L 4 KR 195/20

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 7 KR 627/18
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 4 KR 195/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Art. 1 Buchst. i) Nr. 1 ii) der Verordnung (EG) 883/2004 verweist lediglich hinsichtlich der Frage, ob eine Person als Familienmitglied zu qualifizieren ist, auf die Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaates. Ob eine Person, die nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaates als Familienmitglied anerkannt ist, darüber hinaus auch die rechtlichen Voraussetzungen für eine Familienversicherung im Wohnmitgliedstaat erfüllt, ist im Rahmen des Art. 1 Buchst. i) Nr. 1 ii) der Verordnung (EG) 883/2004 unbeachtlich.

 

I. Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 28. April 2020 wird zurückgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten

III. Die Revision wird nicht zugelassen.


T a t b e s t a n d :

Der Kläger und Berufungsbeklagte begehrt von der beklagten Krankenkasse und Berufungsklägerin Sachleistungsaushilfe zu Lasten des Polnischen Nationalen Gesundheitsfonds (NFZ) über den 26.04.2017 hinaus.

Der 2014 geborene Kläger, der die polnische und deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, lebt mit seinen Eltern in Deutschland. Seine (polnische) Mutter ist Mitinhaberin einer in Polen ansässigen Kapitalgesellschaft mit einem Gesellschaftsanteil von 50 Prozent. Sie ist beim NFZ krankenversichert und erhält von der Beklagten im Wege der Sachleistungsaushilfe Sachleistungen im Auftrag der polnischen Krankenversicherung über die Bescheinigung E 106. Der Kläger war ab seiner Geburt über seine Mutter beim NFZ familienversichert und wurde ebenfalls von der Beklagten im Auftrag der polnischen Krankenkasse betreut. Sein Vater ist in Deutschland privat krankenversichert.

Mit Schreiben vom 02.03.2017 hörte die Beklagte die Mutter des Klägers zur Beendigung der Familienversicherung ihres Sohnes "wegen fehlender Mitwirkung" an. Die Mutter des Klägers teilte hierzu mit, dass sie als Miteigentümerin eines in Polen ansässigen und tätigen Unternehmens beim NFZ pflichtversichert sei und in Polen uneingeschränkt Anspruch auf eine Familienversicherung ihres Sohnes habe. Nachdem Deutschland nur ihr Wohnort sei, seien nach der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 die Regelungen des § 10 SGB V nicht anwendbar. Sie bitte um Bestätigung der Weiterführung der Familienversicherung im Rahmen des EU-Abkommens. Die Beklagte erläuterte daraufhin, dass im Rahmen der Überprüfung der Betreuung des Klägers die deutschen Rechtsvorschriften anzuwenden seien - dies sei in Bezug auf die Familienversicherung des Klägers die Vorschrift des § 10 SGB V. Die Sachleistungsaushilfe und die Prüfung der Familienversicherung richteten sich nach dem Recht des Wohnstaates.

Nachdem die Beklagte darüber in Kenntnis gesetzt worden war, dass der Vater des Klägers im Jahr 2016 ein Einkommen in Höhe von 79.745,78 Euro gehabt hatte, stellte sie mit streitigem Bescheid vom 27.04.2017 fest, dass die Familienversicherung für den Kläger mit dem 26.04.2017 beendet sei. Ein Kind könne nicht kostenfrei familienversichert werden, wenn der mit den Kindern verwandte Ehegatte nicht Mitglied einer Krankenkasse sei, sein Gesamteinkommen im Monat regelmäßig über 1/12 der Jahresarbeitsentgeltgrenze liege und dieses regelmäßig das Gesamteinkommen des gesetzlich krankenversicherten Ehegatten übersteige.

Den dagegen erhobenen Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 13.03.2018 zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Kreis der anspruchsberechtigten Familienangehörigen sich nach dem Recht des Wohnstaates richte. Dies ergebe sich aus Art. 1 Buchst. i) Nr. 1 ii) VO 883/2004. Folglich sei die deutsche Regelung über den Ausschluss der Familienversicherung gemäß § 10 Abs. 3 SGB V anzuwenden.

