Eine Gesundheitsstörung kann nicht als Folge eines Arbeitsunfalls anerkannt werden, wenn sie mit hoher Wahrscheinlichkeit simuliert wird (hier bejaht).
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 20. November 2019 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
II. Die Beteiligten haben einander für beide Instanzen keine Kosten zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Bewilligung einer Verletztenrente wegen der Folgen eines anerkannten Arbeitsunfalls.
Der 1978 in der Türkei geborene Kläger lebt seit 2000 in Deutschland. Ab 2008 war er bei der C. (C-Stadt) als Postzusteller beschäftigt und bei der Beklagten unfallversichert.
Am 26. November 2012 stürzte er während des Dienstes gegen 16:00 Uhr (aus oder von seinem Fahrzeug) und fiel auf das rechte Knie. Ein Rettungswagen brachte ihn in die Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik (BGU) Frankfurt am Main, wo er berichtete, beim Aussteigen aus dem Fahrzeug mit beiden Beinen weggerutscht und mit diesen unter dem Auto angestoßen, nicht aber bewusstlos gewesen zu sein. Der Durchgangsarzt (D-Arzt) D. diagnostizierte nach der Anfertigung von Röntgenaufnahmen eine mehrfragmentäre Tibiakopffraktur rechts sowie eine Fibulakopf-Trümmerfraktur rechts (D-Arzt-Bericht vom 27. November 2012). Noch am selben Tag und dann erneut am 4. Dezember 2012 wurde der Kläger operiert. Postoperative Röntgenaufnahmen zeigten die korrekte Lage des eingebrachten Osteosynthesematerials und die korrekte Stellung der Fraktur. Nach dem fachärztlichen Bericht (vom 27. Dezember 2012) von Prof. Dr. D., Dr. E. und Dr. F. habe sich aber eine Minderinnervation im Bereich der Unterschenkelmuskulatur und der Oberschenkelmuskulatur gezeigt. Aufgrund der Symptomatik wurden im stationären Verlauf ein neurologisches, psychologisches und schmerztherapeutisches Konzil durchgeführt.
Dr. med. Dipl.-Psych. G. legte in seinem Bericht vom 22. Dezember 2012 dar, der Befund deute auf eine ganz massive psychogene Parese hin. Es sei aber eine leichte axonale Schädigung im Tibialis anterior nachzuweisen, sodass zumindest eine leichte Mitbeteiligung des Peronaeus (allerdings nicht relevant, weil im Übrigen die Nervenleitgeschwindigkeit - NLG - unauffällig sei) angenommen werden könne.
In ihrem psychologischen Bericht vom 15. Januar 2013 führte die Dipl.-Psych. H. aus, dass der Kläger geschildert habe, einer hohen Stressbelastung am Arbeitsplatz ausgesetzt gewesen zu sein. Er habe zwei Wochen postoperativ angegeben, sein Bein nicht zu spüren. Ihr gegenüber habe er geäußert, das Bein schon zu spüren, lediglich die Füße spüre er etwas geringer. Auf ihre Nachfrage habe der Kläger dann angegeben, dass er das Bein von Anfang an, d. h. direkt nach dem Unfallereignis, nicht habe spüren können. Es sei die Möglichkeit einer dissoziativen Symptomatik (F44.7) gegeben.
Dr. med. Dipl.-Psych. G. legte in seinem Bericht vom 8. Februar 2013 dar, es sei weiterhin (bei völlig intakter indirekter Erregbarkeit der Nerven) von einer psychogenen Parese auszugehen. Bei der klinischen Untersuchung biete der Kläger jetzt wieder eine komplette Plegie des Peronaeus, obwohl beim Gehen teilweise doch die Muskeln eingesetzt würden. Es bestehe auch keine Muskelatrophie und die angegebenen sensiblen Störungen seien so nicht nachvollziehbar.
Vom 27. Februar bis 27. März 2013 wurde der Kläger stationär in der BGU Frankfurt am Main behandelt. In dem Entlassungsbericht vom 23. April 2013 führten Prof. Dr. D., Dr. J. und Dr. F. aus, es sei noch nicht eindeutig zu klären, inwieweit sich eine dissoziative Funktionsstörung bestätigen lasse. Verschiedene Patienten und auch Funktionspersonal des Hauses hätten den Kläger bei guter Funktion im Bereich der rechten unteren Extremität gesehen.
Am 25. April 2013 stellte sich der Kläger erneut in der BGU vor. Dort wurde eine passive Beweglichkeit des rechten Kniegelenks von 0/0/130° gemessen, zu diesem Datum das ambulante Heilverfahren abgeschlossen und durch die Fachärztin für Orthopädie und Unfallchirurgie K. der 28. April 2013 als letzter Tag der Arbeitsunfähigkeit bescheinigt. Ab 29. April 2013 erhielt der Kläger kein Verletztengeld mehr.
In ihrem Befundbericht vom 10. Mai 2013 diagnostizierte die den Kläger behandelnde Dipl.-Psych. L. bei ihm eine dissoziative Bewegungsstörung (F44.4) sowie eine leichte depressive Episode (F32.0).
Im Hinblick auf den stationären Aufenthalt in der BGU Frankfurt am Main legte die Dipl.-Psych. H. in ihrem Bericht vom 13. Mai 2013 dar, die Teillähmung des rechten Beines habe sich nicht wesentlich gebessert. Der Kläger habe angegeben, vor dem Unfallereignis Probleme am Arbeitsplatz gehabt zu haben und von seinem Chef regelrecht schikaniert geworden zu sein. Bei der Exploration habe sich ergeben, dass der Kläger erhebliche Traumatisierungen in seinem Leben erfahren habe, im Wesentlichen aus der Wehrdienstzeit im Grenzland zu Syrien. Es könne davon ausgegangen werden, dass auf psychologischem Gebiet keine unfallabhängigen Störungen mehr vorlägen.
