Erledigt sich ein Rechtsstreit vor der Stellungnahme des Prozessgegners und damit vor der Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfeantrags, ist Prozesskostenhilfe zu gewähren, wenn vor dem erledigenden Ereignis die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowie ein hinreichend substantiierter Antrag vorgelegen haben und hinreichende Erfolgsaussichten der Rechtsverfolgung bestanden haben.
Dies folgt aus dem Zweck der Prozesskostenhilfe, die Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes weitgehend anzugleichen, weshalb dem Antragsteller in derartigen Fällen nicht das Risiko aufgebürdet werden darf, die Kosten für den Rechtsstreit zu tragen.
Kostenerstattungsansprüche, über die gemäß § 193 Sozialgerichtsgesetz unabhängig von der Bewilligung der Prozesskostenhilfe zu entscheiden ist, können das Kostenrisiko eben deshalb nicht hinreichend zuverlässig ausschließen.
1. Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Mainz vom 04.08.2022 aufgehoben. Dem Antragsteller wird für das vorläufige Rechtsschutzverfahren S 12 AS 315/22 ER Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt H gewährt.
2. Die Gewährung von Prozesskostenhilfe für dieses Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.
Gründe:
1. Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Mainz vom 04.08.2022 ist zulässig und begründet.
Dem Antragsteller ist für das nach Bewilligung der beantragten Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) erledigte einstweilige Anordnungsverfahren Prozesskostenhilfe (PKH) zu gewähren.
Hinsichtlich der Voraussetzungen der Gewährung von PKH wird zur Vermeidung von Wiederholungen gemäß § 142 Abs. 2 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf die Gründe der angefochtenen Entscheidung verwiesen.
Zutreffend hat das Sozialgericht auch ausgeführt, dass es für die Prüfung der Erfolgsaussichten der Prozessführung grundsätzlich auf den Zeitpunkt der Entscheidungsreife des PKH-Antrags ankommt. Diese Entscheidungsreife tritt frühestens ein, wenn neben dem Antrag die formgerechte Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vorliegt (vgl. Beschlüsse des Bundessozialgerichts –BSG- vom 23.12.2010 -B 7 AL 36/10 BH- und vom 04.12.1997 -11 BH [Ar] 43/97- und Bundesverfassungsgericht –BverfG-, Kammerbeschluss vom 13.04.1988 -1 BvR 392/88- , juris), und die übrigen Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme hatten, wie sich aus § 73a SGG iVm. § 118 Abs. 1 Satz 1 Zivilprozessordnung –ZPO- ergibt.
Dies war hier, wie das Sozialgericht ebenfalls zutreffend angenommen hat, am 02.08.2022 der Fall. Zu diesem Zeitpunkt war durch die gleichzeitige Erklärung des Antragsgegners, dem Antragsteller durch Bescheid vom selben Tag die beantragten Leistungen zu gewähren, kein Rechtsschutzbedürfnis mehr für den einstweiligen Anordnungsantrag gegeben, sodass zum Zeitpunkt der Entscheidungsreife keine Erfolgsaussichten mehr bestanden.
Hier liegen jedoch Umstände vor, die dazu führen, dass der maßgebliche Beurteilungszeitpunkt vorzuverlagern ist. Solches kann generell in Betracht kommen, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass durch das Verhalten des Prozessgegners der Zeitpunkt der Entscheidungsreife hinausgezögert worden ist und sich zwischenzeitlich die Erfolgsaussichten der Prozessführung ändern. Es würde eine ungerechtfertigte Benachteiligung des PKH-Antragstellers darstellen, wenn er wegen dieses Verhaltens des Prozessgegners kein PKH mehr erhalten würde, unabhängig davon, ob die Erledigung durch den Prozessgegner veranlasst war oder aufgrund sonstiger Umstände eingetreten ist.
