002/19
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Unter Berücksichtigung der Wertungen aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK hat der polnische Großvater eines minderjährigen Deutschen ein Recht auf Aufenthalt im Bundesgebiet zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte gemäß § 28 Abs. 4 AufenthG i.V.m. § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Er ist damit nicht wegen § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgeschlossen.

 

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 18. September 2019 wird mit der Maßgabe, dass dem Kläger für den Zeitraum vom 1. Juli 2016 bis 31. Dezember 2016 lediglich Leistungen in Höhe von 573,08 Euro monatlich unter Anrechnung der bereits aufgrund des Beschlusses vom 19. September 2016 (L 31 AS 2100/16) gewährten Leistungen zu gewähren sind, zurückgewiesen.

 

Der Beklagte hat dem Kläger auch für das Berufungsverfahren seine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

 

Streitig ist der Anspruch des Klägers auf Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum vom 1. Juli 2016 bis zum 31. Dezember 2016.

 

Der 1962 geborene Kläger ist polnischer Staatsangehöriger und lebt seit dem Jahr 2000 in Deutschland. Laut Meldebescheinigung vom 11. Februar 2014 war er vom 23. Oktober 2000 bis zum 1. Dezember 2008 mit mehreren Unterbrechungen von einigen Wochen bis Monaten in B. ordnungsbehördlich gemeldet. Seit dem 11. August 2009 ist er ununterbrochen in B., zuletzt (seit 13. Dezember 2012) unter der rubrifizierten Anschrift, gemeldet.

 

Der Kläger lebt in einem gemeinsamen Haushalt mit seiner 1967 geborenen Ehefrau, die Leistungen nach dem SGB XII bezieht und pflegebedürftig ist. Im Streitzeitraum waren für sie die Pflegestufe II und eine Schwerbehinderung mit einem GdB von 80 anerkannt. Die Eheschließung erfolgte 2012, jedoch waren die Eheleute bereits zuvor ein erstes Mal verheiratet und haben einen gemeinsamen Sohn, M. F. Aus einer nichtehelichen Partnerschaft des Sohnes mit A. H. ging der 2007 geborene Enkelsohn des Klägers, J. H., hervor. J. wohnt seit seiner Geburt beim Kläger und seiner Ehefrau, die sich um ihn kümmern, weil A. H. im Jahr 2009 verstorben und M. F. unbekannten Aufenthalts ist. Nach dem Tod der Kindesmutter war zunächst die Ehefrau des Klägers im Rahmen einer Pflegschaft personensorgeberechtigt für J. Das Jugendamt Berlin-Lichtenberg war seit März 2011 Pfleger für den Wirkungskreis Vermögenssorge. Am 20. September 2016 wurde der Kläger durch das Amtsgericht Tempelhof-Kreuzberg zum alleinigen Vormund des J. bestellt, weil die Ehefrau aus gesundheitlichen Gründen hierzu nicht mehr in der Lage war. J. ist deutscher Staatsangehöriger und bezieht ebenfalls Leistungen nach dem SGB XII zuzüglich zu einer Halbwaisenrente und Kindergeld. Der Kläger hatte im Streitzeitraum kein Einkommen oder Vermögen.

 

Die Kosten für Unterkunft und Heizung für die von der Familie bewohnte Wohnung betrugen ab dem 1. Juli 2015 insgesamt 645,63 Euro (371,99 Euro Grundmiete, 133,07 Euro Betriebskostenvorauszahlung und 140,57 Euro Vorauszahlung für Heizung und Warmwasser). Ab dem 1. April 2016 betrug die Miete dann monatlich nur noch 627,26 Euro (371,99 Euro Grundmiete, 114,70 Euro Betriebskostenvorauszahlung und 140,57 Euro Vorauszahlung für Heizung und Warmwasser).

 

Laut Reisegewerbekarte vom 29. Oktober 2009 meldete der Kläger in B. ein Gewerbe für den Ankauf und das Feilbieten von Schrott, Metall und Alt-Metall an. Er arbeitete jedoch nicht in diesem Bereich. Anfang des Jahres 2010 erlitt er einen Unfall mit Unterschenkelfraktur, aufgrund dessen er sich in viertägige stationäre Krankenhausbehandlung begab.