Die Beklagte beauftragte daraufhin Dr. M. (Chefarzt der Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie, Westpfalz-Klinikum Kaiserslautern) mit der Erstellung eines Ersten Rentengutachtens. In seinem Gutachten vom 29. Juli 2013 legte er dar, dass der Kläger zum Unfallhergang berichtet habe, bei Regen von einer Laderampe aus einer Höhe von 1,5 m auf das rechte Bein und den Kopf gestürzt und kurz bewusstlos gewesen zu sein. Dr. M. führte aus, auf unfallchirurgischem Gebiet sei als wesentliche Unfallfolge eine geringgradig eingeschränkte Beweglichkeit des Kniegelenks sowie die knöchern konsolidierte Tibiakopffraktur mit regelgerecht einliegendem Osteosynthesematerial festzustellen, wobei so gut wie keine Unfallfolgen verblieben seien. Die Plegie des Beines sei unfallunabhängig. Die Bewegungsausmaße des rechten Beines seien nur passiv zu ermitteln gewesen. Hier habe sich im rechten Kniegelenk eine geringgradig eingeschränkte Beweglichkeit in der Beugung mit 130° und eine Überstreckbarkeit von 5° gezeigt (5/0/130). Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) werde vom 25. April 2013 bis 24. Juni „2014“ (richtig: 2013) auf 20 vom Hundert (v. H.) und vom 25. Juni 2013 bis 14. Juli 2014 auf 10 v. H., danach auf unter 10 v. H. geschätzt.
Hierzu holte die Beklagte eine beratungsärztliche Stellungnahme von Dr. N. (vom 2. September 2013) ein, in der dieser ausführte, die in dem Gutachten festgestellten Unfallfolgen rechtfertigten keine MdE in rentenberechtigendem Ausmaß.
Am 15. August 2013 stellte sich der Kläger dem H-Arzt Dr. O. vor und berichtete, bei dem Unfallereignis vom 26. November 2012 auf das rechte Knie und den „rechten Kopf“ gefallen sowie kurz bewusstlos gewesen zu sein.
Auf Veranlassung der Beklagten erstattete Dr. P., Arzt für Neurologie und Psychiatrie, unter dem 20. Dezember 2013 ein Sachverständigengutachten. Hierin legte er dar, die vom Kläger gezeigte Minderinnervation des rechten Beines sei psychogen bedingt. Es finde sich kein pathologisches anatomisches Korrelat auf neurologischem Fachgebiet hierfür. Bezüglich der Kausalitätsbeurteilung habe zwar das Unfallereignis „irgendwie“ im schädigenden Sinn die Seele des Klägers erreichen können, sodass ein Verletzungseintritt auf psychiatrischem Gebiet nicht sicher auszuschließen sei. Auf dieser Ebene bestehe somit ein Kausalzusammenhang. Auf der zweiten Stufe sei zu prüfen, welches Erstschadensbild auf psychiatrischem Fachgebiet im Vollbeweis zu belegen sei. Im vorliegenden Fall hätten sich am Unfalltag und zeitnah zum Unfallereignis keine Auffälligkeiten gezeigt. Erst nach der zweiten Operation habe sich eine Minderinnervation gezeigt. Das Unfallereignis selbst stelle keine dramatische bzw. wesentliche traumatisierende Erfahrung dar. Auf der nächsten Ebene seien konkurrierende Ursachen zu prüfen. Insofern sei eine Traumatisierung während der Wehrzeit und eine Mobbingsituation am Arbeitsplatz mit drohendem Arbeitsplatzverlust herausgearbeitet worden, ferner hätten auch erhebliche familiäre Belastungen bestanden. Diese Faktoren seien viel eher geeignet, die aktuelle dissoziative Störung zu bewirken, als das Unfallereignis. Dieses sei nur Gelegenheitsursache. Die Verletzung des rechten Knies bilde die nach außen sichtbare Möglichkeit, die inneren unfallunabhängigen psychischen Konflikte zu symbolisieren und auszudrücken. Die vorliegende dissoziative Störung sei keine Unfallfolge.
Mit Bescheid vom 25. Februar 2014 lehnte die Beklagte die Gewährung einer Rente wegen des Arbeitsunfalls vom 26. November 2012 ab. Hiergegen legte der Kläger unter dem 25. März 2014 Widerspruch ein.
Die Beklagte holte daraufhin eine beratungsärztliche Stellungnahme des Neurologen und Psychiaters Dr. Q. vom 6. November 2014 ein, in der dieser ausführte, unter Anwendung der Sk2-Leitlinie zur Begutachtung psychischer und psychosomatischer Erkrankungen könne keine mittelbare oder unmittelbare Ursache nachgewiesen werden, weil kein Hinweis auf einen unfallbedingten psychischen Erstschaden oder überdauernde schwere körperliche Unfallfolgen bestünden.
Mit Widerspruchsbescheid vom 10. Dezember 2014 wies die Beklagte den Widerspruch gegen den Bescheid vom 25. Februar 2014 zurück.
Mit Bescheid vom 17. Dezember 2014 stellte die Beklagte fest, dass unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit mit dem 28. April 2013 geendet habe. Nach § 45 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) werde Verletztengeld erbracht, wenn der Versicherte infolge eines Versicherungsfalls arbeitsunfähig sei. Diese Voraussetzung liege nicht vor. Hiergegen legte der Kläger (unter dem 13. Januar 2015) Widerspruch ein, den die Beklagte (mit Widerspruchsbescheid von 9. September 2015) zurückwies. Dagegen erhob der Kläger (am 9. Oktober 2015) Klage beim Sozialgericht Darmstadt (S 3 U 171/15).
Am 12. Januar 2015 hat der Kläger beim Sozialgericht Darmstadt Klage gegen den Bescheid vom 25. Februar 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Dezember 2014 erhoben (S 3 U 9/15) und beantragt, ihm eine Rente nach einer MdE von mindestens 20 v. H. zu gewähren.
