L 12 SB 1597/18

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
12.
1. Instanz
SG Karlsruhe (BWB)
Aktenzeichen
S 6 SB 2296/16
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 12 SB 1597/18
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 12.03.2018 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.


Tatbestand


Die Klägerin begehrt die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft.

Die 1962 geborene Klägerin beantragte am 31.07.2015 die Feststellung des Grades der Behinderung (GdB).

Der Beklagte zog ärztliche Unterlagen bei und führte diese einer versorgungsärztlichen Auswertung zu. S bewertete in seiner Stellungnahme vom 23.01.2016 die Migräne, die seelische Störung, das chronische Schmerzsyndrom sowie die Schlaganfallfolgen mit einem Einzel-GdB von 30, die Lymphstauung von Armen und Beinen mit einem Einzel-GdB von 20 und empfahl einen Gesamt-GdB von 40. Dieser Beurteilung folgend stellte der Beklagte mit Bescheid vom 04.02.2016 den GdB mit 40 ab 31.07.2015 fest.

Hiergegen legte die Klägerin Widerspruch ein und fügte weitere Arztberichte bei. Der versorgungsärztliche Dienst hielt in seiner Stellungnahme vom 10.05.2016 unter zusätzlicher Berücksichtigung eines Einzel-GdB von 10 für die degenerativen Veränderungen an der Wirbelsäule den Gesamt-GdB von 40 weiterhin für zutreffend.

Der Beklagte wies daraufhin den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 10.06.2016 zurück.

Hiergegen hat die Klägerin am 08.07.2016 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhoben und geltend gemacht, der GdB für die seelische Störung betrage 40, so dass unter Berücksichtigung der Funktionsbeeinträchtigungen im Bereich des zwischenzeitlich operierten Knies links und der Funktionsbeeinträchtigungen im Bereich der Wirbelsäule die Schwerbehinderteneigenschaft festzustellen sei.

Das SG hat die behandelnden Ärzte der Klägerin als sachverständige Zeugen schriftlich vernommen und sodann von Amts wegen ein Gutachten bei dem M sowie auf Antrag und Kostenrisiko der Klägerin ein Gutachten bei E eingeholt.

L, hat sich in seiner Auskunft vom 07.10.2016 hinsichtlich der Beurteilung des GdB für das Lipödem an den Armen und das Lymphödem an den Beinen der Bewertung des versorgungsärztlichen Dienstes angeschlossen. B, hat unter dem 04.10.2016 die chronifizierte Depression als mittelgradig und als eigenständige Erkrankung mit einem GdB von 20 eingeschätzt, und hat unter Mitberücksichtigung der Migräne, des chronischen Schmerzsyndroms und der Schlaganfallfolgen den Einzel-GdB insgesamt mit 40 und den Gesamt-GdB mit 50 bewertet. B1, hat in der Auskunft vom 10.10.2016 bei freier Beweglichkeit und reizlosem Zustand des linken Kniegelenks den GdB hierfür mit 10 bewertet. Die Wirbelsäulenbeschwerden seien muskulär bedingt und würden keinen GdB von mehr als 10 rechtfertigen. S1 hat in ihrer Auskunft vom 18.10.2016 ausgeführt, dass myofasziale Schmerzsyndrom und die Depression seien höher und der Gesamt-GdB mit mehr als 50 zu bewerten.

Der M hat in seinem Gutachten vom 21.05.2017 ausgeführt, bei der Klägerin bestehe eine leichte reaktiv chronisch-depressive Herabgestimmtheit im Sinne einer Dysthymie, die nicht den Schweregrad einer depressiven Episode erreiche und mit einem GdB von 20 einzuschätzen sei, ferner eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, die ebenfalls mit einem GdB von 20 einzuschätzen sei, eine Migräne mit einem GdB von 10 sowie ein Zustand nach Kleinhirninfarkt ohne neurologische Symptomatik. Der Einzel-GdB auf nervenärztlichem Fachgebiet betrage 30 und der Gesamt-GdB sei unter Mitberücksichtigung des Einzel-GdB von 20 für die Lymphstauung an Armen und Beinen und des Einzel-GdB von 10 für die Funktionsbeeinträchtigungen in der Wirbelsäule mit 40 einzuschätzen.

