Fallen Fern- und Nahvisus bei hoher Myopie auseinander, können Zwischenwerte gebildet werden, um den Grad der Behinderung sachgerecht zu bestimmen. Das bloße Abstellen auf den Fernvisus berücksichtigt die Teilhabeeinschränkungen Betroffener nur unzureichend.
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- Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dresden vom 10. Juni 2019 teilweise aufgehoben und der Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 29. Januar 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Dezember 2014 verurteilt, für den Zeitraum vom 20. August 2013 bis 14. Februar 2017 einen GdB von 30 und für den Zeitraum vom 15. November 2018 bis 14. April 2021 einen GdB von 40 festzustellen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
- Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers.
- Die Revision wird nicht zugelassen.
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Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Feststellung eines höheren Grades der Behinderung (GdB) als 20.
Der 2007 geborene Kläger leidet an der Erkrankung Morbus Best, eine vererbte zentrale Netzhauterkrankung. Typisch für die Erkrankung der Makula ist eine deutliche Diskrepanz zwischen Nah-und Fernvisus. Der Kläger besuchte in der 1. und 2. Grundschulklasse die Blinden- und Sehbehindertenschule in Y..... Seit der 3. Klasse wird der Kläger in der Integrationsklasse einer Privatschule beschult. Im Klassenraum sitzt er in der ersten Reihe und benutzt als Hilfsmittel eine Brille, eine Fernrohrlupenbrille, einen Lesestein sowie im häuslichen Umfeld einen Lese-PC.
Am 20. August 2013 beantragte der Kläger erstmals die Feststellung des Grades der Behinderung sowie die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen H. Der Beklagte zog den Arztbrief des Universitätsklinikums X.... – Klinik und Poliklinik für Augenheilkunde – vom 28. September 2013 bei. Dieser dokumentierte für das rechte Auge einen Fernvisus von 0,5 und für das linke Auge von 0,18 sowie einen Nahvisus für das rechte Auge von 0,32 und für das linke Auge 0,125, jeweils mit Korrektur. Ferner lag dem Beklagten das Förderpädagogische Gutachten vom 30. April 2014 vor, welches eine Beschulung des Klägers in einer Schule für Blinde und Sehbehinderte befürwortete. Mit Bescheid vom 29. Januar 2014 stellte der Beklagte einen GdB von 20 fest und wies als Funktionseinschränkung beidseitige Sehminderung aus. Die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen H lehnte der Beklagte ab.
Den Widerspruch des Klägers wies der Kommunale Sozialverband Sachsen mit Widerspruchsbescheid vom 3. Dezember 2014 zurück.
Hiergegen hat sich die am 30. Dezember .2014 vor dem Sozialgericht Dresden erhobene Klage gerichtet. Der Kläger hat die Feststellung eines höheren GdB als 20 verfolgt. Er leide an einem deutlichen Verlust der Sehschärfe. Der Nahvisus des rechten Auges betrage 0,32 und der des linken Auges 0,125. Die GdB-Feststellung bewerte ausschließlich den Fernvisus, was nicht zulässig sei, wenn wie hier die Sehschärfe in Ferne und Nähe auseinanderfielen. Da der GdB für den Fernvisus 20 betrage, sei die Feststellung eines GdB von 20 bei Außerachtlassung des Nahvisus nicht korrekt. Für den Nahvisus ergäbe sich ein GdB von 40 und somit das Doppelte dessen, was der Beklagte anerkannt habe. Im Rahmen des Schulunterrichtes sei bei den Sehbehinderten mit spezifisch gestalteten Arbeitsmaterialien der Arbeitsabstand unter Nutzung einer kippbaren Arbeitsplatte auf 10 bis 15 cm verringert. Bei Detailarbeiten oder starker Anstrengung werde der Abstand bis auf 6 bis 8 cm verkleinert. Der Tafelabstand betrage maximal zwei Meter. Der Kläger benutze aufgrund seiner erheblich eingeschränkten Nahsehschärfe einen Lesestein und ein Monokel. Er könne Schrift erst ab Schriftgröße 22 im Schrifttyp Arial und bei entsprechendem Kontrast mit Brille erkennen. Arbeitsmaterialien seien für den Kläger in der Regel besonders groß zu kopieren. Für die Schulbücher nutze der Kläger zu Hause einen Lese-PC. Diesen erheblichen Funktionseinschränkungen trage der festgestellte GdB von 20 nicht ausreichend Rechnung.
Der Beklagte hat eingewandt, dass gemäß Teil B VersMedV die Sehschärfe grundsätzlich entsprechend den Empfehlungen der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG) nach DIN 58220 zu bestimmen sei. Abweichungen hiervon seien nur in Ausnahmefällen zulässig, beispielsweise bei Bettlägerigkeit oder Kleinkindern. Bei der Sehschärfenbestimmung nach DIN 58220 handele es sich nicht um die Nahsehschärfe. Die Nahsehschärfe prüfe das Sehvermögen bei einem Objektabstand unterhalb von 40 cm. Gemäß DIN 58220 Teil 3 betrage die Entfernung für die Sehschärfeprüfung mit hohem Visus mindestens 4 m. Erst bei einer Sehschärfe von unter 0,2 dürfe die Prüfentfernung deutlich verringert werden. Ein höherer GdB als 20 sei daher nicht indiziert.
