Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 19.04.2021 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 100.
Am 21.02.2018 stellte die 1957 geborene Klägerin bei dem Beklagten einen Erstantrag auf die Feststellung eines GdB. Sie leide an einer beidseitigen Schwerhörigkeit mit Ohrgeräuschen, einer Funktionsstörung im Handgelenk, einer psychischen Störung und einer Urininkontinenz.
Der Beklagte zog Befundberichte der behandelnden Ärzte bei. Der P berichtete mit Schreiben vom 17.04.2018 über eine hochgradige Innenohrschwerhörigkeit beidseits und legte ein Tonaudiogramm vom 24.10.2017 vor. Die K gab mit Schreiben vom 03.08.2018 an, die Klägerin habe sich wiederholt mit einer depressiven Symptomatik oder einer psychovegetativen Belastungsreaktion vorgestellt, wobei eine medikamentöse Behandlung empfohlen werde. Sie habe über eine Vergewaltigung berichtet und angegeben, unter starken Ängsten zu leiden. Weiter habe die Klägerin eine Beckenbodenschwäche angegeben. Über eine Funktionsbeeinträchtigung der Handgelenke lägen keine Befunde vor.
Der versorgungsmedizinische Dienst des Beklagten bewertete die Funktionsbeeinträchtigungen der Klägerin wie folgt:
Schwerhörigkeit GdB 70
Depression bzw. seelische Störung sowie psychovegetative Störungen GdB 30
Harninkontinenz GdB 10
Insgesamt GdB 90.
Das geltend gemachte Handgelenksleiden wurde als nicht nachgewiesen betrachtet.
Mit Bescheid vom 17.09.2018 stellte der Beklagte gestützt auf die versorgungsmedizinische Stellungnahme bei der Klägerin einen GdB von 90 seit 21.02.2018 und das Merkzeichen RF fest.
Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 01.04.2019 zurück.
Am 29.04.2019 hat die Klägerin Klage beim Sozialgericht Heilbronn (SG) erhoben. Sie leide an einer Depression und einer posttraumatischen Belastungsstörung. Sie sei nicht in der Lage, sich in therapeutische Behandlung zu begeben. Wegen der schweren Depression habe sie im Jahre 2010 ihre Tätigkeit als Buchhalterin aufgeben müssen. Bereits kleinste Schwierigkeiten des Alltags, wie etwa die Korrespondenz mit ihrer Prozessbevollmächtigten, würden sie aus der Bahn werfen. Die Klägerin reagiere oft wochen- oder monatelang nicht auf Schreiben oder Anrufe. Auch die Schwerhörigkeit und die Inkontinenz seien höher zu bewerten.
Die Klägerin hat ein weiteres Ton- und Sprachaudiogramm vom 10.07.2019 vorgelegt. Das SG hat die R als sachverständige Zeugin befragt. Diese hat mit Schreiben vom 27.10.2020 mitgeteilt, bei der Klägerin liege ein Knorpelschaden hinter der linken Kniescheibe bei einer Streckung/Beugung von 0/0/140°, ein Spreizfuß beidseits mit Metatarsalgie, eine Interphalangealgelenksarthrose des rechten Kleinfingers und eine Teilläsion des ulnaren Daumennervs links vor. Außerdem bestehe der ein Zustand nach einer distalen Unterschenkelfraktur links. Die Beugebelastung des linken Knies sei schmerzhaft eingeschränkt. Es bestünden Belastungsschmerzen im Vorfußballen beim Barfußlaufen und im Kleinfingerendgelenk rechts.
Mit Gerichtsbescheid vom 19.04.2021 hat das SG die Klage abgewiesen. Die Schwerhörigkeit sei mit einem Einzel-GdB von 70 zutreffend bewertet. Auch der Einzel-GdB von 30 für die psychischen Beeinträchtigungen sei zutreffend angenommen. Zwar stehe die fehlende Therapie der Annahme einer stärker behindernden Störung nicht entgegen und habe die Klägerin gewisse Schwierigkeiten, ihren Alltag zu organisieren, jedoch sei sie auch noch berufstätig und in der Lage, die Grundanforderungen des täglichen Lebens zu meistern.
Gegen den ihren Bevollmächtigten am 22.042021 zugestellten Gerichtsbescheid wendet sich die Klägerin mit ihrer am 21.05.2021 beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingelegten Berufung. Sie habe zwar jahrelang einen Marktstand gehabt, könne diese Tätigkeit jedoch nicht mehr ausüben. Auch sei eine deutliche Verschlechterung ihres psychischen Gesundheitszustandes durch die massiven Stalking-Attacken ihres ehemaligen Lebensgefährten eingetreten, der sie auch vergewaltigt habe. Ohne die Unterstützung ihrer Mutter, bei der sie lebe, sei sie nicht in der Lage, ihren Alltag zu strukturieren. Auch das Mandatsverhältnis sei dadurch geprägt, dass es die Klägerin eigentlich überhaupt nicht schaffe, auf Anfragen der Bevollmächtigten zu antworten. Hierfür sei mindestens ein Einzelgrad der Behinderung von 40 angezeigt. Auch im orthopädischen Bereich seien die Beschwerden der Klägerin nicht ausreichend berücksichtigt worden, wie R ausgeführt habe.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 19.04.2021 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 17.09.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.04.2019 zu verurteilen, bei ihr einen Grad der Behinderung von 100 seit 21.02.2018 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Der Gesamt-GdB sei mit 90 bereits maximal bemessen.
Ein geplanter Termin zur Erörterung des Sachverhaltes wurde auf Wunsch der Klägerin aufgehoben, da sie andernfalls ihrer Tätigkeit als Verkäuferin auf dem Wochenmarkt nicht nachgehen könne.