Zwar ist hier eine solche Verzögerung nicht festzustellen. Das Sozialgericht hat dem Antragsgegner den am 25.07.2022 eingegangen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Stellungnahme bis zum 02.08.2022 übersandt; an diesem Tag ist die Erwiderung des Antragsgegners mit der Verwaltungsakte bei Gericht eingegangen. Da der Antragsgegner unter diesem Datum auch den Leistungsbewilligungsbescheid erlassen hat, ist damit gleichzeitig das Rechtsschutzinteresse weggefallen. Wie das Sozialgericht dargelegt hat, kommt es insoweit nicht darauf an, wann der Bescheid dem Antragsteller bekanntgegeben und damit wirksam geworden ist. Der Antragsgegner hat deutlich gemacht, dass er den Anspruch des Antragstellers befriedigen wird, sodass für die Durchführung eines gerichtlichen Verfahrens kein Bedürfnis mehr bestanden hat.
Der Senat hält es vorliegend dennoch für angemessen, für die Entscheidung über die PKH ausnahmsweise auf einen früheren Zeitpunkt abzustellen, und zwar unabhängig davon, ob der Antragsgegner mit Hinblick auf das Anordnungsverfahren am 02.08.2022 über die Leistungsbewilligung entschieden hat oder die Tatsache auf andere Umstände zurückzuführen ist. Das BVerfG hat in seinem Kammerbeschluss vom 16.04.2019 – 1 BvR 2111/17 -, juris, entschieden, dass im Fall eines bewilligungsreifen PKH-Antrags bei der Prüfung der Erfolgsaussichten des Verfahrens eine Erledigung nicht ohne Weiteres zu Lasten der Antragsteller berücksichtigt werden darf: Durch die Gewährung von PKH soll die Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes weitgehend angeglichen werden. Dem liefe es zuwider, würde PKH im Fall der Erledigung trotz Bewilligungsreife des PKH-Antrags und trotz im Zeitpunkt der Bewilligungsreife hinreichender Erfolgsaussicht nicht gewährt. Dann stünden Unbemittelte stets vor dem Risiko, wegen einer für sie nicht sicher vorhersehbaren Erledigung Kosten eines bis dahin an und für sich hinreichend erfolgversprechenden Verfahrens tragen zu müssen. Das BVerfG hat daraus den Schluss gezogen, dass bei Erledigung des Verfahrens vor Entscheidung über den PKH-Antrag auf den Zeitpunkt der Bewilligungsreife abzustellen ist.
Ob und wieweit das BVerfG zwischen den Begriffen Entscheidungsreife und Bewilligungsreife unterscheidet, ergibt sich aus dem genannten Beschluss nicht eindeutig. In einem (dort unter Rdnr. 25 zitierten) früheren Beschluss des BVerfG vom 14.04.2010 - BvR 362/10 -, juris) heißt es zum Anspruch auf rückwirkende Bewilligung von PKH nach Abschluss der Instanz, dieser setze voraus, dass der PKH-Antrag zum Zeitpunkt der Erledigung des Verfahrens „im Sinne der Bewilligung entscheidungsreif war“ (Rdnr. 14). Sowohl der Wortsinn als auch die maßgeblichen Erwägungen sprechend dafür, den Begriff Bewilligungsreife entsprechend zu verstehen (wobei die Erfolgsaussichten vom BVerfG im Beschluss vom 16.04.2019 offensichtlich als davon unabhängiger eigenständiger Punkt gesehen werden.) Letztlich bedeutet dies nach Auffassung des erkennenden Senats, dass die übrigen Voraussetzungen für die Gewährung von PKH, also ein hinreichend substantiierter Antrag und die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse, gegeben sein müssen.