 

Der Kläger erhielt vom Beklagten ab Januar 2013 bis zum 30. Juni 2016 Leistungen nach dem SGB II. Auf den Weiterbewilligungsantrag vom 1. Juni 2016 forderte der Beklagte ihn zunächst auf, eine Meldebescheinigung und eine Erklärung zu seinem Aufenthaltszweck einzureichen. Nachdem der Kläger die angeforderten Unterlagen übersandt hatte, lehnte der Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 20. Juni 2016 ab. Der Kläger sei von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen. Er habe nach Aktenlage während eines zusammenhängenden Zeitraumes von mindestens fünf Jahren nicht über eine Arbeitnehmereigenschaft oder ausreichende Existenzmittel verfügt, da er bisher in Deutschland keine Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit ausgeübt und seit Januar 2013 SGB II-Leistungen bezogen habe. Er habe ferner angegeben, sich dauerhaft zur Arbeitssuche in Deutschland aufzuhalten.

 

Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein und beantragte beim Sozialgericht Eilrechtsschutz. Er trug im Wesentlichen vor, vor dem Jahr 2013 mindestens zehn Kalenderjahre ohne die Inanspruchnahme von Sozialleistungen in Deutschland gelebt zu haben und sich auch nicht ausschließlich zum Zweck der Arbeitssuche hier aufzuhalten. Vielmehr pflege er seine Ehefrau und betreue seinen im Haushalt lebenden Enkelsohn.

 

Das Sozialgericht hat dem Begehren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit Beschluss vom 19. August 2016 (S 53 AS 9815/16 ER) in vollem Umfang stattgegeben und den Beklagten vorläufig verpflichtet, dem Kläger Leistungen nach dem SGB II vom 8. Juli 2016 bis zum 31. Dezember 2016 in Höhe von 579,22 Euro (für Juli 463,38 Euro) monatlich zu gewähren. Auf die hiergegen vom Beklagten eingelegte Beschwerde hat das Landessozialgericht den Beschluss vom 19. August 2016 dahingehend abgeändert, dass lediglich Leistungen in Höhe von 506,42 Euro monatlich (für Juli 388,25 Euro) an den Kläger zu zahlen sind und die Beschwerde im Übrigen zurückgewiesen (Beschluss vom 19. September 2016, L 31 AS 2100/16 B ER).

 

Den Widerspruch wies der Beklagte mit Bescheid vom 6. September 2016 unter Wiederholung der Gründe des Ablehnungsbescheides zurück. Ergänzend führte der Beklagte aus, der Kläger habe kein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) erworben, weil er sich bereits nicht nachweislich seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten habe. Zudem habe er nicht über eine Arbeitnehmereigenschaft oder ausreichende Existenzmittel verfügt. Ausweislich eines Aktenvermerks habe sich der Kläger in Deutschland gemeldet, aber weiterhin bei seiner Mutter in Polen gewohnt. Er sei nur besuchsweise zur Betreuung seiner Tochter und seines Enkelkindes in der B.-er Wohnung gewesen. Ferner habe er erklärt, ab 2002 aus verschiedenen Quellen seinen Lebensunterhalt bestritten zu haben. Seine Familie habe ihm beim Kauf von Lebensmitteln geholfen und er habe Geldsummen bekommen. Dies spreche dagegen, dass er ausreichende Existenzmittel besessen habe. Auch habe er vor dem Leistungsbezug über keinen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügt. Andere Gründe für ein Aufenthaltsrecht als die Arbeitssuche seien nicht ersichtlich. Insbesondere begründe die Betreuung des Enkelkindes kein Aufenthaltsrecht. Für das Enkelkind sei lediglich die Ehefrau des Klägers personensorgeberechtigt. Außerdem sei im Eilverfahren vorgetragen worden, dass ein Abstammungsgutachten beabsichtigt sei. Ob die Personensorge bei der Ehefrau des Klägers bleiben werde, sei daher völlig ungewiss.

