L 2 SO 1789/22

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
2.
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 5 SO 1990/21
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 SO 1789/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Nach § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII kommen (grundsätzlich) auch die Leistungen nach dem 8. Kapitel des SGB XII, also Hilfen zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten, in Betracht.

Die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 30. Mai 2022 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat auch die außergerichtlichen Kosten des Klägers im Berufungsverfahren zu erstatten.


 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten steht die Gewährung von Überbrückungsleistungen gemäß § 23 Abs. 3 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) im Streit.

Der 1961 geborene Kläger ist rumänischer Staatsangehöriger und ist seinen Angaben zufolge 2014 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Seitdem hält der Kläger sich (überwiegend) im Bundesgebiet auf. Versichertes Mitglied bei der AOK B1 (AOK) war der Kläger vom 1. Juni 2015 bis 6. April 2017 und vom 14. April 2017 bis 31. März 2019. Vom Jobcenter Landkreis R1 bezog der Kläger gemäß den Bescheiden vom 24. September 2018 und 24. November 2018 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts von Oktober 2017 bis März 2019. Eine Weitergewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts lehnte das Jobcenter Landkreis R1 mit Bescheid vom 20. Februar 2021 ab. Aus dem Ausländerzentralregister ergibt sich ein Wiederzuzug des Klägers am 1. Februar 2017. Polizeilich gemeldet war der Kläger in der Gemeinde W1 vom 1. Februar 2017 bis 7. April 2019 und in der Gemeinde B2 vom 1. August 2019 bis 12. März 2020. Vom 14. April bis 29. Mai 2019 verbüßte der Kläger eine Ersatzfreiheitsstrafe.

Der Kläger befindet sich in einem gesundheitlich schlechten Zustand, lebt im Stadtgebiet der Beklagten mehr oder weniger auf der Straße und wird immer wieder von der Polizei aufgegriffen. Dies führte zu mehreren Klinikaufenthalten in der Klinik für Psychiatrie und Psychosomatik R1. So befand sich der Kläger dort in stationärer Behandlung vom 14. Januar bis 26. März 2021, vom 23. August bis 1. September 2021, vom 20. Oktober bis 4. November 2021 und wieder ab 16. November 2021. Nach dem ärztlichen Kurzgutachten der Klinik für Psychiatrie und Psychosomatik R1 (K1) vom 3.Februar 2021 leidet der Kläger an einer Alkoholabhängigkeit und an einer Demenzerkrankung. Beide Erkrankungen haben beim Kläger zu einer deutlichen Einschränkung der geistigen und körperlichen Leistungsfähigkeit geführt. Weiterhin leidet der Kläger an einer Lähmung der linken Hand infolge einer traumatischen Schädigung des nervus radialis. Laut dem ärztlichen Kurzgutachten vom 3. Februar 2021 besteht ein Bedarf an Betreuung, da der Kläger selbst nicht in der Lage ist, sich um seine Angelegenheiten selbstständig zu kümmern. Der Kläger sei komplett sozial isoliert, hilflos und verwahrlost. Vom 26. März 2021 bis 5. August 2021 befand der Kläger sich im Anschluss an eine stationäre Krankenhausbehandlung in der Einrichtung D1 in A1. Dem Kläger steht ein Übernachtungsplatz in der Notübernachtungsstelle der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in R1 zur Verfügung, wo er aber nur tageweise übernachtet. Die AWO sucht er nur unregelmäßig auf.

Mit Beschluss des Amtsgerichts R1 vom 5. Februar 2021 (Aktenzeichen: 6 XVII 57/21) wurde für den Kläger eine Betreuerin bestellt, deren Aufgabenkreis u.a. auch die Aufenthaltsbestimmung, die Gesundheitsfürsorge, Heimangelegenheiten, die Vermögenssorge, die Vertretung gegenüber Behörden, Versicherungen, Renten- und Sozialleistungsträgern und Wohnungsangelegenheiten umfasst.

Mit Schreiben vom 12. Februar 2021 beantragte die Betreuerin für den Kläger Leistungen nach dem SGB XII. Dabei wurden ausdrücklich Leistungen nach § 67 ff. SGB XII (Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten) zur Überbrückung der derzeitigen Notlage beantragt.