Die vom BVerfG zum Fall der Erledigung des Rechtsstreits vor der Entscheidung über den PKH-Antrag angeführten Gesichtspunkte müssen auch Anwendung finden, wenn die Erledigung eintritt, bevor die Stellungnahme des Prozessgegners eingegangen ist. Es darf sich nicht zu Lasten des Antragstellers auswirken, wenn der Prozessgegner angesichts des angestrengten Prozesses schnell entscheidet; ebenso darf es nicht zu seinen Lasten gehen, wenn der Rechtsstreit sich zufällig noch vor der Bewilligungsreife des PKH-Antrags erledigt. Wie dargelegt, hat das BVerfG in der zitierten Entscheidung darauf abgestellt, dass Unbemittelte stets vor dem Risiko stehen würden, wegen einer für sie nicht sicher vorhersehbaren Erledigung Kosten eines bis dahin an und für sich hinreichend erfolgversprechenden Verfahrens tragen zu müssen, wenn PKH im Fall der Erledigung trotz Bewilligungsreife des PKH-Antrags und trotz im Zeitpunkt der Bewilligungsreife hinreichender Erfolgsaussicht nicht gewährt würde. Dieses Kostenrisiko erschwert Unbemittelten im Vergleich zu Bemittelten den Zugang zum Rechtsschutz und verstößt gegen die verfassungsrechtlich verbürgte Rechtsschutzgleichheit.
Unter Anwendung dieser Grundsätze hält es der Senat für angebracht, hier auf die Erfolgsaussichten unmittelbar vor Eintritt des erledigenden Ereignisses abzustellen, auch wenn wegen noch ausstehender Erwiderung und Aktenvorlage durch den Antragsgegner noch keine Bewilligungsreife im obigen Sinn vorgelegen hat. Anderenfalls würde wiederum dem rechtsschutzsuchenden Antragsteller das Risiko aufgebürdet, dass sich das Verfahren (sei es durch gezieltes Verhalten des Antragsgegners oder rein zufällig) noch vor diesem Zeitpunkt erledigt. Zwar könnte man derartigen Fällen im Rahmen der bei einer unstreitigen Erledigung des Rechtstreits ggf. zu treffenden gerichtlichen Kostenentscheidung nach § 193 Abs. 1 Satz 3 SGG Rechnung tragen, bei der auch zu berücksichtigen ist, ob und wieweit einer der Beteiligten Anlass zur Prozessführung gegeben hat und wie die Erfolgsaussichten vor dem erledigenden Ereignis waren. Allerdings ist diese Entscheidung von der über die PKH-Bewilligung unabhängig und es steht mithin nicht fest, wie eine solche im konkreten Fall aussehen würde. Insoweit hat das BVerfG in Beschluss vom 16.04.2019 auch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Kostenerstattungsansprüche das Kostenrisiko nicht hinreichend zuverlässig ausschließen.
Einer derartigen Vorverlagerung des maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt steht hier auch nicht entgegen, dass der Antragsteller selbst den Zeitpunkt des Eintritts des erledigenden Ereignisses entscheidend beeinflusst hätte (siehe dazu auch die nachfolgenden Ausführungen zum Rechtsschutzbedürfnis).
Die für die Bewilligung von PKH zum maßgeblichen (vorverlagerten) Zeitpunkt, hier also unmittelbar vor dem Entfallen des Rechtsschutzinteresses durch den Hinweis des Antragsgegners auf die Bewilligung der Leistungen durch den unter dem 02.08.2022 gefertigten Bescheid, erforderlichen sonstigen Voraussetzungen für die Gewährung von PKH lagen vor. Die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse und ein hinreichend substantiierter Antrag waren zuvor eingereicht worden (siehe oben zum Begriff der Bewilligungsreife). Auf diese Voraussetzungen kann nicht verzichtet werden: Wenn das erledigende Ereignis zufällig eintritt, bevor die notwendigen Unterlagen bei Gericht eingegangen sind, mag auch dies für den Rechtssuchenden nicht vorhersehbar gewesen sein, da es aber ihm obliegt, diese vorzulegen, ist dieses Risiko seiner Sphäre zuzurechnen.