 

Hiergegen hat der Kläger unter dem 9. September 2016 Klage beim Sozialgericht Berlin erhoben. Er trägt vor, der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II greife nicht, da er über weitere Aufenthaltsrechte als das zur Arbeitssuche verfüge. Er habe sein Gewerbe wegen eines Unfalls mit vorübergehender Erwerbsunfähigkeit nicht ausüben können. Daher sei ein Aufenthalt nach § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FreizügG/EU begründet. Außerdem halte er sich in Deutschland auf, um seine Ehefrau zu pflegen und das im Haushalt lebende minderjährige Kind zu betreuen, das die deutsche Staatsbürgerschaft besitze. Für das Kind besitze zwar seine Ehefrau die Personensorge, jedoch sei diese aufgrund ihres Gesundheitszustands nicht in der Lage, die Betreuung und Versorgung des Kindes zu gewährleisten, weshalb der Kläger dies übernehme. Das Jugendamt habe daher bereits die Übertragung der Personensorge auch auf den Kläger beim zuständigen Familiengericht beantragt. Es bestehe somit ein Aufenthaltsrecht aufgrund der besonderen familiären Situation nach § 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU i.V.m dem Aufenthaltsgesetz. Ferner habe er während eines zusammenhängenden Zeitraumes von mehr als fünf Jahren, nämlich von 2000 bis 2013 in Deutschland gelebt und sich selbst versorgen können, woraus sich ebenfalls ein Aufenthaltsanspruch ableite. Im Übrigen habe das Abstammungsgutachten, auf das sich der Beklagte bezieht nicht erstellt werden können.

 

Mit Bescheid vom 15. Februar 2017 hat der Beklagte dem Kläger Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum vom 1. Januar 2017 bis 31. Dezember 2017 in Höhe von 577,09 Euro monatlich bewilligt.

 

Auf Nachfragen des Sozialgerichts in der mündlichen Verhandlung vom 18. September 2019 hat der Kläger erklärt, seit dem Jahr 2000 durchgehend in B. gewohnt zu haben. Sein Sohn und seine Schwiegertochter seien drogenabhängig gewesen, seine Schwiegertochter sodann verstorben. Er habe sich deshalb von Anfang an mit seiner Ehefrau um das Enkelkind gekümmert. Im Streitzeitraum habe er alles alleine für J. gemacht, weil seine Ehefrau das aufgrund ihrer psychischen Erkrankung nicht mehr gekonnt habe. Er könne sie nicht mit dem Kind alleine lassen. Er habe J. insbesondere zur Schule und zum Arzt gebracht, Unternehmungen mit ihm gemacht und sich um die behördlichen Dinge gekümmert.

 

Das Sozialgericht hat der Klage mit Urteil vom selben Tag stattgegeben. Der Kläger sei nicht von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, weil er ein Aufenthaltsrecht nicht allein zur Arbeitssuche sondern ein Daueraufenthaltsrecht erworben habe und deshalb aufenthaltsberechtigt nach § 2 Abs. 2 Nr. 7 FreizügG/EU sei. Er habe sich vor dem Zeitraum seines Leistungsbezuges mehr als fünf Jahre dauerhaft im Bundesgebiet aufgehalten. Dies ergebe sich aus seinem Vortrag in der mündlichen Verhandlung zu seinem Aufenthaltsort und schließlich auch zu seiner Sorge um sein Enkelkind seit dessen Geburt. Er habe anschaulich und glaubhaft vorgetragen, sich seit 2007 um J. gekümmert zu haben, so dass jedenfalls ab 2007 kein Wechsel des Aufenthaltsortes mehr gegeben gewesen sei. Er habe auch für die Zeit vor seinem Leistungsbezug über ausreichende Existenzmittel und Krankenversicherungsschutz verfügt. Andernfalls hätte er sich nach seinem Unfall im Jahr 2009 nicht in medizinische Behandlung begeben können. Die Voraussetzungen für ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU seien somit erfüllt. Ferner sehe die Kammer ein weiteres Aufenthaltsrecht nach dem Günstigkeitsgrundsatz gemäß § 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU i.V.m. § 28 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) analog als gegeben. Da nach dieser Vorschrift ausländischen Elternteilen eines minderjährigen ledigen Deutschen zur Ausübung der Personensorge eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen sei, müsse dies auch für die hier vorliegende Ausnahmekonstellation gelten, dass ein ausländisches Großelternteil die Personensorge für ein minderjähriges deutsches Kind übertragen bekommen habe mit dem es in Deutschland in familiärer Gemeinschaft lebe. Zudem sei der Vormund quasi ein „Wie-Elternteil“, da er in Vertretung der Eltern deren Rechte und Pflichten übernehme. Das Sozialgericht hat den Beklagten zur Bewilligung von Leistungen in Höhe von 575,65 Euro monatlich verurteilt, wobei es von monatlichen Gesamtaufwendungen für Unterkunft und Heizung in Höhe von 634,95 Euro ausgegangen ist.