Das Sozialgericht hat (auch in dem Verfahren S 3 U 171/15) von Amts wegen ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten bei Prof. Dr. med. habil. Dipl.-Psych. R. vom 24. November 2018 eingeholt, der bei dem Kläger eine nicht näher bezeichnete dissoziative Störung (DSM-IV 300.15, ICD-10 F44.9), eine dissoziative Bewegungsstörung (F 44.4), eine im Moment der Untersuchung noch vorhandene depressive Episode mit mittelgradiger Ausprägung (DSM-IV 296.32, ICD-10 F33.1) sowie einen Verdacht auf (V. a.) eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) diagnostizierte. Diese Gesundheitsstörungen seien mit hinreichender Wahrscheinlichkeit allein oder zumindest wesentlich im Sinne der Entstehung oder Verschlimmerung auf das Ereignis vom „23.11.2012“ zurückzuführen. Diese Einschätzung fuße auf der Diagnose einer PTBS, wenn auch nur als Verdacht, da – bisher völlig unerwähnt und unberücksichtigt – nur gut drei Monate vor dem in Frage stehenden Unfallereignis der Kläger bei einem Fahrradunfall während seiner Berufsausübung eine Wadenbein- und Knöchelfraktur erlitten habe. Es sei daher nachvollziehbar, dass durch den wenige Wochen später erfolgten Unfall eine nachhaltige psychische Traumatisierung entstanden sei. Die von Dr. P. vermuteten Ursachen seien viel unwahrscheinlicher. Sie gründeten auf Mutmaßungen und würden durch die Angaben des Klägers widerlegt. Dieser habe eine Traumatisierung während der Wehrdienstzeit, Arbeitsverlustdrohung, familiäre Belastungen und auch Mobbing vor dem Unfallereignis verneint. Es werde von einer MdE von 40 v. H. ausgegangen.
Zu diesem Gutachten hat die Beklagte eine beratungsärztliche Stellungnahme von Dr. Q. vom 10. Januar 2019 vorgelegt, in der dieser ausgeführt hat, der Gutachter weiche erheblich von der Gutachtenliteratur ab. Insbesondere bei der dissoziativen Störung sei im vorliegenden Fall eine anhaltende schwere körperliche Schädigungsfolge nicht festzustellen und das Unfallereignis mit Sturz und Beinfraktur sei nicht mit den Eingangskriterien einer PTBS gleichzusetzen.
In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 11. Juni 2019 hat Prof. Dr. med. habil. Dipl.-Psych. R. dargelegt, beim (zweiten) Unfall sei das A-Kriterium einer PTBS in Form einer ernsthaften Verletzung und Gefahr des Verlusts der körperlichen Unversehrtheit der eigenen Person erfüllt worden. Hier handele es sich um einen psychischen Primärschaden. Es spreche mehr für das tatsächliche Vorliegen einer PTBS als nur für einen V. a. PTBS. Traumafolgestörungen seien u. a. dissoziative Störungen, Depression, Angst und Somatisierung.
In der mündlichen Verhandlung vom 20. November 2019 hat der Kläger den Unfallhergang dahingehend geschildert, dass er auf der hinteren Ladefläche seines Dienstfahrzeuges gestanden habe und von dort hinuntergestürzt sei, wobei er mit dem Kopf auf den Boden angeschlagen und direkt danach bewusstlos geworden sei.
Mit Urteil vom 20. November 2019 hat das Sozialgericht den Bescheid vom 18. Februar 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Dezember 2014 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger wegen des Arbeitsunfalls vom 26. November 2012 eine Verletztenrente nach einer MdE von 30 v. H. zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt, es sei im Vollbeweis nachgewiesen, dass der Kläger unter einer dissoziativen Bewegungsstörung leide, die zu einer weitgehenden Störung des rechten Beines führe. Belastbare Hinweise, die auf eine Aggravation oder gar Simulation hindeuteten, lägen nicht vor. Außerdem sei der Kläger an einer mittelgradigen depressiven Störung erkrankt (gewesen). Eine PTBS liege zwar nicht im Vollbeweis vor. Allerdings seien eine dissoziative Bewegungsstörung und eine mittelgradige depressive Störung durch den Arbeitsunfall vom 26. November 2012 verursacht worden. Die dissoziative Bewegungsstörung mit Lähmung des rechten Beines sei objektiv durch den Unfall verursacht worden. Ohne die Verletzung des rechten Beines wäre es nicht zu einer psychogenen Lähmung gekommen. Auch die mittelgradige depressive Störung sei durch den Unfall verursacht worden. Insbesondere lägen keine Anzeichen vor, dass der Kläger vorher an entsprechenden Symptomen gelitten habe. Es sei wahrscheinlich, dass durch die schwerwiegende Beeinträchtigung der beruflichen und privaten Lebensführung infolge der dissoziativen Bewegungsstörung eine depressive Störung entstanden sei. Der Unfall sei auch wesentliche Ursache für die dissoziative Störung, weil ein schweres Unfallereignis vorgelegen habe, da der Kläger bewusstlos gewesen sei und extreme Schmerzen erlitten habe. Der Grundsatz in der AWMF-Leitlinie zur Begutachtung psychischer und psychosomatischer Erkrankungen, dass eine dissoziative Störung „üblicherweise“ nur dann als Unfallfolge anerkannt werden könne, wenn eine anhaltende schwere körperliche Schädigung wesentlich zur Entwicklung beigetragen habe, könne keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen. Auch die depressive Störung sei wesentlich durch den Unfall verursacht. Es bestünden keine Anhaltspunkte, dass der Kläger auch ohne die gravierenden Einschränkungen der dissoziativen Störung durch jedes andere alltägliche Ereignis zur annähernd derselben Zeit eine depressive Störung erlitten hätte. Nach der AWMF-Leitlinie zur Begutachtung psychischer und psychosomatischer Erkrankungen sei bei einer dissoziativen Störung von einer MdE von 30 v. H. auszugehen. Die depressive Störung überschneide sich mit den Beeinträchtigungen durch die dissoziative Bewegungsstörung.
Am 18. Dezember 2019 hat die Beklagte Berufung beim Hessischen Landessozialgericht eingelegt.
