S 38 KA 5022/23

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG München (FSB)
Sachgebiet
Vertragsarztangelegenheiten
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 38 KA 5022/23
Datum
2. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

I. Werden von einer Zahnarztpraxis schwerpunktmäßig Prophylaxeleistungen erbracht, handelt es sich in der Regel nicht um eine Praxisbesonderheit, da diese zu den Standardleistungen aller Vertragszahnärzte gehören.

II. Pandemiebedingte Nachholeffekte und ein damit verbundener Mehrbedarf stellen in der Regel keine Praxisbesonderheit dar, da alle Zahnarztpraxen von dem pandemischen Geschehen betroffen waren; es sei denn, es treten andere, praxisspezielle Umstände (zum Beispiel eine sich zusätzlich auswirkende andersartige Patientenverteilung) hinzu.

III. Bei der Wahl der Prüfmaßnahme (schriftliche Beratung oder Kürzung), aber auch bei der Kürzungshöhe besteht ein Ermessensspielraum des Prüfgremiums. Liegt ein besonderer Grund vor, ist dieser bei der Wahl der Prüfmaßnahme und gegebenenfalls auch bei der Kürzungshöhe mit zu berücksichtigen. Hierzu zählen nicht nur das Bestehen einer Anfängerpraxis (vgl BSG, Urteil vom 28.04.2004, Az B 6 KA 24/03 R), sondern auch der Umstand, dass eine Arztpraxis/Zahnarztpraxis jahrzehntelang ohne Beanstandung abrechnete und nur in einem einzelnen Quartal bzw. wenigen Quartalen eine Unwirtschaftlichkeit bestand.


I. Der Bescheid des Beklagten vom 23.02.2023 mit Beschluss vom 16.11.2022 zur Quartalsabrechnung 0 mit der darin ausgesprochenen Vergütungsberichtigung in Höhe von 2.947,41 Euro wird aufgehoben und der Beklagte verpflichtet, über den Widerspruch der Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.

II. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens


T a t b e s t a n d :