 

Der Beklagte hat gegen das ihm am 9. Oktober 2019 zugestellte Urteil die Berufung vom 30. Oktober 2019 eingelegt. Er ist der Auffassung, die erforderlichen Voraussetzungen für das Vorliegen eines Daueraufenthaltsrechtes seien nicht ausreichend aufgeklärt worden. Das Sozialgericht habe vielmehr die Angaben des Klägers zugrunde gelegt, ohne sich mit dem Vortrag des Beklagten auseinanderzusetzen. Die Annahme eines Aufenthaltsrechts nach dem Günstigkeitsgrundsatz aufgrund der Fürsorge des Klägers gegenüber seinem Enkelkind sei vom eindeutigen Gesetzeswortlaut nicht gedeckt. Dennoch werde ohne Würdigung des Beklagtenvortrags eine analoge Gesetzesanwendung angenommen. Abgesehen davon sei die Urteilsformel rechtsfehlerhaft, weil nicht klargestellt worden sei, dass die bereits im Eilverfahren vorläufig gewährten Leistungen zu berücksichtigen seien. Auch die Berechnung der Unterkunftskosten sei nicht nachvollziehbar. Das Gericht gehe von 634,95 Euro Gesamtaufwendungen aus, nach Aktenlage betragen diese aber 627,26 Euro, wovon dem Kläger ein Drittel zu gewähren sei.

 

Der Beklagte beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 18. September 2019 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

 

Der Kläger beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Er beruft sich auf die Ausführungen der erstinstanzlichen Entscheidung.

 

Die Vollstreckung aus dem angefochtenen Urteil des Sozialgerichts ist mit Beschluss des Senats vom 17. Dezember 2019 ausgesetzt worden.

 

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß §§ 124 Abs. 2 SGG erklärt.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie des sonstigen Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsakte Band II des Beklagten Bezug genommen, die dem Senat bei seiner Beratung und Entscheidung vorlagen (§§ 153, Abs. 1, 136 Abs. 2 SGG).

 

 

 

Entscheidungsgründe

 

1.

Der Senat konnte nach § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten hiermit ihr Einverständnis erklärt haben.

 

Die gemäß § 143, 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG statthafte Berufung ist auch im Übrigen zulässig.

 

Gegenstand des Berufungsverfahrens ist neben der erstinstanzlichen Entscheidung der Ablehnungsbescheid des Beklagten vom 20. Juni 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. September 2016 sowie der Anspruch des Klägers auf Bewilligung der begehrten Leistungen nach dem SGB II für den Streitzeitraum. Der Kläger begehrt die Aufhebung der angegriffenen Bescheide sowie die Verpflichtung des Beklagten zur Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II mit der statthaften Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1, 1. Alt. und Abs. 4 SGG).

 

Die Berufung ist im Wesentlichen unbegründet. Das Sozialgericht hat der Klage zu Recht stattgegeben und den Beklagten im Ergebnis zutreffend unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide zur Bewilligung der begehrten Leistungen nach dem SGB II verurteilt. Lediglich der vom Sozialgericht austenorierte Leistungsbetrag ist geringfügig anzupassen.

 

Rechtsgrundlage für den Anspruch des Klägers auf Leistungen nach dem SGB II sind §§ 19 ff. iVm §§ 7 ff. SGB II in der Fassung, die das SGB II für den streitbefangenen Zeitraum zuletzt durch das Neunte Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Rechtsvereinfachung – sowie zur vorübergehenden Aussetzung der Insolvenzantragspflicht vom 26. Juli 2016 (Rechtsvereinfachungsgesetz, BGBl. I 1824) erhalten hat (Geltungszeitraumprinzip; vgl. BSG Urteil vom 19. Oktober 2016, B 14 AS 53/15 R).

 

Der Kläger erfüllte im Streitzeitraum die Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II; danach erhalten Leistungen nach diesem Buch Personen, die 1. das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II (also mindestens das 65. Lebensjahr) noch nicht erreicht haben, 2. erwerbsfähig sind, 3. hilfebedürftig sind und 4. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte). Der Kläger war über 15 Jahre alt und hatte die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht. Er war auch erwerbsfähig und hilfebedürftig, weil er kein Einkommen zur Deckung seines Lebensbedarfs bezog und ihm keine weiteren Mittel zur Sicherung des Lebensunterhalts zur Verfügung standen. Ferner hatte er seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland.