Der Senat hat von Amts wegen ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten bei Prof. Dr. med. Dr. Dipl.-Ing. S. vom 22. April 2021 eingeholt, in dem dieser eine dissoziative Bewegungsstörung am rechten Bein (ICD-10 F44.4), eine chronisch-depressive Verstimmung, derzeit vom Schweregrad einer Dysthymie (F34.1), sowie Lumbalgien bei lumbaler Spinalkanalstenose L4/5 diagnostiziert hat. Der Kläger leide zwar an einer psychogenen, dissoziativen Bewegungsstörung, die aber keine Unfallfolge sei, da psychische Faktoren im Rahmen der Grundpersönlichkeit des Klägers ganz maßgeblich für die Aufrechterhaltung der Symptomatik ursächlich seien und eine solche „Gewohnheitslähmung“ nach Körperschaden isoliert die Körperstelle betreffe, die geschädigt worden seien, während vorliegend die Symptomatik weit hierüber hinausgehe, indem nicht nur die Einsteifung des Kniegelenks, sondern eine vollständige Plegie sowohl der Fußhebung als auch der Fußsenkung demonstriert werde. Nach der AWMF-Leitlinie bestehe insbesondere bei im Verlauf zunehmender generalisierter Symptomatik hoher Begründungsbedarf, warum eine dissoziative Symptomatik noch als Schädigungsfolge anzusehen sei, da in diesem Fall im Verlauf regelmäßig psychosoziale Kontextfaktoren in den Vordergrund träten. Als solche zu nennen seien die auch im Rahmen der aktuellen Begutachtung vom Kläger umfangreich beschriebenen Kränkungserlebnisse auf dem Boden einer ausgeprägten rigiden Persönlichkeitsstruktur. Es könne dahingestellt bleiben, ob eine manifeste Persönlichkeitsstörung in das Berufsleben eingebracht worden sei oder es sich eher um eine Persönlichkeitsakzentuierung aufgrund der Lebensgeschichte mit Migrationshintergrund und Einheirat in eine offensichtlich in Deutschland bereits länger „akkulturalisierte“ Familie handele, denn zumindest eine dauerhafte dissoziative Störung als Unfallfolge sei nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit zu begründen. Nach dem Unfallereignis habe eine mittelbare depressive Entwicklung vorgelegen. Aufgrund der erheblichen Unfallfolgen sei dem Kläger klargeworden, dass er seine bisherige berufliche Tätigkeit kaum mehr adäquat bewältigen könne, was sein Weltbild ins Wanken gebracht habe. Andererseits seien chirurgischerseits jedenfalls ab Sommer 2013 keine messbaren Unfallfolgen beschrieben worden. Daher sei auch nicht mehr hinreichend zu begründen, warum eine anhaltende depressive Anpassungsstörung auf die abgeklungenen Körperbeschwerden noch vorliegen sollte. Zumindest über das Jahr 2014 hinaus lasse sich nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die Persistenz einer depressiven Anpassungsstörung als Unfallfolge erkennen. Die MdE für die Anpassungsstörung werde bis April 2014 auf 20 v. H., danach allenfalls für ein bis zwei Jahre auf 10 v. H. geschätzt.
In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 15. Juli 2021 hat Prof. Dr. med. Dr. Dipl.-Ing. S. dargelegt, dass Konversionsstörungen mit funktionellen motorischen Symptomen (dissoziative Bewegungsstörungen) i. d. R. eine multifaktorielle Genese hätten, sodass eine Anerkennung als psychoreaktive Folgestörung nach einmaligen Schädigungsereignissen im Allgemeinen nicht in Betracht komme, es sei denn, im Einzelfall lägen an der betroffenen Extremität anhaltende Unfallfolgen vor. Nach Abklingen des Körperschadens seien die Vorgaben zur Anpassungsstörungen (F43.2) heranzuziehen, wonach die Symptome (meist) nicht länger als weitere sechs Monate anhielten, wenn die Belastung oder deren Folge beendet sei.
Auf Antrag des Klägers hat der Senat nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ein Gutachten vom 8. Februar 2023 bei Prof. Dr. med. T., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, eingeholt. Dieser hat bei dem Kläger, der eine Laboruntersuchung in Bezug auf Medikamente abgelehnt habe, gleiche Umfänge von rechtem und linkem Bein sowie eine seitengleiche Beschwielung der Füße festgestellt, den sog. „Nicht-Fühl-Test“ (der für Simulation spreche), kognitive Leistungstests (die für eine schwere Demenz sprächen) sowie Beschwerdevalidierungstest (die für Simulation sprächen) durchgeführt. Prof. Dr. med. T. hat ausgeführt, bei dem Kläger liege die Diagnose „Entwicklung körperlicher Symptome aus psychischen Gründen“ (ICD-10 F68.0) vor, die verwandt werden solle, wenn körperliche Symptome, die zunächst durch eine körperliche Störung verursacht worden seien, die gesichert bestand, aufgrund des psychischen Zustandes des Betroffenen aggraviert werden oder länger anhalten. Vor dem Hintergrund einer wahrscheinlichen Akzentuierung oder schon Störung der Persönlichkeit sei ein Entschädigungsbegehren entstanden, das zur Entwicklung körperlicher Symptome aus psychischen Gründen geführt habe. Eine dissoziative Störung sei nicht festzustellen. Die ICD-10 sehe hier vor, dass eine körperliche Erkrankung ausgeschlossen werde und eine psychische Verursachung belegt werden müsse, namentlich eine Verursachung durch Belastungen, Probleme oder gestörte Beziehungen. Letztere hätten aber die dargebotene Lähmung nicht verursacht. Es bestehe kein völliger Verlust der Körperbewegungen. Dissoziative Störungen tendierten ferner dazu, innerhalb von Wochen oder Monaten zu remittieren, anders als die Entwicklung körperlicher Symptome aus psychischen Gründen. In der ICD-10 heiße es, dass besonders Lähmungen und Gefühlsstörungen sich bei unlösbaren Problemen eher langsam entwickelten. Ganz entscheidend sei, dass die ICD-10 für die Diagnose einer dissoziativen Störung den Ausschluss von Simulation fordere. Diese sei indes bei dem Kläger sehr wahrscheinlich. Die wahrscheinlichste Diagnose sei eine wiederkehrende Depression mit aktuell leichter Depression. Eine Persönlichkeitsstörung sei ebenfalls nicht unwahrscheinlich. Deren Diagnosekriterien seien erfüllt. Eine Anpassungsstörung als ereignisreaktive Symptomatik sei nach ICD-10 nicht mehr empfohlen zu diagnostizieren. Auch eine PTBS habe nicht vorgelegen. Die wiederkehrende Depression gehe nicht auf den Arbeitsunfall zurück. Konkurrierende Faktoren wie Streit mit der Beklagten, ein Gefühl, nicht ausreichend gewürdigt zu werden sowie eine weiteren Vielzahl Streitigkeiten seien hier maßgebliche Faktoren für die Entwicklung depressiver Episoden in der Folge des Arbeitsunfalls. Für die Annahme einer Anpassungsstörung seien die Kriterien der Leitlinie für die Begutachtung psychischer und psychosomatischer Erkrankungen (2019) nicht erfüllt. Anhaltende psychische Störungen als mittelbare Unfallfolge seien nur dann zu begründen, wenn in relevantem Umfang körperliche Schädigungsfolgen persistierten. Dies sei vorliegend nicht der Fall. Zudem sei nicht von fehlenden konkurrierenden Faktoren auszugehen. Die Persönlichkeitsstörung sei eine Dauerdiagnose und werde nach medizinischem Wissensstand nicht durch einen Arbeitsunfall verursacht. Die Entwicklung körperlicher Symptome aus psychischen Gründen sei unfallunabhängig. An dem Gutachten von Prof. Dr. med. Dr. Dipl.-Ing. S. sei zu kritisieren, dass dieser den „Nicht-Fühl-Test“ nicht zur Prüfung auf Validität einer Sensibilitätsstörung durchgeführt habe. Auch bei diesem habe indes die testpsychologische Beschwerdevalidierung für eine Simulation gesprochen, die aber nicht differentialdiagnostisch diskutiert worden sei.