Die Beteiligten sind mit Schreiben vom 21.02.2022 darauf hingewiesen worden, dass der Senat nach § 153 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die Berufung durch Beschluss auf die Berichterstatterin übertragen kann, die dann zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern entscheidet. Diese Verfahrensweise sei auf Grund des derzeitigen Sach- und Streitstandes beabsichtigt. Den Beteiligten ist Gelegenheit eingeräumt worden, Stellung zu nehmen. Die Beteiligten haben keine Einwände erhoben.
Mit Beschluss des Senats vom 18.03.2022 ist die Berufung nach § 153 Abs. 5 SGG der Berichterstatterin übertragen worden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen sowie die vom Beklagten vorgelegte Verwaltungsakte verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die gemäß §§ 143 und 144 SGG statthafte und nach § 151 Abs. 1 SGG form- und fristgerechte und auch im Übrigen zulässige Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des SG vom 19.04.2021, über die nach Übertragung durch den Senat gemäß § 153 Abs. 5 SGG die Berichterstatterin zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern zur Entscheidung berufen war, ist unbegründet.
Streitgegenständlich ist vorliegend der Gerichtsbescheid des SG vom 19.04.2021, mit dem die Klage der Klägerin, gerichtet auf die Zuerkennung eines GdB von 100 unter Abänderung des dies ablehnenden Bescheides vom 17.09.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.04.2019, abgewiesen worden ist.
Das SG hat die rechtlichen Voraussetzungen für die Feststellung eines (höheren) GdB zutreffend dargelegt und mit gleichfalls zutreffender Begründung das Vorliegen eines höheren GdB als 90 verneint, insb. hat das SG auch die seitens R abgegebene Zeugenaussage zutreffend bewertet. Der Senat sieht, auch da keine neuen medizinischen Tatsachen vorgetragen wurden, insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab und weist die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung als unbegründet zurück (§ 153 Abs. 2 SGG).
Das Vorbringen der Klägerin im Berufungsverfahren rechtfertigt keine abweichende Beurteilung. Lediglich ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass die Bewertung der Beeinträchtigungen im Bereich Nervensystem und Psyche mit einem Einzel-GdB von 30 zutreffend erfolgt ist. Ein höherer Einzel-GdB kommt keinesfalls in Betracht. Die Bewertung richtet sich, wie auch das SG dargelegt hat, nach den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VG), Teil B, Nr. 3.7. Danach sind leichtere psychovegetative oder psychische Störungen mit einem Einzel-GdB von 0 bis 20, stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) mit einem Einzel-GdB von 30 bis 40, schwere Störungen (z. B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten mit einem Einzel-GdB von 50 bis 70 und mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten mit einem Einzel-GdB von 80 bis 100 zu bewerten. Dabei ordnet der Senat, wie auch das SG, der Beklagte und die Bevollmächtigte der Klägerin die psychischen Beeinträchtigungen als stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit ein, die mit einem Einzel-GdB von 30 bis 40 zu bewerten sind. Jedoch ist nach Auffassung des Senats der vorgegebene Rahmen nicht voll auszuschöpfen, da die Klägerin zwar nach ihrem Vortrag, unter einer Depression sowie nach einer Vergewaltigung an Silvester 2015 an einem posttraumatischen Belastungssyndrom leidet. In psychiatrischer Behandlung befindet sie sich jedoch nicht. Auch die seitens der Hausärztin angeratene medikamentöse Therapie findet nicht statt, so dass der Senat insgesamt den Leidensdruck als eher gering einschätzt. Der Senat vermag nicht zu erkennen, dass eine adäquate Behandlung krankheitsbedingt nicht durchgeführt werden kann, da gerade die Schwere der Erkrankung die Klägerin an der Aufnahme einer adäquaten Therapie hindern würde. Die Klägerin konnte sich ihrer Hausärztin und ihrer Bevollmächtigten gegenüber auch im Hinblick auf die Depression und die Vergewaltigung öffnen und hatte auch keine Probleme, seit 2012 insgesamt 25 Mal ihre Orthopädin aufzusuchen. Selbst wenn jedoch unterstellt würde, dass eine Behandlung krankheitsbedingt nicht erfolgen konnte, kommt ein höherer Einzel-GdB als 30 nicht Betracht, da die der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit nicht soweit eingeschränkt ist. Zwar hat die Klägerin, wie das SG ausgeführt hat, gewisse Probleme, ihren Alltag zu meistern. Andererseits ist sie jedoch nach ihrem eigenen Vortrag noch in der Lage, als Verkäuferin auf dem Wochenmarkt tätig zu sein, einer Tätigkeit also, die neben erheblicher Kommunikation auch organisatorische Fähigkeiten sowie die Fähigkeit, zu rechnen, erfordert. Auch war die Klägerin selbst in der Lage, vor dem geplanten Erörterungstermin beim LSG Baden-Württemberg anzurufen, den Sachverhalt zu schildern und um Terminsverlegung zu bitten.
Nach alledem bildet die Bewertung mit einem Gesamt-GdB von 90 das Ausmaß der bei der Klägerin vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen angemessen ab. Die Voraussetzungen für einen höheren GdB liegen nicht vor. Der Gerichtsbescheid des SG ist nicht zu beanstanden.
Ob die Klägerin, der ein Gesamt-GdB von 90 zuerkannt wurde, durch das „soziale Netz des Sozialstaats“ gefallen ist, ist nicht Gegenstand dieses Verfahrens und hieran vermag auch ein Gesamt-GdB von 100 statt 90 nichts zu ändern.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
12.
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 5 SB 1656/19
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 12 SB 1774/21
Datum
3. Instanz
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Aktenzeichen
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Datum
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Kategorie
Urteil
Rechtskraft
Aus
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