Beklagt ist der Widerspruchsbescheid aus der Sitzung des Beklagten vom 16.11.2022. In diesem wurde über die Wirtschaftlichkeitsprüfung im Quartal 3/20, betreffend die Bema-Nr 105 und die GoÄ-Nr. 1508 entschieden. Im Ergebnis wurde eine Kürzung in Höhe von 3.020,49 € ausgesprochen, wobei auf die Bema-Nr 105 Euro 2.947,41 entfielen. Bezüglich der GoÄ-Nr. 1508 wurde kein Widerspruch eingelegt. Zur allgemeinen Statistik gab der Beklagte bekannt, die klagende Zahnarztpraxis, bestehend aus zwei Behandlern unterschreite im Quartal 3/20 den Fallwert um 5 % bei einer Fallzahlüberschreitung von 96 %. Was die Patientenverteilung betreffe, unterscheide sich die Praxis von der der Vergleichsgruppe insofern, als dort 17 % mehr Rentnerversicherte behandelt würden. Bei Anwendung der Prüfmethode des statistischen Vergleichs werde bei der Bema-Nr 105 eine Überschreitung von 201 % gegenüber der Vergleichsgruppe festgestellt. Nach Kürzung der Leistungen der Bema-Nr 105 werde eine Restüberschreitung in Höhe von 111 % belassen. Außerdem merkte der Beklagte an, aufgrund der Praxisgröße sei davon auszugehen, dass die Abrechnungswerte generell im Landesdurchschnitt liegen müssten.
Dagegen ließ die Klägerin Klage zum Sozialgericht München durch ihre Prozessbevollmächtigte einlegen. Es wurde die Auffassung vertreten, der Regress sei rechtswidrig und verletze die Klägerin in ihren Rechten. Beanstandet werde, dass kein transparentes Verfahren stattgefunden habe, was für eine effektive Rechtsverwirklichung erforderlich sei. Zudem stelle sich die Frage, ob die Vergleichsgruppe hinreichend homogen sei. Denn die Klägerin sei seit vielen Jahren auf Prophylaxe spezialisiert. Zudem werde die Behauptung bestritten, dass im streitgegenständlichen Quartal keine PAR-Fälle festzustellen seien. PAR-Behandlungen müssten im Rahmen der statistischen Prüfung herausgenommen werden, da es sich um genehmigte Leistungen handle, bei denen grundsätzlich eine Wirtschaftlichkeitsprüfung ausgeschlossen sei. Im Übrigen, selbst wenn keine PAR- Fälle vorliegen sollten, könne daraus nicht rückgeschlossen werden, dass dann auch keine Leistungen der Bema-Nr 105 erbracht werden dürften. Denn bei diesen Leistungen handle es sich um eigene, von der PAR-Behandlung losgelöste Indikationen. Bestritten werde auch der Vorwurf, der Anstieg der Leistungen der Bema-Nr 105 sei durch das Spülen mit antibakterieller Lösung zu klären. In dem Zusammenhang wurde auch seitens der Klägerin Beweis angeboten. Zu berücksichtigen seien bei der Klägerin Praxisbesonderheiten. Es handle sich um Prophylaxe-Leistungen, die von der Klägerin in vergleichsweise großem Umfang erbracht würden. Diese Leistungen seien im Hinblick auf die Ansteckungsgefahr bei Covid zunächst weggefallen. Die KZVB selbst habe auch dazu geraten, keine Prophylaxeleistungen durchzuführen. Bei der Pandemie handle es sich um ein Ereignis höherer Gewalt. Es sei zu einem Anstieg der Zahnfleischprobleme gekommen. Viele zunächst unbehandelte Patienten mussten daher in den darauffolgenden Monaten (3/20, 4/20 und 1/21) versorgt werden. Daraus sei der Anstieg der Leistungen nach der Bema-Nr 105 zu erklären. Der Beklagte habe sich überhaupt nicht mit dem Wegfall der Prophylaxeleistungen in den Anfangsmonaten der Pandemie (Monate März, April, Mai 2020) auseinandergesetzt.
Auch die belassene Restüberschreitung in Höhe von 111 % führe nicht zur Rechtmäßigkeit des Bescheides. Denn es sei nach der Rechtsprechung der Sozialgerichte unzulässig, der Ermittlung und Quantifizierung möglicherweise vorhandener Praxisbesonderheiten durch einen Rabatt bei der Kürzungsentscheidung aus dem Wege zu gehen (vgl SG B-Stadt, Urteil vom 24.10.2018, Az S 38 KA 5022/18). Letztendlich habe auch keine ausreichende intellektuelle Prüfung stattgefunden, weshalb auch ein Begründungsdefizit nach § 35 SGB X vorliege.
In der mündlichen Verhandlung am 20.07.2023 wurden mehrere statistische Werte aus vorangegangenen Quartalen und auch Folgequartalen mitgeteilt. So seien Auffälligkeiten lediglich in den Quartalen 3/20, 4/20 und 1/21 (Anmerkung: Wirtschaftlichkeitsprüfungen der Quartale 4/20 und 1/21 befinden sich noch im Vorverfahren) festzustellen. Im Vorjahresquartal 3/19 habe die Klägerin 221 Leistungen der Bema-Nr 105 abgerechnet, was einer Unterschreitung des Landesdurchschnitts von 38 % entspreche. Im Quartal 1/20 seien lediglich 147 Leistungen der Bema-Nr 105 abgerechnet worden (= Unterschreitung von 52 %). Während im streitgegenständlichen Quartal 3/20 1.201 Leistungen der Bema-Nr 105 abgerechnet worden seien, sei im Quartal 3/21 ein erheblicher Rückgang zu verzeichnen gewesen, nämlich auf lediglich 197 Leistungen.


Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin stellte die Anträge aus dem Schriftsatz vom 21.03.2023.


Die anwesenden Beigeladenen stellten keine Anträge.


Beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung war die Beklagtenakte. Im Übrigen wird auf den sonstigen Akteninhalt, insbesondere die Schriftsätze der Beteiligten sowie die Sitzungsniederschrift vom 20.07.2023 verwiesen.