Mit Bescheid vom 9. Juni 2021 lehnte die Beklagte diesen Antrag ab. Gemäß § 23 Abs. 3 SGB XII erhielten Ausländer keine Leistungen nach Abs. 1 oder nach dem Vierten Kapitel des SGB XII, wenn sie kein Aufenthaltsrecht hätten oder sich ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergäbe. Gemäß § 23 Abs. 3 Satz 3 SGB XII erhielten hilfebedürftige Ausländer, die Satz 1 unterfielen, bis zur Ausreise, längstens jedoch für einen Zweitraum von einem Monat, Überbrückungsleistungen. Aus den vorliegenden ärztlichen Unterlagen ergäbe sich, dass der Kläger nicht in der Lage sei, sich eine Arbeit zu suchen. Er habe deshalb kein Aufenthaltsrecht und keinen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XII. Er habe sich auch keine fünf Jahre rechtmäßig in Deutschland aufgehalten. Überbrückungsleistungen in Form von Leistungen gemäß § 67 SGB XII kämen nach § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII nicht in Betracht. Zu den Überbrückungsleistungen gehörten keine Leistungen für eine Einrichtung nach § 67 SGB XII. Die Kosten für die Unterbringung in der betreuten Wohneinrichtung D1 könnten somit nicht übernommen werden.

Hiergegen erhob die Betreuerin des Klägers am 30. Juni 2021 Widerspruch.

Mit Widerspruchsbescheid vom 24. August 2021 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Sie hielt insbesondere an ihrer Auffassung fest, dass Leistungen gemäß § 67 SGB XII nicht im Rahmen von Überbrückungsleistungen gemäß § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII in Betracht kämen.

In mehreren Verfahren  des einstweiligen Rechtsschutzes (Beschlüsse des Sozialgerichts Reutlingen vom 26. März 2021 - S 5 SO 680/21 ER -, vom 1. Oktober 2021 -  S 5 SO 1901/21 ER -, vom 30. Mai 2022 - S 5 SO 772/22 ER - und Beschlüsse des Landessozialgerichts Baden-Württemberg (LSG) vom 5. Mai 2021 - L 2 SO 1324/21 ER-B - und vom 20. Juli 2022 - L 2 SO 1786/22 ER-B -) ist die Beklagte vorläufig verpflichtet worden, darlehensweise Überbrückungsleistungen in Form von Leistungen zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten nach § 67 SGB XII durch Übernahme der Kosten für die Unterbringung des Antragstellers in der betreuten Wohneinrichtung D1 bzw. zur vorläufigen  und darlehensweisen Erbringung von Überbrückungsleistungen im Sinne von § 23 Abs. 3 SGB XII zu gewähren.

Am 30. August 2021 hat die Betreuerin des Klägers für diesen beim Sozialgericht Reutlingen (SG) Klage erhoben. Ihm seien Leistungen nach dem SGB XII, insbesondere nach §§ 67 ff. SGB XII zu gewähren. Laut dem Entlassungsbericht der Klinik für Psychiatrie und Psychosomatik R1 vom 4. November 2021 leide er an psychischen und Verhaltensstörungen durch Alkohol, einem Abhängigkeitssyndrom und einer nicht näher bezeichneten Demenz. Er übernachte immer wieder, wenn auch nicht ständig, in der Notübernachtungsstelle in der G1 in R1; er halte sich in R1 auf. Von der Polizei erhalte die Betreuerin des Klägers beinahe täglich Anrufe, dass der Kläger in alkoholisiertem Zustand in Gewahrsam habe genommen werden müssen.

Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten. Leistungen nach § 67 SGB XII gehörten nicht zu den Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs. 3 SGB XII. Diese dienten dazu, den Zeitraum bis zur Ausreise zu überbrücken. Leistungen nach § 67 SGB XII hätten hingegen das Ziel, den Leistungsempfänger zu stabilisieren und ihm zu ermöglichen, sein Leben wieder eigenständig zu führen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf dauerhafte Leistungen nach dem SGB XII. Der Kläger beabsichtige nicht, in sein Heimatland zurückzukehren und wolle vielmehr Dauerleistungen nach dem SGB XII in Anspruch nehmen. Der Kläger habe die Notübernachtungsstelle der AWO in R1 nur unregelmäßig aufgesucht und auch nur unregelmäßig die im Rahmen der Überbrückungsleistung bis zum 30. September 2021 bewilligten Geldleistungen abgeholt.