Zur Begründung der Berufung trägt die Beklagte vor, die dissoziative Störung und die depressive Erkrankung seien nicht unfallabhängig, wie sich aus den Berichten der behandelnden Psychologinnen H. und L. sowie aus dem Gutachten von Dr. P. ergebe. Dieser habe zutreffend festgestellt, dass am Unfalltag und zeitnah kein psychischer Erstschaden habe festgestellt werden können. Die Einschätzung von Prof. Dr. med. habil. Dipl.-Psych. R. beruhe hingegen ausschließlich auf den eigenen Angaben des Klägers. Zum Gutachten von Prof. Dr. med. Dr. Dipl.-Ing. S. trägt die Beklagte vor, die Positionierung zur Dauer der unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit sei unverständlich, weil die körperlichen Unfallfolgen bereits mit Ablauf des 28. April 2013 abgeklungen gewesen seien. Willkürlich sei die Festlegung des Datums 8. April 2014 als Ende der unfallbedingten Anpassungsstörung, weil die sechsmonatige Anpassungsphase sich allenfalls bis 28. Oktober 2013 darstellen lasse. Kritikwürdig sei auch die Schätzung der MdE. Diese könne erst bewertet werden, wenn grundsätzlich Arbeitsfähigkeit bestehe. Auch das Gutachten von Prof. Dr. med. T. stütze das Klagebegehren nicht.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 20. November 2019 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das erstinstanzliche Urteil für richtig. Insbesondere gehe er davon aus, dass als Folge des Unfalls eine dissoziative Störung vorliege. Das Gutachten von Prof. Dr. med. Dr. Dipl.-Ing. S. sei insofern fehlerhaft, als danach die Grundpersönlichkeit des Klägers ursächlich sein soll. Außerdem liege keine zunehmende generalisierte Problematik vor, die Beeinträchtigungen bestünden vielmehr in gleicher Weise von Anfang an. Das Gutachten enthalte auch keine Angaben darüber, ab wann genau psychosoziale Kontextfaktoren in den Vordergrund getreten sein sollen. Auch die depressive Störung sei durch den Unfall entstanden. Einwendungen gegen das Nichtvorliegen einer PTBS habe er indes nicht. Zum Gutachten von Prof. Dr. med. T. äußert er sich nicht.
Der Berichterstatter hat mit den Beteiligten am 26. Oktober 2020 einen Erörterungstermin durchgeführt. Wegen dessen Inhalts wird auf das Protokoll vom 26. Oktober 2020 Bezug genommen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die Beklagtenakte Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
I. Die zulässige Berufung ist begründet. Das Sozialgericht hat zu Unrecht den Bescheid vom 25. Februar 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Dezember 2014 aufgehoben und die Beklagte zur Bewilligung einer Verletztenrente verurteilt. Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage statthaft (§ 54 Abs. 1, Abs. 4 SGG) und auch im Übrigen zulässig, aber unbegründet.
Die Voraussetzungen für die Bewilligung einer Verletztenrente wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 26. November 2012 liegen nicht vor.
1. Nach § 56 Abs. 1 Satz 1 SGB VII haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalles über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 vom Hundert gemindert ist, Anspruch auf Rente.
Die erste Voraussetzung für eine Verletztenrente - das Vorliegen eines Versicherungsfalls, hier: eines Arbeitsunfalls - ist erfüllt. Für einen Arbeitsunfall ist gemäß § 8 Abs. 1 SGB VII in der Regel erforderlich, dass die Verrichtung eines Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer/sachlicher Zusammenhang), dass diese Verrichtung zu dem zeitlich begrenzten, von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis - dem Unfallereignis - geführt hat (Unfallkausalität) und dass das Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden (oder den Tod des Versicherten) verursacht hat, haftungsbegründende Kausalität (BSG, Urteil vom 9. Mai 2006, B 2 U 1/05 R, juris, Rn. 10). Die Beklagte hat - bindend - mit Bescheid vom 25. Februar 2014 einen Arbeitsunfall anerkannt. Es fehlt zwar in dem Bescheid eine entsprechende ausdrückliche Regelung. Aus dem maßgeblichen objektiven Empfängerhorizont (§§ 133, 157 Bürgerliches Gesetzbuch – BGB – entsprechend) können die Formulierungen „Rente wegen Ihres Arbeitsunfalls“ und „Folgen des Versicherungsfalles“ in dem Bescheid aber nur so verstanden werden, dass ein Arbeitsunfall anerkannt wird (vgl. BSG, Urteil vom 28. Juni 2022, B 2 U 9/20 R, juris, Rn. 16).
Die zweite Voraussetzung für die Gewährung einer Verletztenrente, eine Minderung der Erwerbsfähigkeit in Folge dieses Versicherungsfalles, erfordert zunächst, dass überhaupt eine Minderung der Erwerbsfähigkeit des Versicherten durch eine Beeinträchtigung seines körperlichen oder geistigen Leistungsvermögens gegeben ist und dass diese Beeinträchtigung infolge des festgestellten Versicherungsfalls eingetreten ist, also über einen längeren Zeitraum andauernde Unfallfolgen vorliegen. Zur Feststellung einer gesundheitlichen Beeinträchtigung in Folge eines Versicherungsfalles muss zwischen dem Unfallereignis und den geltend gemachten Unfallfolgen entweder mittels des Gesundheitserstschadens oder direkt ein Ursachenzusammenhang nach der im Sozialrecht geltenden Theorie der wesentlichen Bedingung bestehen (BSG, Urteil vom 9. Mai 2006, B 2 U 1/05 R, juris, Rn. 12). Hierbei muss die Unfallfolge im Sinne eines Vollbeweises feststehen.