E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Der Widerspruchsbescheid der Beklagten ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.
Soweit die Prozessbevollmächtigte der Klägerin Beweisanträge gestellt hat, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach § 103 S. 2 SGG das Gericht an Beweisanträge nicht gebunden ist. Dies ist Ausfluss des in § 103 S. 1 SGG enthaltenen Amtsermittlungsgrundsatzes. Das Ausmaß der Ermittlungen steht im Ermessen des Gerichts (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, Rn 4 zu § 103). Es müssen aber alle Tatsachen ermittelt werden, die für die Entscheidung in prozessualer und materieller Hinsicht entscheidungserheblich sind (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, Rn 4 zu § 103). Das Gericht ist jedoch nur zu solchen Ermittlungen verpflichtet, die nach Lage der Sache erforderlich sind. Es muss nicht jeder Behauptung nachgehen (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, Rn 7 zu § 103). Aus Sicht des Gerichts sind die Beweisanträge hier nicht entscheidungserheblich.
Fraglich ist bereits, ob der angefochtene Bescheid des Beschwerdeausschusses formell rechtmäßig ist. Dies wäre auch dann nicht der Fall, wenn der Bescheid entgegen § 35 SGB X nicht hinreichend begründet wäre und damit ein Begründungsdefizit vorläge. Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin macht hier geltend, der Beklagte habe sich nicht ausreichend mit dem Vortrag der Klägerseite, auch mit etwaigen Praxisbesonderheiten auseinandergesetzt. Dafür gibt es nach Auffassung des Gerichts durchaus Anhaltspunkte, kann aber letztlich dahinstehen, da jedenfalls der angefochtene Widerspruchsbescheid als materiell rechtswidrig anzusehen ist.
Rechtsgrundlagen für die Wirtschaftlichkeitsprüfung sind §§ 106 Abs. 2 Ziff.1 SGB V, 106a Abs. 1 SGB V in Verbindung mit der Prüfvereinbarung. Im Gesetz geregelt ist die Zufälligkeitsprüfung. Nach § 106a Abs. 4 Satz 3 können die in § 106 Abs. 1 S. 2 genannten Vertragspartner über die Zufälligkeitsprüfung hinaus Prüfungen ärztlicher Leistungen nach Durchschnittswerten oder andere arztbezogene Prüfungsarten vereinbaren. Nach § 18 Ziff. 2 der Prüfvereinbarung ist auch eine Prüfung nach Durchschnittswerten vorgesehen. Die Prüfmethode liegt im Ermessen der Prüfungsstelle bzw. des Beschwerdeausschusses (§ 19 Prüfvereinbarung).
Es fand eine statistische Durchschnittsprüfung der Leistungen nach der Bema-Nr. 105 statt. Dabei werden die Abrechnungswerte des geprüften Vertragszahnarztes im selben Quartal mit den Abrechnungswerten der bayerischen Zahnärzte (Landesdurchschnitt) verglichen. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die Vergleichsgruppe im Durchschnitt wirtschaftlich handelt. Lässt sich die Überschreitung nicht durch Unterschiede in der Praxisstruktur oder in den Behandlungsnotwendigkeiten erklären, hat dies die Wirkung eines Anscheinsbeweises der Unwirtschaftlichkeit (BSG, Urteil vom 16.07.2003, Az B 6 KA 45/02 R). Voraussetzung ist allerdings, dass eine Vergleichbarkeit gegeben ist. Weicht die Struktur der Praxis des geprüften Arztes sowohl hinsichtlich der Zusammensetzung des Patientenklientels, als auch hinsichtlich des ärztlichen Diagnose-und Behandlungsangebots von der Typik beim Durchschnitt der Fachgruppe signifikant ab (vgl BSG SozR 2500 § 106 Nr. 50 S 264; Nr 57 S 319ff; BSG SozR 2500 § 106 Nr 1 Rn. 11), dann liegt eine Unvergleichbarkeit