Zu diesem Zeitpunkt haben auch hinreichende Erfolgsaussichten für den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG bestanden. Danach sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint, wobei Anordnungsanspruch (materieller Anspruch) und Anordnungsgrund (Notwendigkeit des Eilverfahrens zur Abwendung wesentlicher Nachteile) glaubhaft zu machen sind (§ 86b Abs. 4 GG iVm. § 920 ZPO).
Dass ein Anordnungsanspruch auf Bewilligung der beantragten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes bestand, ergibt sich bereits aus der Tatsache, dass der Antragsgegner dem Antragsteller die beantragten Leistungen durch Bescheid vom 02.08.2022 gewährt hat. Auch von einem Anordnungsgrund ist auszugehen. Der Antragsteller hat mit seiner Antragsschrift an das Sozialgericht vom 25.07.2022 dargelegt, dass er im Mai 2022 bereits einen Antrag auf Leistungen nach dem SGB II gestellt habe, eine Entscheidung aber bisher vom Antragsgegner nicht getroffen worden sei, womit ihm auch die Mittel für dringend benötigte Medikamente fehlten.
Ein Rechtsschutzbedürfnis für die Stellung des einstweiligen Anordnungsantrags kann dem Antragsteller bei Antragstellung bis zum erledigenden Schreiben vom 02.08.2022 auch nicht abgesprochen werden. Wie sich aus der Erwiderung des Antragsgegners vom 02.08.2022 und dem Inhalt der Verwaltungsakte ergibt, ist die Entscheidung über den Antrag auf Leistungen nach dem SGB II nicht früher ergangen, weil der Antragsgegner auf die Vorlage von Unterlagen, zuletzt noch auf einen Aufhebungsbescheid des Jobcenters R -K N wartete, von wo der Antragsteller bis April 2022 Leistungen erhalten hatte. Der Vortrag des Antragsgegners in der Antragserwiderung vom 02.08.2022, die fehlende Bescheidung des Antrags habe im Wesentlichen darauf beruht, dass der Antragsteller entgegen seiner Zusage den Aufhebungsbescheid des vorherigen Leistungsträgers nicht vorgelegt habe, ist so aber nicht nachvollziehbar. In der Verwaltungsakte findet sich lediglich ein stichwortartiger Vermerk vom 04.07.2022, wonach der Antragsteller dem Antragsgegner gegenüber telefonisch erklärt hatte, den Aufhebungsbescheid vom Jobcenter N „nach Erhalt“ einreichen zu wollen. Daraus ergibt sich, dass der Antragsteller einen solche noch gar nicht hatte. Eine Zusage, diesen vorzulegen, ist seiner Aussage schon deswegen nicht zu entnehmen. Dass der Antragsteller über einen solchen Aufhebungsbescheid nicht verfügte, wird auch durch die jüngsten Aktenvorgänge bestätigt. Der dort enthaltene Bescheid des Jobcenters R -K N trägt nämlich das Datum 27.07.2022. Er wurde dem Antragsgegner von dort zugesandt, nachdem dieser sich unter dem 26.07.2022 - unter explizitem Hinweis auf das einstweilige Anordnungsverfahren - an das Jobcenter R -K N gewandt hatte. Warum der Antragsgegner nicht früher eine solche Anfrage an das Jobcenter R -K N gerichtet hat, ist nicht erkennbar. Letztlich ist es damit nicht dem Verantwortungsbereich des Antragstellers, sondern des Antragsgegners zuzurechnen, dass er sich am 25.07.2022 an das Sozialgericht wenden musste, was dann ja auch zum Tätigwerden des Antragsgegners geführt hat.
2. Kosten des Beschwerdeverfahrens sind gemäß § 73aSGG iVm. § 127 Abs. 4 ZPO nicht zu erstatten.
3. Die Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren kommt nicht in Betracht (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. auch OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 3.07.2017 – OVG 10 M 11.15; LSG Thüringen, Beschluss vom 06.07.2012 – L 9 AS 896/12 B).
4. Diese Entscheidung ist unanfechtbar, § 177 SGG.