Nach § 56 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Abs. 3 SGB VII setzt der Anspruch auf eine Verletztenrente eine MdE von wenigstens 20 v. H. voraus. Die MdE richtet sich nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs. 2 Satz 1 SGB VII). Die Bemessung der MdE hängt damit zum einen von den verbliebenen Beeinträchtigungen des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens und zum anderen von dem Umfang der dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten ab. Entscheidend ist nicht der Gesundheitsschaden als solcher, sondern vielmehr der Funktionsverlust unter medizinischen, juristischen, sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten (BSG, Urteil vom 20. Dezember 2016, B 2 U 11/15 R, juris, Rn. 14). Die Bemessung des Grades der MdE ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG eine tatsächliche Feststellung, die das Tatsachengericht unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalls nach § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen richterlichen Überzeugung trifft (BSG, Urteil vom 20. Dezember 2016, B 2 U 11/15 R, juris, Rn. 15).
Ob ein Gesundheitsschaden als weiterer Gesundheitserstschaden eines Arbeitsunfalls anzuerkennen ist (haftungsbegründende Kausalität) und ob er einem Gesundheitserstschaden des Arbeitsunfalls als Unfallfolge zuzurechnen ist (haftungsausfüllende Kausalität), beurteilt sich jeweils nach der Theorie der rechtlich wesentlichen Bedingung.
Danach erfordert die Zurechnung eines Schadens eines Versicherten zum Versicherungsträger zweistufig die Erfüllung erstens tatsächlicher und zweitens darauf aufbauender rechtlicher Voraussetzungen: Die Einwirkung muss den (weiteren) Gesundheitserstschaden und ein Gesundheitserstschaden die Unfallfolge sowohl objektiv (1. Stufe) als auch rechtlich wesentlich (2. Stufe) verursacht haben (vgl. BSG, Urteil vom 17. Dezember 2015, B 2 U 8/14 R, juris, Rn. 18).
Die erste Stufe beruht auf der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie als Ausgangsbasis, wonach jedes Ereignis Ursache eines Erfolges ist, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele, sog. conditio sine qua non (BSG, Urteil vom 9. Mai 2006, B 2 U 1/05 R, juris, Rn. 13). Zudem muss die Einwirkung durch die versicherte Verrichtung (sowie der Gesundheitserstschaden) eine Bedingung sein, die erfahrungsgemäß die infrage stehende Wirkung ihrer Art nach notwendig oder hinreichend herbeiführt, mithin nicht eine bloß im Einzelfall nicht wegdenkbare zufällige Randbedingung ist (vgl. BSG, Urteil vom 17. Dezember 2015, B 2 U 8/14 R, juris, Rn. 19).
Erst, wenn auf der ersten Stufe die objektive Verursachung bejaht wird, geht es auf der zweiten Stufe der Zurechnung um die Rechtsfrage, ob die auf der ersten Stufe abschließend festzustellende faktische (Mit-)Verursachung des Gesundheitsschadens durch die versicherte Verrichtung/Einwirkung (oder den Gesundheitserstschaden) unter Würdigung aller auf der ersten Stufe festgestellten weiteren mitwirkenden unversicherten Ursachen die Realisierung einer in den Schutzbereich des jeweils erfüllten Versicherungstatbestandes fallende Gefahr ist, sich mithin das durch das versicherte Risiko verwirklich hat, gegen das der jeweils erfüllte Versicherungstatbestand gerade Schutz gewähren soll; eine Rechtsvermutung dafür, dass eine versicherte Verrichtung wegen ihrer objektiven Mitverursachung der Einwirkung auch rechtlich wesentlich war, besteht jedoch nicht (BSG, Urteil vom 17. Dezember 2015, B 2 U 8/14 R, juris, Rn. 20). Schließlich ist auch dann zu prüfen, ob eine Ursache wesentlich ist, wenn sie als alleinige Ursache festgestellt wird, weil andere (Mit-)Ursachen nicht erwiesen oder nicht in Betracht zu ziehen sind (BSG, Urteil vom 17. Dezember 2015, B 2 U 8/14 R, juris, Rn. 21).
Für die Feststellung dieses Ursachenzusammenhangs genügt die hinreichende Wahrscheinlichkeit; diese liegt vor, wenn mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht und ernste Zweifel ausscheiden, so dass die reine Möglichkeit nicht ausreicht (BSG, Urteil vom 9. Mai 2006, B 2 U 1/05 R, juris, Rn. 20).
2. Von diesen Maßstäben ausgehend ergibt sich eine rentenberechtigende MdE weder auf orthopädisch-chirurgischem (a) noch auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet (b).
a) Die Erwerbsfähigkeit des Klägers ist zunächst nicht auf orthopädisch-chirurgischem Fachgebiet in rentenrechtlich relevantem Umfang über die 26. Woche nach dem Unfall gemindert.
Jedenfalls ab dem 25. April 2013 lagen nämlich auf orthopädisch-chirurgischem Gebiet keine relevanten Unfallfolgen mehr vor. An diesem Tag wurde in der BGU eine passive Beweglichkeit des rechten Kniegelenks von 0/0/130° ermittelt. Daraus ergibt sich keine MdE. Der Senat folgt der beratungsärztlichen Stellungnahme von Dr. N., dass auch die von Dr. M. im Ersten Rentengutachten festgestellten Unfallfolgen keine MdE in rentenberechtigendem Ausmaß rechtfertigen. Dr. M. hat die MdE zwar auf 20 v. H. bis zum 24. Juni 2013 geschätzt. Allerdings hat er beim Kläger eine Beweglichkeit des rechten Kniegelenkes von 5/0/130° gemessen. Selbst eine MdE von 10 v. H. kann aber erst bei einer Bewegungseinschränkung nach der Neutral-Null-Methode von 0/0/120° angenommen werden (siehe Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl. 2017, S. 685). Die Beweglichkeit des Kniegelenks des Klägers ist hingegen deutlich besser.