vor, die zur Bildung einer engeren Vergleichsgruppe veranlassen würde. Die Gruppe der Zahnärzte stellt aber eine sehr homogene Arztgruppe dar, sodass grundsätzlich von einer Vergleichbarkeit auszugehen ist. Auch der Umstand, dass die Klägerin nach dem Vortrag der Prozessbevollmächtigten schwerpunktmäßig in der Prophylaxe tätig ist, legt es nicht nahe, eine spezielle Vergleichsgruppe zu bilden. Die Rechtsprechung hat bisher lediglich bei Kieferorthopäden und MKG-Chirurgen die Bildung von speziellen Vergleichsgruppen gefordert. Liegen Schwerpunkte vor, dann könnte dies im Rahmen der Anerkennung und Bewertung von Praxisbesonderheiten berücksichtigt werden.
Die statistische Durchschnittsprüfung darf von den Prüfgremien nur dann durchgeführt werden, wenn sich eine Einzelfallprüfung als nicht aussagekräftig erweist oder nicht durchführbar ist (SG Hannover, Urteil vom 19.10.2016, Az S 78 KA 191/15). Angesichts der Praxisgröße (96 % über dem Durchschnitt der Vergleichsgruppe, was die Fallzahl betrifft) ist hier eine Einzelfallprüfung nicht durchführbar.
Indikator für eine unwirtschaftliche Behandlungsweise ist die Überschreitung der Grenze zum offensichtlichen Missverhältnis. Hierfür gibt es keine allgemein verbindliche Festlegung (BSG, Urteil vom 15.03.1995, Az 6 RKa 37/93; SG Marburg, Urteil vom 21.11.2012, Az S 12 KA 61/12). Die Rechtsprechung der Sozialgerichte geht bisher von einer Grenze zum offensichtlichen Missverhältnis um die 50 % hinsichtlich des Gesamtfallwertes aus. Bei Arztgruppen mit engem Leistungsspektrum dürfe aber eine Grenzziehung bei Überschreitungen der Durchschnittswerte der Vergleichsgruppe um +40 % oder weniger angenommen werden. Hier handelt es sich jedoch um keine Arztgruppe mit einem engen Leistungsspektrum. Bei einer statistischen Prüfung einzelner Gebührenordnungsziffern wird die Grenze zum offensichtlichen Missverhältnis bei ca. 100 % Überschreitung gezogen.
In einem erst kürzlich entschiedenen Verfahren (SG B-Stadt, Urteil vom 17.05.2023, S 38 KA 5118/21) wurde erwogen, ob nicht bei Praxen mit deutlich vom Durchschnitt der Vergleichsgruppe nach oben abweichenden Fallzahlen die Grenze des wirtschaftlichen Missverhältnisses einer Korrektur bedarf, da der pauschale Ansatz einer Grenze zum offensichtlichen Missverhältnis von 50 % zu Verzerrungen und Bevorzugung von Praxen mit hohen Fallzahlen führen könnte. Hierbei wäre es rechtlich nicht zu beanstanden, einen einheitlichen Maßstab/eine einheitliche Berechnungsweise zu verwenden und auf eine von einem Mathematiker entwickelte Formel ergänzend zurückzugreifen.
Dieser Gesichtspunkt spielt aber im streitgegenständlichen Verfahren keine Rolle, da es sich um eine Wirtschaftlichkeitsprüfung einer einzelnen Gebührenordnungsposition handelt und die Fallzahlen zwar mit 96 % hoch sind, aber nach Auffassung des Gerichts noch nicht einen Wert erreicht haben, die Aussagekraft der pauschalen Grenze des offensichtlichen Missverhältnisses in Frage zu stellen.
Ist eine grundsätzliche Vergleichbarkeit gegeben, ist zu prüfen, ob Praxisbesonderheiten und/oder kausalkompensatorische Einsparungen vorliegen, die den Mehraufwand rechtfertigen. Praxisbesonderheiten sind anzuerkennen, wenn ein spezifischer, vom Durchschnitt der Vergleichsgruppe signifikant abweichender Behandlungsbedarf des Patientenklientels und hierdurch hervorgerufene Mehrkosten nachgewiesen werden (BSG, SozR 4-2500 § 87 Nr 10 Rn. 35).