Dagegen hat der Kläger Klage zum Sozialgericht München (SG) erhoben. Sein Prozessbevollmächtigter hat geltend gemacht, dass § 10 Abs. 3 SGB V nicht anwendbar sei, weil insoweit die Regelungen der VO (EG) 883/2004 entgegenstünden. Die Frage, ob der Kläger über seine Mutter familienversichert sei, bestimme sich nach polnischen Rechtsvorschriften. Nach polnischen Recht seien die Kinder grundsätzlich im Rahmen der Familienversicherung über die Eltern mitversichert, unabhängig von deren Einkommen oder anderen Faktoren. Zudem wurde auf eine Stellungnahme des NFZ vom 30.09.2019 verwiesen.

Die Beklagte hat unter Bezugnahme auf ein Merkblatt des GKV-Spitzenverbandes für Grenzgänger vorgetragen, dass sich der Kreis der anspruchsberechtigten Familienangehörigen und der Leistungsumfang gemäß den Regelungen der VO 883/2004 nach dem Recht des Wohnstaates richte. Somit habe der Träger des Wohnortstaates - im vorliegenden Fall Deutschland - zu prüfen, wer nach seinen Rechtsvorschriften familienversichert werden könne. Maßgeblich seien insoweit die deutschen krankenversicherungsrechtlichen Vorschriften.
Soweit die Auffassung vertreten werde, dass Art. 1 Buchst. i) Nr. 1 ii) der VO 883/2004 nur den Begriff "Familienangehöriger" selbst nach dem Recht des Wohnstaates definiere und die materiell-rechtliche Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen für eine Familienversicherung des Familienangehörigen nicht nach dem Recht des Wohnstaates, sondern nach dem Recht des Beschäftigungsstaates zu erfolgen habe, sei dies nicht konform mit dem aktuell gültigen EU-Recht. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 08.06.1995 (C-451/93 - Delavant) sei aufgrund der Regelungen der VO 883/2004 überholt.
Außerdem könne eine Betreuung über die Wohnortbescheinigung E 106 bei einer deutschen gesetzlichen Krankenkasse nicht stattfinden, solange einer der in Deutschland gemeinsam mit den Kindern wohnenden Elternteile in Deutschland beschäftigt und selbst versichert sei. Denn ein aus dem Wohnort abgeleiteter Anspruch auf eine Familienversicherung sei gegenüber einer Betreuung über die Wohnortbescheinigung E 106 vorrangig. Der Vater des Klägers wohne wie der Kläger in Deutschland und sei dort privat krankenversichert. Der Kläger sei daher vorrangig über den Vater in Deutschland mitzuversichern.

Das SG hat die Beklagte mit Gerichtsbescheid vom 28.04.2020 verurteilt, den Kläger im Wege der Sachleistungsaushilfe im Auftrag des NFZ über den 26.04.2017 hinaus zu versorgen. Der Anspruch ergebe sich aus Art. 17 VO 883/2004, wonach ein Versicherter oder seine Familienangehörigen, die in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat wohnen, in dem Wohnmitgliedstaat Sachleistungen, die vom Träger des Wohnorts nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften für Rechnung des zuständigen Trägers erbracht werden, erhalten, als ob sie nach diesen Rechtsvorschriften versichert wären.

Die Mutter des Klägers sei nach polnischem Recht beim NFZ krankenversichert. Der Kläger sei Familienangehöriger im Sinne von Art. 1 Buchst. i) Nr. 1 ii) VO 883/2004, da er als Minderjähriger die Voraussetzungen des § 10 Abs. 2 Nr. 1 SGB V für die Familienversicherung erfülle. Der Ausschlusstatbestand des § 10 Abs. 3 SGB V komme im Fall der Sachleistungsaushilfe nach Art. 1 Buchst. i) Nr. 1 ii) i.V.m. Art. 17 VO 883/2004 nicht zur Anwendung.