b) Die Erwerbsfähigkeit des Klägers ist auch nicht auf neurologisch-psychiatrischem Gebiet infolge des Arbeitsunfalls gemindert.
aa) Der Kläger leidet nicht unter einer PTBS (F43.1). Es fehlt insofern bereits an dem Eingangskriterium (sog. A-Kriterium) sowohl nach ICD-10 als auch nach DSM-5, was zwischen den Beteiligten auch unstreitig ist. Die abweichende Auffassung von Prof. Dr. med. habil. Dipl.-Psych. R. wendet nicht die Vorgaben dieser Manuale an und stellt insbesondere auf eine im Zeitpunkt seiner Begutachtung nicht mehr geltende Fassung des DSM (IV statt 5) ab (vgl. BSG, Urteil vom 28. Juni 2022, B 2 U 9/20 R, juris, Rn. 22), was insoweit zur Unverwertbarkeit seines Gutachtens führt.
bb) Folge des Arbeitsunfalls ist auch keine dissoziative Störung (F44), weder eine dissoziative Bewegungsstörung (F44.3) noch eine dissoziative Sensibilitätsstörung (F44.6).
(a) Eine solche Erkrankung liegt beim Kläger bereits nicht im Vollbeweis vor. Eine Gesundheitsstörung kann nicht als Folge eines Arbeitsunfalls anerkannt werden, wenn sie mit hoher Wahrscheinlichkeit simuliert wird.
Der Senat folgt insoweit dem Sachverständigen Prof. Dr. med. T., dass bei dem Kläger kein völliger Verlust der Körperbewegung festgestellt werden kann und er sehr wahrscheinlich simuliert. Prof. Dr. med. T. hat hierzu verschiedene Testungen durchgeführt und daraus den plausiblen Schluss gezogen, dass der Kläger seine Lähmung simuliert, nicht bloß aggraviert. Die gleichmäßige Beschwielung der Füße und die gleichen Beinumfänge sprechen ebenfalls gegen eine Lähmung des rechten Beines. Das Nichtvorliegen einer dissoziativen Störung wird auch dadurch belegt, dass nach den Ausführungen von Prof. Dr. med. T. eine solche Störung dazu tendiert, innerhalb von Wochen und Monaten zu remittieren, was bei dem Kläger nicht der Fall sei. Der Senat tritt dem bei und verweist insofern ergänzend auch auf die widersprüchlichen Angaben des Klägers hinsichtlich des Zeitpunktes des Eintritts der Lähmungserscheinungen gegenüber Dipl.-Psych. H. (Befundbericht vom 15. Januar 2013) und die unterschiedlichen Darstellungen des Unfallereignisses zum einen zeitnah zum Unfall dahingehend, dass er lediglich mit den Beinen an das Fahrzeug gestoßen und nicht bewusstlos gewesen sei, während er später behauptet hat, auf den Kopf gestürzt und bewusstlos gewesen zu sein.
(b) Selbst, wenn der Kläger unter einer dissoziativen Störung leiden würde, wäre diese jedenfalls nicht rechtlich wesentlich durch den Arbeitsunfall verursacht worden.
Es fehlte dann bereits an einer Kausalität im naturwissenschaftlichen Sinne. Denn mit Prof. Dr. med. Dr. Dipl.-Ing. S. geht der Senat davon aus, dass eine solche Störung („Gewohnheitslähmung“) nach einem Körperschaden isoliert die Körperstelle betrifft, die geschädigt worden ist – hier: das Knie –, während die Symptomatik vorliegend weit hierüber hinausgeht, weil nicht nur die Einsteifung des Kniegelenks, sondern eine vollständige Plegie sowohl der Fußhebung als auch der Fußsenkung demonstriert wurde. Mit Prof. Dr. med. Dr. Dipl.-Ing. S. geht auch der Senat zudem davon aus, dass eine solche Plegie nach einem Körperschaden - anders als hier - mit der Zeit abnehmen würde. Aus diesen Gründen fehlt es an einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit dafür, dass das Unfallereignis zu der Plegie geführt hat.
cc) Auch eine depressive Erkrankung kann nicht auf den Arbeitsunfall zurückgeführt werden.
Der Senat geht zunächst davon aus, dass der Kläger unter einer depressiven Erkrankung leidet, und zwar zum Zeitpunkt der Untersuchung bei Prof. Dr. med. Dr. Dipl.-Ing. S. unter einer chronisch depressiven Verstimmung vom Schweregrad einer Dysthymie (F34.1) und zum Zeitpunkt der Untersuchung bei Prof. Dr. med. T. unter einer leichten depressiven Episode (F32.0). Diese Erkrankung kann aber jedenfalls nicht noch 26 Wochen nach dem Arbeitsunfall rechtlich wesentlich auf ihn zurückgeführt werden.
Die fehlende Wesentlichkeit des Arbeitsunfalls für die depressive Erkrankung des Klägers folgt aber noch nicht aus der geringen Schwere des Unfallereignisses und dessen Gesundheitserstschäden. Denn es gibt bei seelischen Erkrankungen keinen Rechts- oder Erfahrungssatz, wonach ein als geringfügig beurteiltes Trauma stets als bloße Gelegenheitsursache anzusehen ist (BSG, Urteil vom 9. Mai 2006, B 2 U 40/05 R, juris, Rn. 10).
Selbst wenn aber der Arbeitsunfall im naturwissenschaftlichen Sinne nicht hinweggedacht werden könnte, ohne dass die depressive Erkrankung entfiele (conditio sine qua non) und er auch generell geeignet wäre, eine solche Erkrankung auszulösen, wäre er zumindest keine wesentliche Ursache.