 

Der Kläger unterfällt im streitigen Zeitraum keinem Leistungsausschluss für Ausländer. Nach § 7 Abs. 1 Satz 2 bis Satz 4 SGB II in seiner bis zum 28. Dezember 2016 geltenden Fassung waren vom Leistungsanspruch nach dem SGB II ausgenommen 1. Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts, 2. Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen, 3. Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes. Satz 2 Nummer 1 gilt nicht für Ausländerinnen und Ausländer, die sich mit einem Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. Aufenthaltsrechtliche Bestimmungen bleiben unberührt.

 

Mit Geltung ab dem 29. Dezember 2016 war § 7 Abs. 1 Satz 2 bis 7 SGB II (in der Fassung des Gesetzes zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch, vom 22. Dezember 2016, BGBl. I, 3155) wie folgt gefasst worden: Ausgenommen sind 1. Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Absatz 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts, 2. Ausländerinnen und Ausländer, a) die kein Aufenthaltsrecht haben, b) deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt oder c) die ihr Aufenthaltsrecht allein oder neben einem Aufenthaltsrecht nach Buchstabe b aus Artikel 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl. L 141 vom 27.5.2011, S. 1), die durch die Verordnung (EU) 2016/589 (ABl. L 107 vom 22.4.2016, S. 1) geändert worden ist, ableiten, und ihre Familienangehörigen, 3. Leistungsberechtigte nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes. Satz 2 Nummer 1 gilt nicht für Ausländerinnen und Ausländer, die sich mit einem Aufenthaltstitel nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten. Abweichend von Satz 2 Nummer 2 erhalten Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen Leistungen nach diesem Buch, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben; dies gilt nicht, wenn der Verlust des Rechts nach § 2 Absatz 1 des Freizügigkeitsgesetzes/EU festgestellt wurde. Die Frist nach Satz 4 beginnt mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde. Zeiten des nicht rechtmäßigen Aufenthalts, in denen eine Ausreisepflicht besteht, werden auf Zeiten des gewöhnlichen Aufenthalts nicht angerechnet. Aufenthaltsrechtliche Bestimmungen bleiben unberührt.

 

In Betracht kommt nach beiden Gesetzesfassungen zunächst nur ein Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II. Dieser greift jedoch nicht, weil dem Kläger im Streitzeitraum ein Aufenthaltsrecht nicht nur zum Zweck der Arbeitssuche zustand. Denn er besaß ein Aufenthaltsrecht als sonstiger Familienangehöriger seines deutschen Enkelkindes J. H. nach § 28 Abs. 4 AufenthG i.V.m. § 36 Abs. 2 S. 1 AufenthG.

 

Der den Familiennachzug zu Deutschen regelnde § 28 AufenthG bestimmt in seinem Absatz 1 wem eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen ist, wenn der Deutsche (dem nachgezogen wird) seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat. Das sind Ehegatten eines Deutschen (Nr. 1), minderjährige ledige Kinder von Deutschen (Nr. 2) sowie Elternteile eines minderjährigen ledigen Deutschen zur Ausübung der Personensorge (Nr. 3). Gemäß Absatz 4 der Vorschrift findet auf sonstige Familienangehörige § 36 entsprechende Anwendung. Der Kläger ist als leiblicher Großvater des J. H., der die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, sonstiger Familienangehöriger eines Deutschen.

 