Gemäß dem Wortlaut des Art. 1 Buchst. i) Nr. 1 ii) VO 883/2004 sei Familienangehöriger in Bezug auf Sachleistungen nach Titel III Kapitel 1 über Leistungen bei Krankheit jede Person, die in den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem sie wohnt, als Familienangehöriger bestimmt oder anerkannt werde oder als Haushaltsangehöriger bezeichnet werde.

Die Regelung des § 10 Abs. 3 SGB V diene der Systemabgrenzung zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung (Becker/Kingreen/Just, 6. Aufl. 2018, SGB V § 10 Rn. 43) und zähle damit zu den Besonderheiten des nationalen Rechts, die in anderen Mitgliedsstaaten keine Entsprechung fänden. Vom Wortlaut des Art. 1 Buchst. i) Nr. 1 Ziff. Ii) VO 883/2004 sei diese Regelung nicht zwingend umfasst, da § 10 Abs. 3 SGB V dem Wortsinn nach keine Bestimmung oder Anerkennung von Familienangehörigen vornehme. Für die restriktive Auslegung des Art. 1 Buchst. i) Nr. 1 ii) VO 883/2004 sprächen systematische Gründe, die auch die Leitlinie für den EuGH (Urteil vom 08.06.1995 - C-451/93) gewesen seien und die Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union schützten.

Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Berufung erhoben.

Sie hat vorgetragen, dass der vom in Deutschland privat versicherten Vater abgeleitete Anspruch des Klägers nach Art. 32 VO 883/2004 vorrangig und der Kläger daher privat zu versichern sei.
Sofern man Art. 32 VO 883/2004 vorliegend nicht für anwendbar halte, fehle es an einer ausdrücklichen Regelung für Kinder in der VO 883/04. Es bestünde dann eine unbewusste Regelungslücke hinsichtlich des Falls, dass ein Familienangehöriger Berührungspunkte zum System der sozialen Sicherheit zweier Mitgliedstaaten aufweise. In Art. 19 Abs. 2 der vormals geltenden VO 1408/71 sei für den Fall, dass ein Familienangehöriger Berührungspunkte zu zwei Mitgliedstaaten aufweise, wovon einer der Wohnmitgliedstaat war, geregelt gewesen, dass der Wohnmitgliedstaat für die Versicherung des Familienangehörigen zuständig sei. Gehe man von einem redaktionellen Versehen aus, wäre der Kläger somit in Deutschland zu versichern.
Gehe man nicht von einer Regelungslücke aus, sei der Auffangtatbestand des Art. 11 Abs. 3 Buchst. e) VO 883/2004 einschlägig, wonach der Kläger den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaates unterliege.
Zudem gehe die Auffassung fehl, dass § 10 Abs. 3 SGB V unter der Geltung der VO 883/04 nicht anwendbar sei. Nach der Definition des Begriffs des Familienangehörigen werde in Art. 1 Buchst. i) Nr. 1 ii) VO 883/2004 in Bezug auf Sachleistungen bei Krankheit explizit auf die Rechtsvorschriften des Wohnstaates abgestellt. Der Ausschlusstatbestand des § 10 Abs. 3 SGB V müsse daher Anwendung finden. Die unter der Geltung der VO 1408/71 ergangene Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 08.06.1995 (Delavant) könne nicht mehr herangezogen werden.

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat seinen bisherigen Vortrag im Wesentlichen wiederholt.

In der mündlichen Verhandlung am 19.01.2023 hat der Vater des Klägers angegeben, dass seine Frau von der in Polen ansässigen Kapitalgesellschaft, bei der sie Mitgesellschafterin sei, keine Vergütung erhalte, sondern ausschließlich Kapitalerträge beziehe. Der Aufwand seiner Frau für die Firma sei in zeitlicher Hinsicht gering und werde telefonisch erledigt. Seine Frau fahre zwei bis dreimal im Jahr zur Firma in Polen, zusammen mit ihrer Familie und zumeist verbunden mit Fahrten an den Feiertagen, und halte sich dann in Polen jeweils circa eine Woche auf. Der Rechtsstreit ist sodann vertagt worden.