E hat unter dem 10.10.2017 ausgeführt, es liege bei der Klägerin eine depressive Episode mit somatischem Syndrom vor; Affektivität, Antrieb, Denken, Kognition, Vegetativum, Koordination und Schmerzwahrnehmung seien beeinträchtigt. Ferner liege ein Z.n. Hirninsult vor, der hinsichtlich der Koordinationsstörungen als geringfügig bewertet werde. Den GdB für die Depression, die als mittelgradig einzuschätzen sei, schätze er einschließlich dem Zustand nach Hirninsult mit 50 ein. Das Lymphödem sei in Bezug auf den GdB gegenüber der psychiatrischen Symptomatik zu vernachlässigen bzw. in der Schmerzsymptomatik inkludiert.

Der Beklagte hat die versorgungsärztlichen Stellungnahmen des W vom 13.12.2016 und des R vom 08.02.2018 vorgelegt und eine höhere Bewertung des GdB verneint.

Das SG hat mit Urteil vom 12.03.2018 die Klage abgewiesen und sich im Wesentlichen auf das Gutachten des M gestützt und das Gutachten des E nicht als überzeugend erachtet.

Gegen das der Klägerin am 03.04.2018 zugestellte Urteil hat diese am 03.05.2018 Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegt. Sie hält das Gutachten des E für überzeugend und verwahrt sich dagegen, dass das SG dieses als sozialmedizinisch unbrauchbar bezeichnet habe. Ferner verweist sie darauf, dass ihr die behandelnden Ärzte einen glaubhaften Leidensdruck und glaubhafte Angaben bescheinigen würden. Ferner hat sie den Entlassbericht der A-Klinik vom 05.03.2020 vorgelegt.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 12.03.2018 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 04.02.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.06.2016 zu verurteilen, bei ihr einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen,

hilfsweise beide Sachverständigen des Berufungsrechtszuges zur Erörterung ihrer Gutachten gemeinsam zu laden und anzuhören, hilfsweise lediglich S2oder lediglich E zu laden und zur Erörterung ihrer Gutachten anzuhören.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hat zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung des SG verwiesen und betont, E habe zu Unrecht die bei der Klägerin vorliegende Depression den affektiven Psychosen zugeordnet und die Bewertung des GdB fälschlicherweise auf dieser Grundlage vorgenommen.

Der Senat hat ein Gutachten bei S2, erstattet am 28.10.2019, sowie auf Antrag und Kostenrisiko der Klägerin eine ergänzende Stellungnahme bei E, erstattet am 27.11.2020, eingeholt. Hieran anschließend hat sich erneut S2mit einer ergänzenden Stellungnahme vom 12.03.2021 und wiederum hierzu auf Antrag und Kostenrisiko der Klägerin E am 25.11.2021 geäußert.

S2hat eine Dysthymie diagnostiziert und mit einem GdB von 20 bewertet. Eine Migräne sowie ein Schmerzsyndrom sei nicht sicher zu diagnostizieren. Unter Mitberücksichtigung des Lipödems zweiten Grades und des Beinlymphödems beidseits mit einem Einzel-GdB von 20 und unter Mitberücksichtigung der Funktionsbeeinträchtigungen im Bereich der Kniegelenke und der Wirbelsäule mit einem Einzel-GdB von 10 sei der Gesamt-GdB mit 30 angemessen. Das Gutachten des E sei nicht überzeugend. Dieser habe sich bei der diagnostischen Einschätzung wesentlich auf eigenanamnestische Angaben der Klägerin gestützt und es finde sich keine Auseinandersetzung mit der Frage der Authentizität der Angaben der Klägerin. Ein GdB von 50 für die depressive Störung sei mangels plausibler Befundung und fehlender Authentizitätsprüfung nicht nachvollziehbar.

E und S2sind in ihren weiteren Stellungnahmen bei ihren Beurteilungen geblieben.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die Berufung der Klägerin ist nach § 143 Sozialgerichtsbarkeit (SGG) statthaft, insbesondere war sie nicht nach § 144 Abs. 1 Satz 1 SGG zulassungsbedürftig. Sie ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) erhoben. Sie ist jedoch unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf einen GdB von mehr als 40.

Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch auf Feststellung eines GdB ist § 2 Abs. 1 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) in den bis zum 31.12.2017 und ab dem 01.01.2018 geltenden Fassungen in Verbindung mit § 69 SGB IX in den bis zum 14.01.2015, 29.12.2016 und 31.12.2017 geltenden Fassungen beziehungsweise in Verbindung mit § 152 Abs. 1 und 3 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung. Im Hinblick auf die den vorliegend zu beurteilenden Zeitraum betreffenden unterschiedlichen Gesetzesfassungen sind diese – da Übergangsregelungen fehlen – nach dem Grundsatz anzuwenden, dass die Entstehung und der Fortbestand des sozialrechtlichen Anspruchs auf Leistungen nach dem Recht zu beurteilen ist, welches zur Zeit der anspruchsbegründenden Ereignisse oder Umstände jeweils gegolten hat (BSG, Urteil vom 16.12.2014, B 9 SB 2/13 R, juris; BSG, Urteil vom 04.09.2013, B 10 EG 6/12 R, juris; vergleiche Stölting/Greiser in SGb 2015, 135-143).

Nach § 2 Abs. 1 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Nach § 2 Abs. 1 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung sind Menschen mit Behinderungen Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können, wobei eine Beeinträchtigung in diesem Sinne vorliegt, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. 

Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX in den bis zum 14.01.2015 und 29.12.2016 geltenden Fassungen stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen in einem besonderen Verfahren das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung beziehungsweise nach § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung gilt ergänzend, dass der GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung festgestellt wird. Als GdB werden dabei nach § 69 Abs. 1 Satz 4 und 5 SGB IX in den bis zum 14.01.2015 und 29.12.2016 geltenden Fassungen, nach § 69 Abs. 1 Satz 5 und 6 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung beziehungsweise nach § 152 Abs. 1 Satz 5 und 6 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft festgestellt, wobei eine Feststellung hierbei nur dann zu treffen ist, wenn ein GdB von wenigstens 20 vorliegt.

Nach § 70 Abs. 2 SGB IX in der bis zum 29.12.2016 geltenden Fassung wird das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des GdB und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundesrecht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Nach § 70 Abs. 2 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung beziehungsweise nach § 153 Abs. 2 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung gilt diese Ermächtigung für die allgemeine - also nicht nur für die medizinische - Bewertung des GdB und die Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen sowie auch für die Kriterien für die Bewertung der Hilflosigkeit. Zwar ist von dieser Ermächtigung noch kein Gebrauch gemacht worden. Indes bestimmt § 159 Abs. 7 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung beziehungsweise § 241 Abs. 5 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung, dass - soweit eine solche Verordnung nicht erlassen ist - die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der auf Grund des § 30 Abs. 16 BVG in der ab 01.07.2011 geltenden Fassung (vormals § 30 Abs. 17 BVG) erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend gelten. Mithin ist für die konkrete Bewertung von Funktionsbeeinträchtigungen die ab dem 01.01.2009 an die Stelle der „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz“ (AHP) getretene Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zu § 2 Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (VersMedV) vom 10.12.2008 (BGBl. I S. 2412), die durch die Verordnungen vom 01.03.2010 (BGBl. I S. 249), 14.07.2010 (BGBl. I S. 928), 17.12.2010 (BGBl. I S. 2124), 28.10.2011 (BGBl. I S. 2153) und 11.10.2012 (BGBl. I S. 2122) sowie das Gesetz vom 23.12.2016 (BGBl. I S. 3234) geändert worden ist, heranzuziehen. In den VG sind unter anderem die Grundsätze für die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG festgelegt worden. Diese sind nach den VG, Teil A, Nr. 2 auch für die Feststellung des GdB maßgebend. Die VG stellen ihrem Inhalt nach antizipierte Sachverständigengutachten dar. Dabei beruht das für die Auswirkungen von Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe an der Gesellschaft relevante Maß nicht allein auf der Anwendung medizinischen Wissens. Vielmehr ist die Bewertung des GdB auch unter Beachtung der rechtlichen Vorgaben sowie unter Heranziehung des Sachverstandes anderer Wissenszweige zu entwickeln (BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 SB 3/12 R, juris).

Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB nach § 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX in den bis zum 14.01.2015, 29.12.2016 und 31.12.2017 geltenden Fassungen beziehungsweise nach § 152 Abs. 3 Satz 1 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Zur Feststellung des GdB werden in einem ersten Schritt die einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen (von der Norm abweichenden) Zuständen nach § 2 Abs. 1 SGB IX und die sich daraus ableitenden, für eine Teilhabebeeinträchtigung bedeutsamen Umstände festgestellt. In einem zweiten Schritt sind diese dann den in den VG genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten Schritt ist dann in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der Gesamt-GdB zu bilden. Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen (sich decken), sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinanderstehen (BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 SB 3/12 R, juris). Nach den VG, Teil A, Nr. 3 Buchst. c ist bei der Bildung des Gesamt-GdB in der Regel von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB auszugehen und sodann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob der Ausgangswert also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen um 10, 20 oder mehr Punkte zu erhöhen ist, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Insoweit führen nach den VG, Teil A, Nr. 3 Buchst. d, von Ausnahmefällen abgesehen, zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, die bei der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnte, auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es danach vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Außerdem sind nach den VG, Teil A, Nr. 3 Buchst. b bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in der GdB-Tabelle der VG feste Grade angegeben sind.

Die Bemessung des GdB ist grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe. Dabei hat insbesondere die Feststellung der nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens zu erfolgen (BSG, Urteil vom 17.04.2013, B 9 SB 3/12 R, juris).

Unter Berücksichtigung des Vorstehenden ist der Senat, ebenso wie bereits das SG, überzeugt, dass die bei der Klägerin vorliegenden Behinderungen mit einem Gesamt-GdB von 40 zutreffend bewertet sind.

Im Vordergrund steht bei der Klägerin – auch nach übereinstimmender Auffassung des SG und der Beteiligten – die Erkrankung auf nervenärztlichem Gebiet. Dabei handelt es sich um eine Dysthymie sowie einen Z.n. Kleinhirninfarkt ohne relevante neurologische Störungen. Dies entnimmt der Senat den Gutachten der M und S2. Ferner besteht eine chronische Schmerzstörung; insoweit folgt der Senat dem M, der bei seiner Untersuchung eine generalisierte Druckempfindlichkeit feststellte und die Kriterien einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren als erfüllt ansah. Diese Diagnose haben auch die behandelnden B sowie S1 und der versorgungsärztliche Dienst des Beklagten gestellt. Die im CT vom 04.06.2016 sichtbaren Läsionen in der hinteren Schädelgrube sind als Zeichen eines Schlaganfalles zu interpretieren; relevante neurologische Störungen sind von den Sachverständigen S2, Mayer und E jedoch übereinstimmend verneint worden.

Soweit E in seinem Gutachten eine depressive Episode mit somatischem Syndrom diagnostiziert hat, vermag ihm der Senat nicht zu folgen. So war zum Zeitpunkt der gutachterlichen Untersuchung durch den M die affektive Schwingungsfähigkeit nur geringgradig vermindert und es konnten auch positive Emotionen ausgelöst werden. Weder war das Auffassungsvermögen erschwert, noch haben sich im Rahmen der Begutachtung die von der Klägerin angegebenen kognitiven Defizite, vor allem Gedächtnisstörungen und Konzentrationsstörungen feststellen lassen. Ferner war der Antrieb in der Untersuchungssituation intakt. Auch E hat die von der Klägerin angegebenen Störungen der Merkfähigkeit mittels einer einfachen klinischen Prüfung verneint und ferner die von der Klägerin ebenfalls angegebenen Störungen des Gedächtnisses nicht festzustellen vermocht (Bl. 5 seines Gutachtens). Insoweit setzt sich E mit seiner eigenen Befunderhebung in Widerspruch, wenn er auf Bl. 13 seines Gutachtens nicht nur Affektivität, Antrieb und Denken, sondern weiterhin die Kognition als beeinträchtigt ansieht.