Dass die Klägerin zu den Zahnarztpraxen gehört, die aufgrund einer Fehlinformation die Leistungen nach der Bema-Nr 105 auch für ein "Spülen" mit antibakteriellen Lösungen in Ansatz brachten, kann zwar nicht ausgeschlossen werden, jedoch fehlen jegliche Anhaltspunkte. Die Klägerin bestreitet dies im Übrigen.
Soweit die Klägerin darauf hinweist, es fänden in der Praxis schwerpunktmäßig Prophylaxeleistungen statt, und dies als Praxisbesonderheit ansieht, kann dieser Vortrag aus mehreren Gründen nicht zu einer Anerkennung und Berücksichtigung führen. Denn Prophylaxeleistungen, d. h. alle Maßnahmen, die der Erkrankung der Zähne und des Zahnfleisches vorbeugen, sind Standardleistungen aller Zahnärzte und können deshalb grundsätzlich nicht als Praxisbesonderheit gewertet werden. Abgesehen davon obliegt der Klägerin diesbezüglich nach gefestigter Rechtsprechung eine Darlegungs-und Feststellungslast, der der Vortrag nicht genügt. So entspricht es der besonderen Mitwirkungspflicht des Arztes/Zahnarztes, die für ihn günstigen Umstände, die nur ihm bekannt sind, aufzuzeigen (BSG, Urteil vom 11.12.2002, B 6 KA 1/02 R; LSG NRW, Urteil vom 09.02.2011, Az L 22 KA 38/09).
Die hohen Überschreitungswerte bei den Leistungen nach der Bema-Nr. 105 lassen sich - wenn überhaupt -nach Auffassung des Gerichts auch nur bedingt durch eine abweichende Patientenstruktur erklären. Die Klägerin hat zwar mehr Rentnerversicherte als die Vergleichsgruppe (+ 17%). Denn die Patientenstruktur dürfte weder in den vorausgegangenen Quartalen eine andere sein, noch sich in den nachfolgenden Quartalen geändert haben. Wie im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 20.07.2023 deutlich wurde, rechnete die Klägerin bis auf das streitgegenständliche Quartal und die diesem nachfolgenden Quartale 4/20 und 1/21 die Leistungen der Bema-Nr. 105 unterdurchschnittlich, teilweise weit unterdurchschnittlich ab (Quartal 3/19: -38 %; Quartal 1/20: -52 %). Daraus ist herzuleiten, dass die abweichende Patientenstruktur für sich genommen, konkret der gegenüber der Vergleichsgruppe erhöhte Rentneranteil keine Auswirkungen auf den Ansatz der Leistungen nach der Bema-Nr. 105 hat.
Des Weiteren macht die Klägerin als Praxisbesonderheit einen pandemiebedingten Mehrbedarf durch Nachholeffekte geltend. Grundsätzlich wäre anzunehmen, dass in den Anfangsquartalen des pandemischen Geschehens durch die Infektionslage insgesamt weniger Zahnarztbesuche stattfanden und auch weniger Leistungen abgerechnet wurden mit der Folge, dass hier bei bestimmten Leistungen in späteren Quartalen nicht nur bei der Klägerin Nachholeffekte eintraten, die dann zu einem Anstieg der Leistungen bei allen Zahnärztinnen/Zahnärzten führten. Hierzu stellt die mit einem Zahnarzt fachkundig besetzte Kammer fest, dass erstaunlicherweise in den Quartalen der Pandemie gegenüber den Vorjahresquartalen ein spürbarer Leistungsrückgang nicht festzustellen ist und es offensichtlich solche Nachholeffekte, jedenfalls was die Leistungen nach der Bema-Nr. 105 betrifft, bei der Vergleichsgruppe nicht gab. Ansonsten wäre die Klägerin bei der statistischen Durchschnittsprüfung unauffällig gewesen. Nachdem alle Zahnarztpraxen von der Pandemie betroffen waren, lässt sich allein daraus ein spezifischer, vom Durchschnitt der Vergleichsgruppe signifikant abweichender Behandlungsbedarf nicht herleiten, es sei denn, es treten