In der mündlichen Verhandlung am 30.03.2023 beantragt die Beklagte,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 28.04.2020 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 27.04.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.03.2018 abzuweisen.

Der Kläger beantragt,
      die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Berufungsakte sowie der beigezogenen Akten des Sozialgerichts und der Beklagten Bezug genommen.


E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Die form- und fristgerecht (§§ 143, 151 SGG) erhobene Berufung der Beklagten ist zulässig, in der Sache aber unbegründet.

Das Sozialgericht München hat der Klage zu Recht stattgegeben. Die streitgegenständlichen Bescheide der Beklagten verletzen den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat über den 26.04.2017 hinaus Anspruch auf Versorgung im Wege der Sachleistungsaushilfe zu Lasten des NFZ.

Wie das SG zutreffend dargelegt hat, ergibt sich der Anspruch aus Art. 17 VO 883/2004, wonach ein Versicherter oder seine Familienangehörigen, die in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat wohnen, in dem Wohnmitgliedstaat Sachleistungen, die vom Träger des Wohnorts nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften für Rechnung des zuständigen Trägers erbracht werden, erhalten, als ob sie nach diesen Rechtsvorschriften versichert wären. Als Familienangehöriger seiner Mutter, die Versicherte im Sinne von Art. 17 VO 883/04 ist, erfüllt der Kläger diese Voraussetzungen.

Nach Art. 1 Buchst. c) VO 883/2004 bezeichnet der Ausdruck "Versicherter" in Bezug auf die von Titel III Kapitel 1 und 3 erfassten Zweige der sozialen Sicherheit - dazu gehören u.a. Leistungen bei Krankheit - jede Person, die unter Berücksichtigung der Bestimmungen dieser Verordnung die für einen Leistungsanspruch nach den Rechtsvorschriften des gemäß Titel II zuständigen Mitgliedstaats vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt.

Art. 11 Abs. 1 VO 883/04, welche die erste Norm des Titels II darstellt, enthält den Grundsatz, dass Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaates unterliegen, welcher sich nach den Normen des Titels II bestimmt. Im vorliegenden Fall sind der Kläger und seine Mutter Staatsangehörige eines Mitgliedstaates, sodass der persönliche Geltungsbereich nach Art. 2 VO 883/04 jeweils erfüllt ist. Auch der sachliche Geltungsbereich ist hier nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. a) VO 883/04 jeweils eröffnet.

Personen, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder eine selbständige Tätigkeit ausüben, unterliegen nach Art. 11 Abs. 3 Buchst. a) vorbehaltlich der Art 12 bis 16 VO 883/04 den Vorschriften dieses Mitgliedstaates. Eine selbständige Tätigkeit ist nach Art. 1 Buchst. b) VO 883/04 jede Tätigkeit oder gleichgestellte Situation, die nach dem Recht des Mitgliedstaates, in dem sie ausgeübt wird, als solche gilt. Bei selbständiger Tätigkeit in zwei Mitgliedstaaten kommt es auf den wesentlichen Teil der Tätigkeit an (Art. 13 Abs. 2 VO 883/04).

Im vorliegenden Fall unterliegt die Mutter des Klägers schon allein im Hinblick auf die vom polnischen Träger ausgestellte Bescheinigung E 106 den Vorschriften des Mitgliedstaates Polen. Sie ist beim NFZ krankenversichert und erfüllt die nach polnischem Recht vorgesehenen Voraussetzungen für einen Leistungsanspruch im Bereich der Krankenversicherung. Sie ist damit Versicherte im Sinne von Art. 1 Buchst. c) VO 883/04.

Wie in der mündlichen Verhandlung vom 19.01.2023 mitgeteilt worden ist, erhält die Mutter des Klägers von der Gesellschaft keine Vergütung, sondern bezieht ausschließlich Kapitalerträge. Zudem betätigt sie sich im Wesentlichen von ihrem deutschen Wohnort aus im Wege der Telekommunikation für die Kapitalgesellschaft in Polen. Verbleibenden Zweifeln, ob sie in Anbetracht dieser Umstände tatsächlich in Polen eine selbständige Tätigkeit ausübt und die Zuständigkeit des polnischen Träger gemäß Art. 11 Abs. 3 Buchst. a) VO 883/04 (weiterhin) zu Recht besteht, ist indes nicht nachzugehen.  