§ 36 Abs. 2 S. 1 AufenthG regelt in seinem unmittelbaren Anwendungsbereich, dass sonstigen Familienangehörigen eines Ausländers zum Familiennachzug eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden kann, wenn es zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte erforderlich ist. Bei entsprechender Anwendung gilt dies auch für sonstige Familienangehörige eines Deutschen. Der Tatbestand der Erforderlichkeit zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte im Sinne von § 36 Abs. 2 AufenthG verlangt eine Beurteilung anhand der jeweiligen objektiven Umstände des Einzelfalles, ob der schutzbedürftige Familienangehörige kein eigenständiges Leben führen kann und zwingend auf die Gewährung familiärer Lebenshilfe angewiesen ist, welche in zumutbarer Weise nur in Deutschland erbracht werden kann (BVerwG, Urteil vom 10. März 2011 – 1 C 7/10). Die Frage nach dem Aufenthaltsrecht sorgeberechtigter Angehöriger eines minderjährigen Deutschen sowie die entsprechenden Vorschriften und deren Interpretation sind im Lichte von Art. 6 GG und Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu würdigen (vgl. zum Aufenthaltsrecht eines sorgeberechtigten Angehörigen eines minderjährigen Unionsbürgers: BVerfG, Beschlüsse vom 4. Oktober 2019 – 1 BvR 1710/18, und vom 8. Juli 2020 – 1 BvR 932/20). Es müssen insoweit die Konsequenzen der Entscheidung mitgedacht und im Lichte der Grundrechte auf ihre Zumutbarkeit geprüft werden. Die Berücksichtigung der Grundrechte verlangt, dass die Behörden die Besonderheiten, die sich aus einer spezifischen familiären Konstellationen ergeben, sorgfältig ermitteln und mit den ihm zukommenden Gewicht berücksichtigen. Die Pflicht des Staates zum Schutz der Familie drängt dabei einwanderungspolitische Belange zurück, wenn die gelebte Familiengemeinschaft nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden kann und besondere Umstände vorliegen, die ein Verlassen des Bundesgebietes unzumutbar machen (BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2013 – 1 C 15/12).

 

Der Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG umfasst namentlich die Freiheit der Eheschließung und Familiengründung sowie das Recht auf ein eheliches und familiäres Zusammenleben (BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 1987 - 2 BvR 1226/83). Art. 6 Abs. 1 GG begründet grundsätzlich keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt. Allerdings verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über ein Aufenthaltsbegehren die bestehenden familiären Bindungen an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, zu berücksichtigen und entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen zur Geltung zu bringen (vgl. BVerfG, a.a.O.). Für die Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in den Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG ist die Frage, ob es den anderen Familienangehörigen zumutbar ist, den Kläger in sein Herkunftsland zu begleiten, von erheblicher Bedeutung. Denn wenn die familiäre Lebensgemeinschaft nur in der Bundesrepublik Deutschland gelebt werden kann, weil einem beteiligten Familienmitglied ein Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar ist, drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, regelmäßig einwanderungspolitische Belange zurück (vgl. BVerfG, Beschluss vom 18. April 1989 - 2 BvR 1169/84). Eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 GG liegt dagegen fern, wenn die Lebensgemeinschaft zumutbar auch im gemeinsamen Herkunftsland geführt werden kann. Denn Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistet nicht das Recht, die familiäre Lebensgemeinschaft in Deutschland zu führen, wenn dies auch in einem anderen Land zumutbar möglich ist. Auch für die Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs in den Schutzbereich des Art. 8 EMRK kommt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte der Frage erhebliche Bedeutung zu, ob das Familienleben ohne Hindernisse auch im Herkunftsland möglich ist oder ob der Nachzug das einzige adäquate Mittel darstellt, in familiärer Gemeinschaft zu leben (vgl. EGMR, Urteil vom 19. Februar 1996 - 53/1995/559/645 – Gül/Schweiz; Urteil vom 21. Dezember 2001 - 31465/96 - InfAuslR 2002, 334, Sen).

 

Unter Berücksichtigung der vorgenannten Erwägungen ist die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte für den Enkelsohn des Klägers erforderlich. Dieser ist 2007 in Deutschland geboren, und als minderjähriges Kind zwingend auf Betreuungsleistungen angewiesen, die im gesamten Streitzeitraum faktisch nur der Kläger erbringen konnte. Seine leibliche Mutter ist verstorben, Kontakt zum leiblichen Vater besteht nicht. Somit sind seine Großeltern die einzigen Bezugspersonen, die eine Elternrolle übernommen haben. Im Streitzeitraum war die zunächst personensorgeberechtigte Großmutter bereits derart erkrankt, dass dem Kläger die Vormundschaft übertragen wurde. Aber unabhängig von der Übertragung der Vormundschaft war die im gesamten Streitzeitraum tatsächlich gelebte familiäre Bindung des Klägers mit seinem deutschen Enkelsohn gleichwertig mit einer Eltern-Kind-Beziehung und entspricht damit der Wertung des § 28 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG, welcher für Eltern eines minderjährigen Deutschen ein Recht auf Familiennachzug gebietet.