andere, praxisspezielle Umstände (zum Beispiel eine sich zusätzlich auswirkende andersartige Patientenverteilung) hinzu. Angesichts der bei der Klägerin anders gelagerten Patientenverteilung (17 % mehr Rentnerversicherte also Vergleichsgruppe) ist nicht auszuschließen, dass es gerade in der klägerischen Praxis zu einem Nachholeffekt, was Leistungen der Bema-Nr. 105 betrifft, im Quartal 3/20 kam. Damit hat sich der Beklagte nicht auseinandergesetzt, worauf die Beklagte bei der erforderlichen intellektuellen Prüfung auch ihren Fokus hätte richten müssen. Allerdings wäre selbst bei Berücksichtigung einer solchen Praxisbesonderheit nach wie vor von einem Überschreiten des offensichtlichen Missverhältnisses und damit von einer unwirtschaftlichen Behandlungsweise auszugehen.
Kommt der Beklagte im Rahmen der intellektuellen Prüfung zum Ergebnis, dass selbst unter Berücksichtigung von Praxisbesonderheiten nach wie vor eine unwirtschaftliche Behandlungsweise besteht, erscheint klärungsbedürftig, ob der Beklagte bei der Wahl der Maßnahme der Wirtschaftlichkeitsprüfung zulässigerweise im Rahmen des ihm zustehenden Ermessens von einer schriftlichen Beratung Abstand genommen hat und - falls dies zu bejahen wäre, auch seinen Ermessensspielraum eingehalten hat, was die Festlegung der Höhe der Honorarkürzungen (30 %) als Reaktion auf die festgestellte Unwirtschaftlichkeit betrifft. Dabei sind auch Sinn und Zweck der Wirtschaftlichkeitsprüfung nach § 106 SGB V und ihrer Maßnahmen zu beachten. Diese bestehen zum einen in der Sanktionierung für die unwirtschaftliche Behandlungsweise/Verordnungsweise. Zum anderen soll der Vertragszahnarzt/Vertragsarzt dazu angehalten werden, seine unwirtschaftliche Behandlungsweise/Verordnungsweise zu überdenken und künftig unter Beachtung des Grundsatzes der Erforderlichkeit, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§ 72 Abs. 2 Satz 1 SGB V) zu behandeln und zu verordnen.
Konkrete Ausführungen der Beklagten zur Wahl der Wirtschaftlichkeitsprüfungsmaßnahme und zur Begründung der Kürzungshöhe finden sich nicht in dem angefochtenen Widerspruchsbescheid.
Wird eine Unwirtschaftlichkeit festgestellt, bestimmt § 106 Abs. 3 S. 3 SGB V, dass weiteren Maßnahmen gezielte Beratungen vorausgehen sollen. Es handelt sich um einen grundsätzlichen Vorrang von Beratungen gegenüber Kürzungen. Nach gefestigter Rechtsprechung ist aber eine Honorarkürzung auch ohne derartige vorangegangene gezielte Beratung bei hohen Überschreitungen über der Grenze zum offensichtlichen Missverhältnis nicht rechtswidrig (vgl BSG, Urteil vom 21.05.2003, Az B 6 KA 32/02 R).
Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl BSG, Urteil vom 28.04.2004, Az B 6 KA 24/03 R) hat wiederholt betont, dass dem Wirtschaftlichkeitsgebot und dem Instrument der Wirtschaftlichkeitsprüfung im Rahmen der vertrags(zahn)ärztlichen Versorgung ein hoher Stellenwert zukomme. Schließlich habe das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Abs. 1 S. 2 SGB V eine wichtige Ausprägung durch die Regelung über die Wirtschaftlichkeitsprüfung in § 106 Abs. 1 SGB V erfahren. Es gebe eine ganze Bandbreite denkbarer vertretbarer Entscheidungen, vom gänzlichen Unterlassen einer Kürzung über die Zubilligung einer Toleranz im Bereich der Übergangszone bis hin zur Kürzung des gesamten unwirtschaftlichen Mehraufwandes. Dabei dürfe das Gericht seine eigene Einschätzung der zutreffenden Kürzungshöhe nicht anstelle der von den Prüfgremien getroffenen Ermessensentscheidung setzen. Eine Anfängerpraxis könne auch von einer Honorarkürzung verschont werden.