Mit Gerichtsbescheid vom 30. Mai 2022 hat das SG die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids  vom 9. Juni 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. August 2021 verurteilt, dem Kläger Leistungen nach § 23 Abs. 3 SGB XII in Form von Zurverfügungstellung eines Tagessatzes,  der Übernahme der Nutzungsentschädigung und der Krankenversicherungskosten, sowie für die Zeit vom 26. März bis 5. August 2021 Leistungen nach § 67 ff SGB XII durch Übernahme der Kosten für den Aufenthalt des Klägers in der Einrichtung D1 zu gewähren. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, der Klägerhabe Anspruch auf Leistungen nach § 23 Abs. 3 Satz 3 SGB XII im Sinne der Härtefallregelung in Form der Hilfe zum Lebensunterhalt. Soweit der Kläger Leistungen nach § 67 ff. SGB XII begehre, sei die Klage indessen nur für die Zeit während seines Aufenthaltes im D1 begründet gewesen. Der Kläger könne sich nicht auf die Regelung des § 23 Abs. 3 Satz 7 SGB XII berufen. Nach dieser Vorschrift komme eine Leistungserbringung für Ausländer in Betracht, wenn sie sich seit mindestens fünf Jahren ohne wesentliche Unterbrechung im Bundesgebiet aufhielten, wobei die Frist mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde beginne. Insoweit sei melderechtlich der Zeitraum vom 1. Februar 2017 bis 7. April 2019 sowie vom 1. August 2019 bis 12. März 2020 erfasst. Danach könne von einem verfestigten Aufenthalt nach fünfjähriger Mindestaufenthaltsdauer nicht ausgegangen werden; es könne aus den Gesamtumständen auch nicht auf einen Daueraufenthalt geschlossen werden. Bei dem Bundesverwaltungsamt sei ein Wegzug ins Ausland am 15. April 2014 und ein Wiedereinzug zum 1. Februar 2017 vermerkt. Angesichts der Mitgliedszeiten des Klägers bei der AOK B1 zeige sich, dass es offensichtlich auch undokumentiert zu einem Verlassen und Wiedereintritt in das Bundesgebiet gekommen sein müsse. Er sei somit tatsächlich in der Lage gewesen, in der Vergangenheit mehrfach das Bundesgebiet zu verlassen, weshalb es nicht mit der erforderlichen Gewissheit feststehe, dass er seit 1. Februar 2017 nicht mehr in der Lage gewesen sei, das Bundesgebiet zu verlassen. Der Kläger könne Leistungen im Rahmen der Härtefallregelung des § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII beanspruchen. Nach dieser Vorschrift würden Leistungsberechtigten nach § 23 Satz 3 SGB XII zur Überwindung einer besonderen Härte andere Leistungen im Sinne von § 23 Abs. 1 SGB XII gewährt. Insoweit seien diese Leistungen auch über einen Zeitraum von einem Monat hinaus zu erbringen, soweit dies im Einzelfall aufgrund besonderer Umstände zur Überwindung einer besonderen Härte und zur Deckung einer zeitlich befristeten Bedarfslage geboten sei. Dabei umfasse die Verweisung auf andere Leistungen im Sinne des Abs. 1 auch Leistungen im Sinne von § 23 Abs. 1 Satz 3 SGB XII, mithin auch Leistungen der Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten. § 23 Abs. 3 Satz 5 und 6 SGB XII seien daher verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass jeder während des tatsächlichen Aufenthalts entstehende Bedarfsfall von Leistungen nach dem Dritten und Fünften Kapitel erfasst sei. Die Leistungen seien dabei auch über einen Zeitraum von einem Monat hinaus zu erbringen, soweit dies im Einzelfall aufgrund besonderer Umstände zur Überwindung einer besonderen Härte und Deckung einer zeitlich befristeten Bedarfslage geboten sei. Soweit darüber hinaus eine Ausreisebereitschaft zu verlangen sei, sei diese grundsätzlich vorhanden, nachdem der Kläger dokumentiert bereits mehrfach das Bundesgebiet verlassen habe. Dass er derzeit einen derartigen Willen nicht bilde, sei als krankheitsbedingt einzustufen. Insbesondere sei für den Kläger eine rechtliche Betreuung eingerichtet worden, nachdem er nicht imstande sei, seine Angelegenheiten selbst zu regeln. Hierin begründe sich auch die individuelle Besonderheit durch die chronische Demenzerkrankung und Alkoholabhängigkeit. Die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach den §§ 67 ff. SGB XII hätten lediglich für die Zeit des Aufenthalts des Klägers im D1 vom 20. März bis 5. August 2021 vorgelegen. Hilfen seien nur dann zu gewähren, wenn sie Aussicht auf Erfolg böten, denn nur dann seien sie notwendig im Sinne von § 68 Abs. 1 Satz 1 SGB XII. Außerhalb der tatsächlichen Zeit, welche der Kläger in der Einrichtung D1 verbracht habe, scheitere eine weitergehende Leistungserbringung an seiner fehlenden Mitwirkung, weshalb es an der Notwendigkeit einer entsprechenden Leistungsgewährung über diesen Zeitraum hinaus fehle.