Der Senat folgt Prof. Dr. med. T. dahingehend, dass die Depression nicht auf den Arbeitsunfall zurückgeführt werden kann. Dieser ist jedenfalls keine wesentliche Ursache (2. Stufe). Der Senat tritt insofern zunächst der Einschätzung von Dr. Q. bei, dass eine psychische Erkrankung prinzipiell nur dann auf den Unfall gestützt werden kann, wenn ein psychischer Erstschaden oder überdauernde schwere körperliche Unfallfolgen vorliegen, was hier nicht der Fall ist. Diese Einschätzung entspricht auch dem Stand der Wissenschaft. Nach den Kausalitätskriterien in der gesetzlichen Unfallversicherung kommt einer psychischen Reaktion vor allem bei minderschweren Ereignissen die Bedeutung als notwendige Anknüpfungstatsache im Rahmen der haftungsausfüllenden Kausalität zwischen Arbeitsunfall und Unfallfolge zu (Urteil des Senats vom 18. Dezember 2017, L 9 U 153/17, unveröffentlicht, S. 18 des Urteilsumdrucks). Entwickeln sich nach einem Körperschaden depressive Symptome, die körperlich nicht oder nur zum Teil durch den Körperschaden zu erklären sind, ist ein Kausalzusammenhang mit dem körperlichen Schädigungsereignis im Allgemeinen (nur) zu begründen, wenn geeignete Brückensymptome vorliegen, anhand derer die überwiegende Wahrscheinlichkeit eines Zusammenhangs besteht (Leitlinie zur Begutachtung psychischer und psychosomatischer Störungen, Stand: 1.12.2019, Teil III, S. 45). Anknüpfungstatsachen für die Anerkennung depressiver Symptome als mittelbare Folgen eines Körperschadens sind das Vorliegen anhaltender körperlicher Schädigungsfolgen, der Nachweis des Beginns der psychischen Störung in geeignetem zeitlichen Zusammenhang mit dem Körperschaden bzw. den körperlichen Schädigungsfolgen, ein fehlender Nachweis konkurrierender Faktoren, die für die Symptomatik maßgeblich sind oder diese unterhalten sowie das Vorliegen einer authentischen Beschwerdedarstellung (Leitlinie zur Begutachtung psychischer und psychosomatischer Störungen, Stand: 1.12.2019, Teil III, S. 46).
Selbst wenn man aber mit Prof. Dr. med. Dr. Dipl.-Ing. S. davon ausginge, dass der Arbeitsunfall das Weltbild des Klägers „ins Wanken gebracht“ und eine depressive Entwicklung verursacht hat, kann nach dessen weiteren Ausführungen diese Erkrankung nur solange auf den Arbeitsunfall zurückgeführt werden, wie körperliche Beschwerden vorliegen. Dies steht im Einklang mit dem Stand der Wissenschaft, nach dem es gegen die Annahme einer depressiven Episode als Schädigungsfolge spricht, wenn rezidivierende Episoden ohne einen zugleich anhaltenden unfallbedingten Körperschaden in relevantem Umfang auftreten (Leitlinie zur Begutachtung psychischer und psychosomatischer Störungen, Stand: 1.12.2019, Teil III, S. 43). Da aber spätestens am 25. April 2013 die körperlichen Unfallfolgen abgeklungen waren, kann zu diesem Zeitpunkt nicht mehr davon ausgegangen werden, dass eine Depression, mag sie auch im naturwissenschaftlichen Sinne noch auf den Arbeitsfall zurückzuführen sein, rechtlich wesentlich (2. Stufe) durch ihn verursacht wurde. Unfallfolgen, die lediglich vom 26. November 2012 bis 25. April 2013 vorliegen, mindern die Erwerbsfähigkeit weniger als 26 Wochen lang.
dd) Auch eine Anpassungsstörung (F43.2) kann jedenfalls nicht über 26 Wochen hinaus rechtlich wesentlich auf den Arbeitsunfall zurückgeführt werden.
Der Senat folgt Prof. Dr. med. T. dahingehend, dass bereits keine Anpassungsstörung vorliegt, weil die Leitlinienkriterien nicht erfüllt sind. Nach der Leitlinie zur Begutachtung psychischer und psychosomatischer Störungen (Stand: 1.12.2019) kommt sowohl nach ICD-10 als auch nach DSM-5 eine Anpassungsstörung nur in Betracht, wenn die Kriterien für eine andere psychische Störung nicht erfüllt sind (Teil III, S. 29).
Selbst wenn eine solche Erkrankung vorgelegen hat oder noch vorliegt, kann sie nach den plausiblen Ausführungen von Prof. Dr. med. Dr. Dipl.-Ing. S. nur dann Unfallfolge sein, wenn in relevantem Umfang körperliche Beschwerden persistierten. Dies war, wie bereits ausgeführt, jedenfalls ab 25. April 2013 nicht mehr der Fall.
ee) Schließlich kann auch eine Persönlichkeitsstörung (F61.0) des Klägers keine rentenrechtlich relevante MdE begründen.
Nach den überzeugenden Ausführungen von Prof. Dr. med. T. liegt eine solche Erkrankung bei dem Kläger zwar vor, ist aber eine Dauerdiagnose und kann nicht durch einen Arbeitsunfall verursacht werden. Insofern fehlt es bereits an einer naturwissenschaftlichen Kausalität. Dies entspricht dem aktuellen Stand der Wissenschaft. Danach kann zwar eine andauernde Persönlichkeitsänderung (F62.0, F62.1) nach extremen Belastungssituationen entstehen, selbst kurzzeitige Lebensbedrohungen reichen aber i. d. R. nicht aus, weil ein einmaliges Ereignis definitionsgemäß nicht zu einer andauernden Persönlichkeitsstörung führen kann; entwickeln sich derartige Symptome nach einem lediglich einmaligen Ereignis, sind diese einer vorbestehenden psychischen Vulnerabilität zuzuordnen (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl. 2017, S. 155), die dann überragende Bedeutung hat.
ff) Auch eine Entwicklung körperlicher Symptome aus psychischen Gründen (F68.0) kann nicht zu einer MdE infolge des Arbeitsunfall führen.
Nach den auch insofern überzeugenden Ausführungen von Prof. Dr. med. T. liegt diese Erkrankung beim Kläger vor, ist aber unfallunabhängig. Sie wäre zwar ohne den Unfall nicht im naturwissenschaftlichen Sinne entstanden, wurde aber nicht wesentlich durch ihn verursacht. Das Entschädigungsbegehren, das zur Entwicklung dieser Krankheit geführt hat, hat nach Prof. Dr. med. T. vielmehr psychische Gründe, die in der Persönlichkeit des Klägers wurzeln. Dem tritt der Senat bei.
II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
III. Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs. 2 SGG), liegen nicht vor.