Denn der Mutter des Klägers ist vom polnischen Träger durch ein Dokument gemäß Art. 24 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) 987/2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der VO 883/04 - im Folgenden Durchführungsverordnung 987/2009 - bescheinigt worden, dass sie als eine in einem anderen Land als dem zuständigen Staat Wohnende Anspruch auf Sachleistungen bei Krankheit und Mutterschaft im Wohnmitgliedstaat hat. Nach Art. 24 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 der Durchführungsverordnung 987/2009 gilt das Dokument, das einem Versicherten einen Sachleistungsanspruch im Wohnmitgliedstaat bescheinigt, solange, bis der zuständige Träger den Träger des Wohnorts über seinen Widerruf informiert. Wie der Träger des Mitgliedstaats, der das Dokument erhält, bei Zweifeln an der Gültigkeit eines Dokuments oder der Richtigkeit des Sachverhalts, der den im Dokument enthaltenen Angaben zugrunde liegt, zu verfahren hat, ist in Art. 5 Abs. 2 der Durchführungsverordnung 987/2009 geregelt. Diesen Weg hat die Beklagte bislang nicht beschritten.

Neben den Versicherten sind in den Anwendungsbereich des Art. 17 VO 883/2004 auch die Familienangehörigen der Versicherten einbezogen, von denen sie einen Anspruch ableiten können. Für den Gegenstand des Art. 17 VO 883/2004 - Koordinierung der Sachleistungsaushilfe - ist gemäß Art. 1 Buchst. i) Nr. 1 ii) VO 883/2004 als Familienangehöriger anzusehen jede Person, die in den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dem sie wohnt, als Familienangehöriger bestimmt oder anerkannt wird oder als Haushaltsangehöriger bezeichnet wird. Maßgebend für die Einordnung als Familienangehöriger sind damit allein die Rechtsvorschriften des Wohnstaates der betreffenden Person, nicht die des zuständigen Mitgliedstaates.

Es ist in der Literatur umstritten, ob Art. 1 Buchst. i) Nr. 1 ii) VO 883/2004 lediglich hinsichtlich der Frage, ob eine Person als Familienangehöriger zu qualifizieren ist, auf die Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaates verweist oder ob die Verweisung auf die Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaates so zu verstehen ist, dass Familienangehöriger im Sinne der Verordnung nur derjenige ist, der nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaates einen Anspruch auf die in Art. 1 Buchst. i) Nr. 1 ii) VO 883/04 genannten Leistungen (Sachleistungen nach Titel III Kapitel 1 über Leistungen bei Krankheit sowie Leistungen bei Mutterschaft und gleichgestellte Leistungen bei Vaterschaft) hat.

Der EuGH hatte mit Urteil vom 08.06.1995 (C-451/93 - Delavant) zur Begriffsdefinition des Familienangehörigen in Art. 1 Buchst. f) i) VO 1408/71 festgestellt, dass diese Bestimmung nicht die Voraussetzungen der Entstehung eines Anspruchs des Familienangehörigen regele, sondern lediglich für die Frage, ob die betroffene Person als Familienangehöriger zu qualifizieren sei, auf die Rechtsvorschriften verweise, nach denen die Leistungen gewährt werden. In Art. 1 Buchst. f) i) VO 1408/71 war der Begriff des Familienangehörigen wie folgt definiert: "jede Person, die in den Rechtsvorschriften, nach denen die Leistungen gewährt werden, ..., als Familienangehöriger bestimmt, anerkannt oder als Haushaltsangehöriger bezeichnet ist. (...)"