 

Eine Trennung des Klägers von seinem Enkelsohn ist vor diesem Hintergrund ausgeschlossen. Ebenso wenig kann die gesamte Familie zumutbar darauf verwiesen werden, ihre Familiengemeinschaft in Polen fortzuführen. Das Enkelkind des Klägers ist deutscher Staatsangehöriger, hier seit 2013 schulpflichtig und hat noch nie in Polen gelebt. Bereits aus diesem Grunde erscheint ein Verweis auf die Ausreise nach Polen unter Berücksichtigung des Kindeswohls unzumutbar. Hinzu kommt, dass die Ehefrau des Klägers selbst schwerbehindert und pflegebedürftig und somit vom Kläger abhängig ist. Zusätzlich ist sie ebenso wie der sie pflegende Kläger angewiesen auf medizinische Hilfe und diesbezügliche Strukturen, die in B. aufgebaut wurden. Unter Würdigung all dieser Gesichtspunkte ist eine Familienfortführung außerhalb Deutschlands der Familie des Klägers nicht zuzumuten.

 

§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG steht der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nicht entgegen. Nach dieser Vorschrift setzt die Erteilung eines Aufenthaltstitels "in der Regel" voraus, dass der Lebensunterhalt gesichert ist. Von dieser Voraussetzung ist jedoch abzusehen, weil nicht der Regel-, sondern ein Ausnahmefall vorliegt. Ein solcher liegt nicht nur bei besonderen, atypischen Umständen vor, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen, sondern auch dann, wenn entweder aus Gründen höherrangigen Rechts wie Art. 6 GG oder im Hinblick auf Art. 8 EMRK die Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Familiennachzug geboten ist, weil die Herstellung der Familieneinheit im Herkunftsland nicht möglich ist (BVerwG, Urt. v. 26.08.2008 – 1 C 32.07) Ob danach ein Ausnahmefall vorliegt unterliegt voller gerichtlicher Überprüfung (BVerwG, Urt. v. 30.04.2009 – 1 C 3.08). Wie bereits ausgeführt, gebietet der Schutz von Ehe und Familie im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK vorliegend die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, so dass die fehlende Sicherung des Lebensunterhalts dem Kläger nicht entgegengehalten werden kann.

 

Die Erteilung eines Aufenthaltstitels steht gemäß § 36 Abs. 2 AufenthG grundsätzlich  im Ermessen der Ausländerbehörde. Vorliegend ist jedoch aufgrund der verfassungsrechtlichen Vorgaben zum Schutz der Familie nach Art. 6 GG/Art. 8 EMRK unter Berücksichtigung der besonderen familiären Situation eine Ermessensreduzierung auf „Null“ anzunehmen.

 

Schließlich ist es, soweit Aufenthaltsrechte von Unionsbürgern zu prüfen sind, nach der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 30. Januar 2013 - B 4 AS 54/12 R) unerheblich, ob dem Unionsbürger ein Aufenthaltstitel nach dem AufenthG tatsächlich erteilt worden ist. Entscheidend ist vielmehr, ob ihm ein solcher Titel zu erteilen wäre, was hier wie dargestellt der Fall ist.

 

Ob der Kläger darüber hinaus weitere Aufenthaltsrechte, etwa nach § 4a FreizügG (Daueraufenthaltsrecht) erworben hat, kann daher im Ergebnis dahinstehen.

 

Die Höhe der zu gewährenden Leistungen berechnet sich anhand des für den Kläger im Streitzeitraum maßgeblichen Regelbedarfs für Eheleute (364,00 Euro) und seines Kopfteils (1/3) der von der Familie zu tragenden Kosten für Unterkunft und Heizung (627,26 Euro). Der Kläger hat somit einen Anspruch auf Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 573,08 Euro. Die aufgrund des Eilverfahrens bereits vorläufig gewährten Leistungen sind anzurechnen. Insoweit ist der Tenor der erstinstanzlichen Entscheidung anzupassen.

 

2.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG und berücksichtigt die Erfolglosigkeit der Rechtsverfolgung. Die geringfügige Anpassung der erstinstanzlichen Entscheidung bezüglich der Höhe der zu bewilligenden Leistungen rechtfertigt keine Kostenquote.

 

3.

Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen hierfür (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG) nicht vorliegen.

 

Rechtskraft
Aus
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