Gegen den der Beklagten gegen Empfangsbekenntnis am 3. Juni 2022 zugestellten Gerichtsbescheid hat sie am 24. Juni 2022 schriftlich beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) Berufung erhoben. Zur Begründung bringt sie vor, ein Anspruch auf Leistungen nach § 23 Abs. 3 SGB XII bestehe nicht. Der Kläger könne keinen Aufenthalt von mindestens fünf Jahren im Bundesgebiet nachweisen. Er habe das Bundesgebiet mehrfach verlassen und sei nach einiger Zeit wieder zurückgekehrt. Auch im Rahmen einer Härtefallregelung könne ein Leistungsanspruch nicht bejaht werden. Mit Bescheid vom 26. August 2021 seien für die Zeit vom 19. August bis längstens 30. September 2021 Überbrückungsleistungen bewilligt worden. Als weitere Überbrückungsleistungen seien die Krankenversicherungsbeiträge übernommen worden. Darüber hinaus sei eine Leistungsgewährung nicht gerechtfertigt. Von Seiten der damaligen Betreuerin seien keinerlei Anstrengungen unternommen worden, die Rückreise nach Rumänien zu organisieren. Der Gesundheitszustand des Klägers könne nicht dazu führen, dass dauerhaft Leistungen erbracht würden. Auch wenn ein fehlender Wille zur Ausreise mit dem Gesundheitszustand zusammenhängen sollte, sei eine Gewährung von Leistungen nicht möglich. Die Stadt R1 habe mit Verfügung vom 21. September 2022 den Verlust des Freizügigkeitsrechts festgestellt; die sofortige Vollziehung sei im öffentlichen Interesse angeordnet worden. Mit Schreiben vom 13. Oktober 2022 habe der Kläger hiergegen Widerspruch erhoben. Die Stadt R1 beabsichtige, den Vorgang dem Regierungspräsidium K2 zur Einleitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen vorzulegen. Werde ein Leistungsanspruch des Klägers am Gesundheitszustand festgemacht, werde damit eine Dauerleistung begründet. Es gäbe keine Anzeichen dafür, dass sich der Gesundheitszustand in naher Zukunft verändern werde. Die im Eilverfahren zugesprochenen Leistungen (Tagessätze) seien nur sehr sporadisch abgeholt worden. Am 8. Mai 2023 sei der Kläger nach Rumänien abgeschoben worden.

Die Beklagte beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 30. Mai 2022 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält den Gerichtsbescheid vom 30. Mai 2022 für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit Schreiben vom 14. Oktober 2022 und 13. Dezember 2022 mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Beteiligtenvorbringens wird auf die Verwaltungsakte der Beklagten und die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Der Senat konnte aufgrund der Zustimmung der Beteiligten gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden.

Die nach den §§ 143, 144 Abs. 1, Abs. 3 SGG statthafte, unter Beachtung der maßgeblichen Form- und Fristvorschriften (§151 Abs. 1 und Abs. 3 SGG) eingelegte Berufung ist zulässig.

Die Berufung der Beklagten ist jedoch unbegründet.

Gegenstand des Berufungsverfahrens ist der Bescheid der Beklagten vom 9. Juni 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. August 2021, mit dem die Beklagte die Gewährung von Überbrückungsleistungen gemäß § 23 Abs. 3 SGB XII, insbesondere in diesem Rahmen die Erbringung von Leistungen gemäß § 67 SGB XII an den Kläger abgelehnt hat.

Richtige Klageart für das Begehren des Klägers auf Erbringung der begehrten Leistungen ist die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG). Die Berufung ist jedoch unbegründet. Das SG hat zu Recht einen Anspruch des Klägers (im Umfang der Verurteilung der Beklagten) auf die Gewährung von Überbrückungsleistungen gemäß § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII und damit auch auf die Gewährung von Leistungen nach § 67 SGB XII (Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten) bejaht.