Nach Überzeugung des Senats ist im Hinblick auf die oben zitierte Entscheidung des EuGH auch Art. 1 Buchst. i) Nr. 1 ii) VO 883/2004 so zu verstehen, dass die darin enthaltene Verweisung auf die Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaates sich nur auf die Frage bezieht, ob eine Person als Familienangehöriger zu qualifizieren ist. Die Legaldefinition in Art. 1 Buchst. i) VO 883/2004 dient demnach allein der Festlegung des Kreises familienangehöriger Personen (so auch Schreiber in: Schreiber/Wunder/Dern, VO (EG) Nr. 883/2204, Art. 17 Rn 15; Leopold in: Hauck/Noftz, EU-Sozialrecht, Artikel 17 Rn 37; Schreiber, in Kass. Komm., VO 883/04, Art. 17 Rn 30; Bieback, in Fuchs/Janda, NK-EuSozR, VO 883/04, Art. 17 Rn 10; z. T. a. A. Otting, in SRH, Kap. 36 Rz 71; Bokeloh, ZESAR 2014, 168, 171)

Ob der in Deutschland lebende Kläger ein Familienangehöriger im Sinne der Legaldefinition des Art. 1 Buchst. i) Nr. 1 ii) VO 883/2004 ist, richtet sich somit nach deutschem Recht. Einschlägig ist insoweit die Regelung des § 10 Abs. 1 Halbsatz 1 SGB V, der die Kinder von Mitgliedern der GKV ausdrücklich als Familienangehörige bezeichnet bzw. anerkennt. Daraus folgt, wie vom SG zutreffend festgestellt, dass der Kläger als Familienangehöriger im Sinne von Art. 1 Buchst. i) Nr. 1 ii) VO 883/2004 anzusehen ist. Dass er die nach deutschem Recht erforderlichen Voraussetzungen für eine Familienversicherung in der GKV nicht sämtlich erfüllt, ist in diesem Zusammenhang unbeachtlich.

Soweit in der Literatur zum Teil die Auffassung vertreten wird, dass die o.g. Entscheidung des EuGH seit Geltung der VO 883/2004 nicht mehr anwendbar sei, vermag dies nicht zu überzeugen, zumal die in Art. 1 Buchst. i Nr. 1 ii) VO 883/04 formulierte Definition des Familienangehörigen nahezu wortgleich ist mit derjenigen der Vorgängerbestimmung in Art. 1 Buchst. f) i) VO 1408/71. In beiden Bestimmungen heißt es, dass Familienangehöriger jede Person ist, die in den für maßgeblich erklärten Rechtsvorschriften (insoweit unterscheiden sich Art. 1 Buchst. i) Nr. 1 ii) VO 883/2004 und Art. 1 Buchst. f) i) VO 1408/71) als Familienangehöriger bestimmt, anerkannt oder als Haushaltsangehöriger bezeichnet ist.

Im Hinblick auf den nahezu identischen Wortlaut der vorgenannten Bestimmungen erscheint es nicht nachvollziehbar, wenn nun argumentiert wird, dass als Reaktion auf und in Abkehr von der zitierten Entscheidung des EuGH nunmehr mit Art. 1 Buchst. i) Nr. 1 ii) VO 883/2004 für den Bereich der Sachleistungen bei Krankheit ausdrücklich festgelegt worden sei, dass maßgeblich für den Begriff des Familienangehörigen die Rechtsvorschriften des Wohnstaates seien und somit die dortigen Bestimmungen über die Voraussetzungen der Entstehung eines Anspruchs eines Familienangehörigen zu beachten seien. Wenn eine Abkehr von dieser Rechtsprechung des EuGH gewollt gewesen wäre, hätte es nahegelegen, in Art. 1 Buchst. i) Nr. 1 ii) VO 883/04 eine andere Formulierung zu verwenden, die klargestellt hätte, dass eine Person nur dann als ein Familienangehöriger anzusehen ist, wenn sie nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaates als Familienangehöriger anerkannt ist und überdies die Voraussetzungen für eine Familienversicherung nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaates erfüllt. Dies ist nicht geschehen.