Das Sozialgericht hat Befunde des Universitätsklinikums X...., Klinik und Poliklinik für Augenheilkunde vom 25. April 2012, 15. Mai 2012, 26. September 2013, 12. August 2014, 10. Februar 2015, 6. August 2015, 17. Februar 2016, 12. September 2016 und 15. Februar 2017 beigezogen. Ferner hat das Sozialgericht Dr. D...., Fachärztin für Augenheilkunde, zur medizinischen Sachverständigen bestellt. Die Sachverständige hat in dem am 18. Dezember 2018 erstatteten Gutachten ausgewiesen, dass der Kläger an einer Visusminderung infolge Makuladystrophie bei Morbus Best leide. Dies sei eine zentrale Netzhauterkrankung, bei der folgende Stadien unterschieden würden: vitellifome Läsion – Pseudohypopyon – vitteliruptives Stadium – atropische Läsion – chorioidale Neovaskulatirationen. Bei dem Kläger liege derzeit das vitelliruptive Stadium im Übergang zur Atrophie vor. Typisch für diese Erkrankung der Makula sei eine deutliche Diskrepanz zwischen Nah- und Fernsehschärfe. Die Feststellung des GdB erfolge gemäß den versorgungsmedizinischen Grundsätzen. Unter „4. Sehorgan" sei ausgeführt, dass für die Beurteilung in erster Linie die korrigierte Sehschärfe maßgebend sei. Daneben seien Ausfälle der Gesichtsfelder und des Blickfeldes zu berücksichtigen. Die Sehschärfe sei hiernach nach DIN 58220 zu bestimmen. Die Grundlage für die GdB-Beurteilung bei Herabsetzung der Sehschärfe bilde die MdE-Tabelle der DOG. Bei den darin aufgeführten Visusangaben handele es sich um Fernvisusangaben. Weitere Minderungen des Sehvermögens seien dabei eingeschlossen (z. B. Blendungsbeschwerden und Gesichtsfeldausfälle). Die Tabelle dürfe nicht zur Interpretation von Nahvisusangaben herangezogen werden. Im Rahmen der seit 2011 erfassten Sehschärfenwerte seien jeweils bessere Fern- als Nahwerte sowie bessere Werte des rechten gegenüber dem linken Auge feststellbar gewesen. Die Sehschärfenwerte seien als stabil zu werten. Die augenärztlichen Untersuchungen hätten seit 2012 folgende Ergebnisse des Fernvisus für das rechte/ linke Auge ergeben:
Datum Fernvisus L/ R GdB
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24. September 2013 0,5/0,18 25
12. August 2014 0,5/0,16 25
10. Februar 2015 0,5/0,18 25
6. August 2015 0,8/0,2 15
17. Februar 2016 0,8/0,2 15
15. Februar 2017 0,7/0,2 20
15. November 2018 0,32/0,63 10
Die Sachverständige hat im Rahmen ihrer Untersuchung einen Visus rechts von 0,63 und links von 0,32 festgestellt und bei beidäugiger Bewertung von 0,63. Einzel-GdB-Werte seien nicht zielführend; der deutlich verminderte Nahvisus sei nach ihrer Einschätzung nicht zu würdigen, da die GdB-Bewertung auf Fernvisusangaben fuße. Am Tag der gutachterlichen Untersuchung am 15.11.2018 betrage der GdB für den relevanten Fernvisus 10, wobei sie vorschlage, den GdB bei 20 zu belassen. Bei der Gesichtsfelduntersuchung seien keine großen Zentralskotome ermittelt worden. Die krankhafte Blendempfindlichkeit erhöhe den GdB nicht.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 10. Juni 2019 abgewiesen. Der Beklagte habe zutreffend einen GdB von 20 festgestellt. Das Sozialgericht ist dabei dem Gutachten der Dr. D.... gefolgt. Demnach ergäben die beim Kläger von 2012 bis 2017 festgestellten Visus-Werte bei Berücksichtigung des Gesamtverlaufes einen GdB von 20.
Gemäß Teil B Nr. 4. AnlVersMedV sei für die Beurteilung des Sehvermögens in erster Linie die korrigierte Sehschärfe maßgebend, die grundsätzlich entsprechend den Empfehlungen der DOG nach DIN 58220 zu bestimmen sei. Ferner hat das Sozialgericht ausgeführt, dass für die GdB-Bewertung der Fernvisus entsprechend den Vorgaben der DOG maßgeblich sei.