Gemäß § 23 Abs. 3 Satz 3 SGB XII werden hilfebedürftigen Ausländern, die § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII unterfallen, bis zur Ausreise, längstens jedoch für einen Zeitraum von einem Monat, einmalig innerhalb von zwei Jahren nur eingeschränkte Hilfen gewährt, um den Zeitraum bis zur Ausreise zu überbrücken (Überbrückungsleistungen); die Zweijahresfrist beginnt mit dem Erhalt der Überbrückungsleistungen nach Satz 3. Gemäß § 23 Abs. 3 Satz 5 SGB XII umfassen die Überbrückungsleistungen (1.) Leistungen zur Deckung der Bedarfe für Ernährung sowie Körper- und Gesundheitspflege, (2.) Leistungen zur Deckung der Bedarfe für Unterkunft und Heizung in angemessener Höhe, einschließlich der Bedarfe nach § 35 Abs. 4 und § 30 Abs. 7 SGB XII, (3.) die zur Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände erforderliche ärztliche und zahnärztliche Behandlung einschließlich der Versorgung mit Arznei- und Verbandmitteln sowie sonstiger zur Genesung, zur Besserung oder zur Linderung von Krankheiten oder Krankheitsfolgen erforderlichen Leistungen und (4.) Leistungen nach § 50 Nr. 1 bis 3 SGB XII (Hilfen der Schwangerschaft und Mutterschaft). Gemäß § 23 Abs.3 Satz 6 SGB XII werden, soweit dies im Einzelfall besondere Umstände erfordern, Leistungsberechtigten nach Satz 3 zur Überwindung einer besonderen Härte andere Leistungen im Sinne von Abs. 1 gewährt; ebenso sind Leistungen über einen Zeitraum von einem Monat hinaus zu erbringen, soweit dies im Einzelfall aufgrund besonderer Umstände zur Überwindung einer besonderen Härte und zur Deckung einer zeitlich befristeten Bedarfslage geboten ist.

Wie die Beklagte geht auch der Senat davon aus, dass die Voraussetzungen des § 23 Abs. 3 Satz 3 SGB XII in der Person des Klägers erfüllt sind. Der Tatbestand setzt nur voraus, dass die Person vom Leistungsausschuss des § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII erfasst wird und bedürftig ist (vgl. Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 1. Juli 2020 - L 4 SO 120/18 -, juris Rn. 62).

Der Ausschluss von Leistungen nach dem 3. Kapitel SGB XII und die Beschränkung auf Überbrückungsleistung ist verfassungskonform, wenn die Härtefallregelung und die Rechtsfolge hinsichtlich der Leistungsdauer und Leistungshöhe in § 23 Abs. 3 Sätze 5 und 6 SGB XII verfassungskonform ausgelegt werden (vgl. dazu Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 1. Juli 2020, juris Rn. 62). § 23 Abs. 3 Sätze 5 und 6 SGB XII sind daher wie folgt verfassungskonform auszulegen: Die Härtefallregelung muss jeden während des tatsächlichen Aufenthalts entstehenden Bedarfsfall der Leistungen nach dem 3. und 5. Kapitel erfassen. Auch bei nicht befristeten besonderen Bedarfslagen und damit für die tatsächliche Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet sind existenzsichernde Sozialleistungen zu gewähren; werden darüber hinaus – wie vorliegend – andere Bedarfe als die nach Abs. 3 Satz 5 typisierend vorgesehenen geltend gemacht und liegen sie tatsächlich vor, sind auch diese in verfassungskonformer Auslegung des Satzes 6 für die Zeit des tatsächlichen Aufenthalts bis zur vollziehbaren Ausreisepflicht zu decken (vgl. dazu Siefert in Schlegel/Voeltzke, jurisPK-SGB XII, § 23 Rn. 108; zur Leistungsdauer Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11. Juli 2019 - L 15 SO 181/18 -, juris Rn. 66).