Im Übrigen spricht auch der Erwägungsgrund 21 der VO 883/2004, der ausführt, dass die Bestimmungen über Leistungen bei Krankheit, Leistungen bei Mutterschaft und gleichgestellte Leistungen bei Vaterschaft im Lichte der Rechtsprechung des Gerichtshofes erstellt worden seien, gegen eine Abkehr von der Rechtsprechung des EuGH.

Nach den vorstehenden Erwägungen ist der Kläger daher nach Überzeugung des Senats als Familienangehöriger im Sinne der Definition des Art. 1 Buchst. i) Nr. 1.ii) der VO 883/2204 anzusehen. Damit liegen die in Art. 17 VO 883/04 normierten Voraussetzungen für einen Anspruch des Klägers auf Sachleistungsaushilfe durch den deutschen Träger (die Beklagte) für Rechnung des NFZ vor.

Dem Anspruch des Klägers aus Art. 17 VO 883/2004 steht auch nicht Art. 32 Abs. 1 Satz 1 VO 883/2004 entgegen. Danach hat ein eigenständiger Sachleistungsanspruch aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates oder dieses Kapitels Vorrang vor einem abgeleiteten Anspruch auf Leistungen für Familienangehörige. Der Kläger hatte im Zeitpunkt der Aberkennung seines Anspruchs auf Sachleistungsaushilfe durch die Beklagten im April 2017 keinen eigenständigen Anspruch auf Sachleistungen bei Krankheit. Der Kläger war weder Mitglied der GKV noch war er bereits privat krankenversichert. Die private Krankenversicherung ist für ihn erst als Reaktion auf die Aberkennung seines Anspruchs auf Sachleistungsaushilfe ab dem 27.04.2017 abgeschlossen worden.

Entgegen der Auffassung der Beklagten liegt auch kein Fall einer Kollision zweier abgeleiteter Ansprüche vor. Der Vater des Klägers war und ist in Deutschland privat versichert. Anders als im System der Gesetzlichen Krankenversicherung sind Kinder über ihre privat versicherten Eltern bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen jedoch nicht automatisch mitversichert. Einen von einem Elternteil abgeleiteten Versicherungsschutz für Kinder gibt es in der privaten Krankenversicherung nicht, vielmehr muss jedes Familienmitglied, ob Ehepartner oder Kind, eigenständig versichert werden.

Auch die von der Beklagten erwähnte Regelung des Art. 11 Abs. 3 Buchst. e) VO 883/2004 steht einem Anspruch des Klägers auf Sachleistungsaushilfe aus Art. 17 VO 883/2004 nicht entgegen. Nach Art. 11 Abs. 3 Buchst. e) VO 883/04 unterliegen vorbehaltlich der Artikel 12 bis 16 der Verordnung nicht erwerbstätige Personen, die - wie der Kläger - nicht unter Art. 11 Abs. 3 Buchst. a) bis d) der Verordnung fallen, unbeschadet anderslautender Bestimmungen dieser Verordnung, nach denen ihnen Leistungen aufgrund der Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten zustehen, den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaates.

Art. 11 Abs. 3 Buchst. e) VO 883/2004 ist eine Auffangnorm, die für alle Personen gelten soll, bei denen keine der von anderen Bestimmungen dieser Verordnung konkret geregelten Situationen vorliegt (Devetzi in: Hauck/Noftz, EU-Sozialrecht, Artikel 11 Rn 18; EuGH v. 8. 5. 2019, Rs. C-631/17 [SF/Inspecteur van de Belastingdienst], ECLI: EU:C: 2019:381, Rn. 31). Im vorliegenden Fall liegt jedoch eine in einer anderen Bestimmung der Verordnung konkret geregelte Situation vor. Art. 17 der Verordnung regelt konkret, dass Familienangehörige Sachleistungsaushilfe nach Maßgabe der dort geregelten
Voraussetzungen erhalten. Diese Voraussetzungen liegen im Falle des Klägers - wie dargelegt - vor. Für die Auffangregel des Art.11 Abs. 3 Buchst. e) VO 883/2004 besteht daher kein Raum.

Die Berufung der Beklagten ist daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), liegen nicht vor.

 

Rechtskraft
Aus
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