Auch S2 hat bei seiner Untersuchung lediglich eine Deprimiertheit, nicht jedoch einen grundsätzlichen Interessensverlust und eine pathologische Antriebsstörung feststellen können. Einschränkungen der kognitiven Fähigkeiten hat S2ebenfalls verneint und darauf hingewiesen, dass trotz der unvermeidbaren, nicht unerheblichen kognitiven und emotionalen Belastungen durch die beiden mehrstündigen Explorationssitzungen keine Zeichen für eine pathologisch reduzierte Belastbarkeit in kognitiver und emotionaler Hinsicht festzustellen gewesen sind. Im Widerspruch zu diesem klinisch weitgehend unauffälligen Befund hat sich die Klägerin in den Selbsteinschätzungsskalen als schwerst depressiv beschrieben, dem wiederum das Ergebnis der strukturierten Fremdbeurteilung mittels der Hamilton Depression Scale entgegensteht, welches lediglich für eine gering ausgeprägte depressive Symptomatik spricht. Zu Recht haben der M und S2darauf verwiesen, dass sich eine unkritische Übernahme der von der Klägerin gemachten Angaben verbietet, weil diese Angaben ebenso wie die Beschwerdeschilderung der subjektiven Einschätzung des jeweiligen Betroffenen unterliegen. Sowohl S2als auch der M haben auf deutliche aggravatorische Verhaltenstendenzen hingewiesen und deshalb zu Recht gefordert, dass hohe Anforderungen an die Erfüllung diagnostischer Kriterien zu stellen sind. Demgegenüber hat sich E mit den auch von ihm im Rahmen seiner Untersuchung festgestellten Widersprüchlichkeiten zwischen den Angaben der Klägerin und dem von ihm erhobenen Befund nicht auseinandergesetzt. Soweit er in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 27.11.2020 dann noch postuliert, bei der diagnostischen Einschätzung sei es nötig, sich auf die Angaben der Probandin zu veranlassen, setzt er sich über die Vorgaben der aktuell verbindlichen Leitlinie der AWMF zur Begutachtung psychischer und psychosomatischer Störungen (Registernummer 051/029) hinweg, wonach eine eingehende, explizit und nachvollziehbar dargelegte Beschwerdevalidierung zwingender Bestandteil jedes Gutachtens ist (AWMF 2019, Teil I, S. 10). Vor dem Hintergrund, dass die AWMF als Formulierung eines allgemeinen wissenschaftlichen Standards zu betrachten sind (vgl. BSG, Beschluss vom 22.12.2021, B 5 R 175/21 B und Urteil vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R, beide in juris), verbietet sich eine bloße Übernahme von Beschwerden ohne diese zu validieren.


Vor diesem Hintergrund können auch die Angaben der Klägerin zu ihrem Tagesablauf, wonach sie den ganzen Tag über müde sei, sich oft hinlege und nichts mache, nicht überzeugen. Diese Beschreibung steht auch in deutlichem Widerspruch dazu, dass sie kurz vor der Begutachtung durch den M mit ihrer Tochter im Urlaub in der Türkei war und dort zwei Wochen mit ihrer Mutter sowie ihrer Schwester im Hotel verbrachte, „was sehr schön gewesen sei, der Sonnenschein, einfach am Strand liegen, das Meer hören, das habe ihr gut getan“. Gegen eine depressive Störung spricht ferner die Behandlungsintensität; so stellt sich die Klägerin nach eigenen Angaben einmal im Quartal bei B vor und das auch nur, um sich Medikamente verschreiben zu lassen. Eine suffiziente ambulante Psychotherapie hat bislang nicht stattgefunden. Die verordneten Antidepressiva Amitriptylin und Mirtazapin nimmt die Klägerin offensichtlich nicht ein, wie die Serumspiegelbestimmung beim M ergeben hat. Zweifel an der Einnahme der Medikamente bestehen auch mit Blick auf die Angabe der Klägerin, die sedierenden Arzneimittel vormittags zu sich zu nehmen. Dieser Zeitpunkt erstaunt vor dem Hintergrund, dass die Klägerin eigenen Angaben zu Folge an Schlafstörungen leidet, umso mehr. Denn beide Medikamente wirken schlafanstoßend, sodass sie normalerweise zur Nacht verabreicht werden. Vor diesem Hintergrund haben die M und S2schlüssig und nachvollziehbar lediglich eine Dysthymie diagnostiziert und für den Senat überzeugend eine darüberhinausgehende depressive Erkrankung verneint.