Entgegen der Auffassung der Beklagten kommen somit (grundsätzlich) nach § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII auch die Leistungen nach dem 8. Kapitel des SGB XII, also Hilfen zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten in Betracht. Der Kläger erfüllt auch die Anspruchsvoraussetzungen hierfür. Die Leistungen sind auch über einen Zeitraum von einem Monat hinaus zu erbringen, da dies im vorliegenden Einzelfall aufgrund besonderer Umstände zur Überwindung einer besonderen Härte und zur Deckung einer zeitlich befristeten Bedarfslage geboten ist. Eine besondere Härte zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht für alle vom Leistungsausschluss betroffenen Personen typisch ist, also über die mit den reduzierten Leistungsumfang typischerweise verbundenen Härten in der Person des Leistungsberechtigten individuelle Besonderheiten hinzutreten. Beim Kläger liegen diese „individuelle Besonderheiten“ in seinen beiden chronischen Erkrankungen Demenzerkrankung und Alkoholabhängigkeit, die es ihm - bevor eine gewisse Stabilisierung seines Gesundheitszustandes insbesondere mit Blick auf die Alkoholabhängigkeit erreicht ist - nicht möglich machen, „nur“ mit den „Überbrückungsleistungen“ im Sinne von § 23 Abs. 3 Satz 3 und Satz 5 SGB XII seine Lebensführung alleinverantwortlich bis zur (baldigen) Ausreise nach Rumänien zu gestalten. Die „besonderen Umstände“ im Sinne von § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII, die der Gesetzgeber nur für die zeitliche Verlängerung der Überbrückungsleistungen verlangt, müssen folglich in der zeitlichen Befristung selbst begründet liegen. Insofern ist es offensichtlich, dass der Kläger mit Unterstützung durch seine Betreuerin mehr Zeit als einen Monat braucht, um seine Lebensführung in Rumänien mit Blick auf seine beiden chronischen Erkrankungen vorzubereiten. Nichts Anderes folgt jedenfalls aus dem ärztlichen Kurzgutachten der Klinik für Psychiatrie und Psychosomatik R1 (K1) vom 3. Februar 2021 bzw. aus dem ärztlichen Attest der gleichen Klinik ( R2) vom 3. März 2021.

Da der Kläger nicht über eine ausreichende Unterkunft (Obdachlosigkeit) verfügt, bestehen schon deswegen bei ihm besondere Lebensverhältnisse im Sinne von § 67 Satz 1 SGB XII. Aufgrund der beim Kläger vorliegenden Erkrankungen (Demenzerkrankung, Alkoholabhängigkeit) und seiner Lebenssituation - in verwahrlostem und alkoholisiertem Zustand immer wieder auf der Straße von der Polizei aufgegriffen, als rumänischer Staatsangehöriger mit bestehender Sprachbarriere und fehlendem Hilfenetzwerk in Deutschland, fehlende Möglichkeit, seine Angelegenheiten selbstständig zu regeln - sind die gemäß § 67 SGB XII genannten „sozialen Schwierigkeiten“ im Sinne einer Beeinträchtigung der Interaktion des Klägers mit dem sozialen Umfeld und damit eine relevante Einschränkung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft gegeben. Als Leistungen zur Überwindung dieser sozialen Schwierigkeiten waren neben der Gewährung eines Tagessatzes, der Übernahme der Nutzungsentschädigung für die Zurverfügungstellung einer Unterkunft und der Krankenversicherungskosten auch die Kostenübernahme der Unterbringung und Betreuung des Klägers in der Einrichtung D1 in A1 gegeben. Diese Maßnahme war erforderlich – was die Beklagte auch nicht in Abrede stellt – um den Kläger bzgl. seiner Lebensumstände, die maßgeblich von seiner Demenz- und Alkoholerkrankung bestimmt waren, zu stabilisieren.

Bezüglich der Auffassung der Beklagten, es gehe vorliegend um eine dauerhafte Leistungsgewährung an den Antragsteller gemäß §§ 67, 68 SGB XII i.V.m. § 23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII, wenn die Leistungsgewährung am sich absehbar nicht verändernden Gesundheitszustand des Klägers festgemacht werde, weist der Senat darauf hin, dass der Gesetzgeber mit der in §  23 Abs. 3 Satz 6 SGB XII normierten Härteklausel hinsichtlich des Leistungsumfangs als auch der Leistungsdauer keine Rechtsgrundlage geschaffen hat, die zu einem „Dauerleistungsrecht“ führt. Eine Abweichung vom Leistungszeitraum von maximal einem Monat sieht der Gesetzgeber nur zur Deckung einer zeitlich befristeten Bedarfslage vor und verlangt neben der besonderen Härte in diesem Fall noch „besondere Umstände“. Die derzeit vorliegenden diesbezüglichen „besonderen Umstände“ sieht der Senat nicht als dauerhaft gegeben an. Die Beklagte selbst hat als für den Kläger zuständige Ausländerbehörde mit Verfügung vom 21. September 2022 den Verlust des Freizügigkeitsrechts festgestellt und diesbezüglich die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse angeordnet. Der Kläger wurde dann auch am 8. Mai 2023 nach Rumänien abgeschoben.

Aus diesen Gründen ist die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des SG zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.   


 

Rechtskraft
Aus
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