Hier aber handelt es sich nicht um eine Anfängerpraxis, sondern vielmehr um eine seit Jahrzehnten bestehende Praxis, die bisher, so jedenfalls die unwidersprochenen Ausführungen der Klägerseite, hinsichtlich der Abrechnung unauffällig war. Eine Gleichsetzung mit einer Anfängerpraxis erscheint nicht geboten. Gleichwohl könnte ein über Jahrzehnte hinweg festzustellendes wirtschaftliches Verhalten (Gesamtfallwert erheblich, teilweise zweistellig unter dem Gesamtfallwert der Vergleichsgruppe) einen besonderen Grund darstellen, dies bei der Auswahl der Prüfmaßnahme (schriftliche Beratung oder Kürzung), aber auch bei der Kürzungshöhe mit zu reflektieren. Zusätzlich darf auch die Wirtschaftlichkeit von einzelnen Leistungen nicht losgelöst von der Gesamttätigkeit und den Gesamtfallkosten des Vertragszahnarztes in dem strittigen Quartal beurteilt werden (vgl. BSG, Urteil vom 19.10.2011, Az B 6 KA 38/10 R). Die Vergütungsberichtigung bei den Leistungen nach der Bema-Nr. 105 wirkt sich im streitgegenständlichen Verfahren auch auf den Gesamtfallwert aus. Führt die Vergütungsberichtigung von Einzelleistungen zu einer Restüberschreitung beim Gesamtfallwert, die entweder in der Übergangszone zum offensichtlichen Missverhältnis liegt, oder sogar noch im Bereich des offensichtlichen Missverhältnisses, bedarf es keiner Auseinandersetzung mit dem Gesamtfallwert im Sinne eines Mitreflektierens desselben. Anders verhält es sich jedenfalls, wenn bei einer Vergütungsberichtigung von Einzelleistungen schon vor der Kürzung der Gesamtfallwert der Vergleichsgruppe unterschritten wird. In diesem Fall ist zwar auch eine Vergütungsberichtigung von Einzelleistungen möglich, jedoch ist der Beklagte verpflichtet, den Gesamtfallwert mit zu reflektieren. Dies hat die Beklagte in dem angefochtenen Bescheid jedoch unterlassen, was es bei einer erneuten Befassung nachzuholen gilt.
Was die belassene Restüberschreitung (111 %) betrifft, ist es nach der Rechtsprechung (vgl. BayLSG, Urteil vom 04.02.2009, Az L 12 KA 27/08; a.A. LSG für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 01.10.1996, Az L 11 Ka 24/96) nicht zulässig, "der Ermittlung und Quantifizierung möglicherweise vorhandener Praxisbesonderheiten durch einen "Rabatt" bei der Kürzungsentscheidung aus dem Wege zu gehen. Ob die belassene Restüberschreitung wirklich großzügig bemessen ist, kann der Beklagte erst dann beantworten, wenn er unter Ausübung seines Beurteilungsspielraums die Frage nach dem Bestehen von Praxisbesonderheiten und der Höhe des als wirtschaftlich anzuerkennenden Mehraufwandes geprüft hat, weil danach auf der ersten Stufe der Durchschnittswertprüfung die Überschreitung entsprechend zu bereinigen ist und möglicherweise dann wegen Nichterreichens des offensichtlichen Missverhältnisses eine Kürzung nicht mehr stattfinden darf".
Abschließend weist das Gericht darauf hin, dass die Entscheidung nur das strittige Quartal 3/20 betrifft und offen bleibt, ob die Rechtsauffassung auch auf die nachfolgenden Quartale 4/20 und 1/21 übertragbar ist.
Aus den genannten Gründen war zu entscheiden, wie geschehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG iVm § 154 Abs. 1 VwGO.

 

Rechtskraft
Aus
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