Für die Bewertung der aus der chronischen Schmerzstörung und der Dysthmie folgenden Funktionsbeeinträchtigungen sind die VG, Teil B, Nr. 3.7 (Neurosen, Persönlichkeitsstörung, Folgen psychischer Traumen) zugrunde zu legen und nicht, wie von E favorisiert und fälschlicherweise als Grundlage für seine Einschätzung des GdB von 50 herangezogen, die Nr. 3.6 (schizophrene und affektive Psychosen). Die VG, Teil B, Nr. 3.6 sind schizophrenen Psychosen oder bipolaren Störungen vorbehalten (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 24.10.2018, L 3 SB 5/17, juris). Für die Subsumtion unter die VG, Teil B, Nr. 3.7 spricht bereits der dortige, insoweit eindeutige Wortlaut („z.B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen“). Unter Zugrundelegung der dortigen Beurteilungskriterien sind die Störungen der Klägerin auf nervenärztlichem Gebiet mit einem Einzel-GdB von 30, was bereits dem unteren Rahmenwert einer stärker behindernden Störung mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit entspricht, wohlwollend bewertet. Ein höherer Einzel-GdB lässt sich nicht rechtfertigen, zumal S2lediglich eine Dysthymie und keine chronische Schmerzstörung feststellen konnte und deshalb sogar nur einen Einzel-GdB von 20 für angemessen erachtet hat. Die von E vorgeschlagene Bewertung der Depression mit einem GdB von 50 ist mangels plausibler Befundung, fehlender Authentizitätsprüfung und angesichts der erwähnten Widersprüchlichkeiten in seinem Gutachten nicht nachvollziehbar und kann deshalb nicht überzeugen.

Vom Vorliegen einer Migräne konnte sich der Senat indessen nicht überzeugen. Zwar hat B in seiner Auskunft eine solche erwähnt, jedoch keinerlei Angaben zu einer migränespezifischen Therapie gemacht hat, was bei den nach Angaben der Klägerin zwei- bis viermal monatlich auftretenden schweren hochfrequenten und zwei bis vier Tage andauernden Kopfschmerzattacken nicht nachvollziehbar ist. Gegenüber S2 hat sie angegeben, dass sie kein Kopfschmerz-Tagebuch führe und auch noch nie davon etwas gehört habe; ferner hat sie sowohl gegenüber dem M als auch gegenüber S2 jegliche therapeutische Behandlungsversuche verneint.

Das Lipödem (Fettstoffwechselstörung) an den Beinen und geringfügiger an den Armen sowie das beginnende Lymphödem an beiden Beinen ist mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten. Nach den VG, Teil B, Nr. 9.2.3 ist ein Lymphödem an einer Gliedmaße ohne wesentliche Funktionsbehinderung und mit dem Erfordernis einer Kompressionsbandage mit einem GdB von 0 bis 10, mit stärkerer Umfangsvermehrung (mehr als 3 Zentimeter) je nach Funktionseinschränkung mit einem GdB von 20 bis 40 und mit erheblicher Beeinträchtigung der Gebrauchsfähigkeit der betroffenen Gliedmaße, je nach Ausmaß, mit einem GdB von 50 bis 70 zu bewerten. Hieraus folgt, dass nach den von den VG, Teil B, Nr. 9.2.3 vorgesehenen Kriterien für die GdB-Beurteilung von Lymphödemen allein auf die Funktionseinschränkung beziehungsweise Gebrauchsfähigkeit abzustellen ist. Eine Funktions- beziehungsweise Gebrauchsfähigkeitseinschränkung resultiert vorliegend aber aus dem an beiden Beinen bestehendem Lipödem und dem beginnenden Lymphödem gerade nicht. Dies hat L verneint und nur im Falle einer Verschlimmerung die Gefahr einer Bewegungseinschränkung beschrieben sowie als Therapie das konsequente Tragen einer Kompressionsbandage sowie Lymphdrainagen für ausreichend erachtet. Mithin ist das Lip-/Lympödem der Klägerin unter Berücksichtigung der von L befundeten Druckschmerzhaftigkeit und des beiderseitigen Auftretens an den Beinen mit einem GdB von 10 angemessen bewertet.

Die Beschwerden im Bereich der Wirbelsäule sind allenfalls mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten. So hat B1 darauf hingewiesen, dass die röntgenologische Untersuchung keinen wesentlichen pathologischen Befund gezeigt hat und von einer muskulären Problematik auszugehen ist. Eine weitere spezifische Behandlung hat B1 mit dem Hinweis auf eine Beschwerdefreiheit verneint und einen Einzel-GdB von 10 für angemessen erachtet.

Weitere GdB-relevante Funktionsbeeinträchtigungen sind nicht feststellbar, auch nicht im Bereich des linken Kniegelenkes. Insoweit hat B1 eine freie Beweglichkeit festgestellt und das Kniegelenk als reizlos beschrieben.

Ausgangspunkt für die Bewertung des Gesamt-GdB ist der führende Einzel-GdB von 30 für die Schmerzstörung und Dysthymie, der sich durch das Hinzutreten der mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewertenden Funktionsbeeinträchtigung durch das Lipödem und das beginnende Lymphödem an den Beinen auf 40 erhöht. Eine weitere Erhöhung durch den Einzel-GdB von 10 für das Wirbelsäulenleiden erfolgt entsprechend der Vorgaben in den VG, Teil A, Nr. 3 Buchst. d vorliegend nicht.

Damit ist der Gesamt-GdB hier zutreffend mit 40 bewertet worden.

Weitere medizinische Ermittlungen waren auch nicht mit Blick auf den Entlassbericht der A-Klinik vom 05.03.2020 veranlasst, nachdem E in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 27.11.2020, die sich gemäß seinen Angaben auf die vorgelegten Akten und eine frühere Untersuchung stützte, solche ausdrücklich verneint hat.


Dem hilfsweise gestellten Antrag der Klägerin, beide Sachverständigen des Berufungsrechtszuges zur Erörterung ihrer Gutachten gemeinsam zu laden und anzuhören, hilfsweise lediglich S2 oder lediglich E zu laden und zur Erörterung ihrer Gutachten anzuhören, war nicht Folge zu leisten.

Es steht grundsätzlich im Ermessen des Gerichts, ob es den Sachverständigen gemäß § 118 Abs. 1 SGG in Verbindung mit § 411 Abs. 3 Zivilprozessordnung (ZPO) zu einem Termin zur Erläuterung seines Gutachtens lädt oder nicht. Dieses Ermessen ist nur dann auf Null reduziert, wenn das Gutachten unklar oder sonst ergänzungsbedürftig ist oder das Gericht ohne eigene medizinische Sachkunde von den medizinischen Feststellungen und Einschätzungen des Sachverständigen abweichen will. Ferner setzt ein prozessordnungsgerechter Beweisantrag auf mündliche Erläuterung eines Gutachtens voraus, dass bezeichnet und dargetan wird, welche konkreten Punkte im Rahmen der erstrebten Anhörung des Sachverständigen geklärt werden sollen. Die höchstrichterliche Rechtsprechung verneint dies, wenn der Sachverständige die Fragen bereits beantwortet hatte oder wenn es dem Beteiligten nicht um die Behebung von Zweifeln im Zusammenhang mit einem schriftlich erstellten Gutachten geht, sondern nur auf die gerichtliche Überzeugungsbildung eingewirkt werden soll (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 13. Auflage, § 118, Rn. 12c bis 12f, m.w.N. auf die Rechtsprechung)
. Dem von Klägerseite eingereichten Schriftsatz vom 18.03.2022 sind sachdienliche Fragen nicht zu entnehmen. Vielmehr ist in diesem Schriftsatz lediglich zum Ausdruck gebracht worden, dass das Gutachten des E für überzeugender und schlüssiger erachtet wird, dieses in Einklang mit den zuletzt erhobenen Befunden und Diagnosen der behandelnden Ärzte, insbesondere dem Bericht über die stationäre Behandlung in der A Klinik vom 05.03.2020 stehe und S2auf diesen Bericht nicht eingegangen sei. Diese Ausführungen sind pauschal und benennen keinerlei Aspekte, zu denen E und/oder S2ergänzend gehört werden sollen, sodass der Senat nicht gehalten war, die Sachverständigen zu hören. Ob eine ergänzende Befragung von E, der bereits zu den von der Klägerin schriftlich formulierten Fragen unter dem 25.11.2021 bzw. 21.01.2022 Stellung genommen hat, schon deshalb nicht in Betracht kommt, weil das Recht auf Befragung eines Sachverständigen grundsätzlich nur mit Blick auf solche Gutachten besteht, die im selben Rechtszug erstattet worden sind (vgl. BSG, Urteil vom 03.03.1999, B 9 VJ 1/98 B, juris), kann deshalb offenbleiben. Ein weiterer Aufklärungs- und Ermittlungsbedarf ist mithin weder ersichtlich noch aufgezeigt worden.

Die Berufung bleibt nach alledem ohne Erfolg.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.

Rechtskraft
Aus
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