Gegen den der Prozessbevollmächtigten am 17. Juni 2019 zugestellten Gerichtsbescheid richtet sich die am 5. Juli 2019 vor dem Sächsischen Landessozialgericht eingelegte Berufung mit der der Kläger sein Begehren auf Feststellung eines höheren GdB weiterverfolgt. Er meint, dass es nicht zulässig sei, lediglich auf den Fernvisus abzustellen, da der Nah- und Fernvisus erheblich differierten und die hauptsächliche Einschränkung im Nahsehen bestehe. Seine Teilhabeeinschränkung sei gravierend. So sei das Vorlesen von Texten nicht möglich. Er sitze in der Schule in der ersten Reihe und es dürfe nur weiße Kreide benutzt werden, um den Kontrast der Schrift auf der Tafel zu erhöhen. Seine Schulbildung in einer Integrationsklasse einer Privatschule sei lediglich deshalb möglich, da die Lehrer ihm im Vergleich zu nichtbehinderten Schülern erheblich mehr Zeit widmeten.
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dresden vom 10. Juni 2019 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 29. Januar 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Dezember 2014 zu verurteilen, einen GdB von mehr als 20 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er nimmt Bezug auf die seiner Ansicht nach zutreffende erstinstanzliche Entscheidung.
Die mündliche Verhandlung am 25. Februar 2020 wurde vertagt, um zu prüfen, ob vorliegend aufgrund der erheblichen Diskrepanz zwischen Nah-und Fernsehschärfe der GdB entsprechend den Empfehlungen der DOG vom 9. März 2009 nach 1a.4.5. als sogenannter "Zwischenwert" im Sinne der dort genannten logarithmischen Abstufung festzustellen ist.
Der Beklagte hat eine einvernehmliche Lösung nicht angeboten, da der Kläger weder ein Kleinkind noch bettlägerig sei. Nur für diese beiden genannten Gruppen, zu denen der Kläger nicht zähle, trete das Nahsehvermögen im Alltag gegenüber dem Fernsehvermögen in den Vordergrund. Maßgeblich für die GdB-Bildung sei allein der Fernvisus.
Der Senat hat Dr. D...., Fachärztin für Augenheilkunde, erneut mit der Erstellung eines Sachverständigengutachtens beauftragt. Im Gutachten vom 3. Mai 2021 hat die Sachverständige ausgeführt, dass der Kläger seit der Anpassung einer neuen Brille besser sehe und keine Kopfschmerzen mehr habe. Das Sehen in der Ferne sei seit 2018 minimal schlechter geworden; das Sehvermögen in der Nähe deutlich besser. Dies lasse sich auch objektiv belegen, da die Flüssigkeitsansammlungen im Pigmentepithel der Makula am
15. April 2021 deutlich geringer als am 15. November 2018 waren. Deshalb sei der Nahvisus besser.
Die Zwischenwerte bestimmt die Sachverständige wie folgt:
Datum Zwischenwert R/L GdB
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24. September 2013 0,4 / 0,1 30
12. August 2014 0,4 / 0,1 30
10. Februar 2015 0,4 / 0,1 30
6. August 2015 0,5 / 0,16 25
17. Februar2016 0,5 / 0,16 25
15. Februar 2017 0,5 / 0,2 20
15. November 2018 0,25/0,2 40
15. April 2021 0,63/0,32 10
In Ermangelung der beidäugigen Gesamtsehschärfe sei zwischen 2013 und 2017 jeweils aus den Fern- und Nahvisusangaben des rechten und linken Auges der Zwischenwert gebildet worden. 2018 und 2021 seien die Zwischenwerte aus der beidäugigen Gesamtsehschärfe und der Sehschärfe des schlechteren Auges in Ferne und Nähe ermittelt worden.
Auf die Einwendungen des Klägers hat die Sachverständige sich am 24. Juni 2021 ergänzend geäußert und ausgeführt, dass die vom Kläger angeführten täglichen Schwankungen des Sehens nicht so umfangreich seien, dass sich an der gutachterlichen Einschätzung etwas ändere.
Der Beklagte hat eingewandt, dass die Zwischenwerte nicht zutreffend erhoben worden seien, da für den Zeitraum bis 2017 nicht die beidäugige Sehschärfe ermittelt worden sei. Damit müsse bereits die Beweiskraft der Visuswerte von 2023 bis 2017 angezweifelt werden.
Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf die Gerichtsakte aus beiden Rechtszügen und auf die Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Die frist-und formgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 151, 153 SGG) und hat in der Sache teilweise Erfolg. Nach Überprüfung durch das Berufungsgericht erweisen sich der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts vom 10. Juni 2019 sowie der Bescheid des Beklagten vom 29. Januar 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Dezember 2014 als teilweise rechtfehlerhaft. Der Kläger hat einen Anspruch auf Feststellung eines GdB von 30 vom 20. August 2013 bis 14. Februar 2017 sowie eines GdB von 40 vom 15. November 2018 bis 14. April 2021. In den Zeiträumen 15. Februar 2017 bis 14. November 2018 beträgt der GdB 20 und ab 15. April 2021 ist lediglich noch ein GdB von 10 gerechtfertigt; für diese Zeiträume ist die Berufung zurückzuweisen.
Rechtsgrundlage ist entgegen der Auffassung des Sozialgerichts nicht § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X), da es vorliegend nicht um die Bewertung von Veränderungen eines Gesundheitszustandes geht, sondern um eine Neufeststellung des GdB und der Funktionseinschränkungen. Hierfür ist Rechtsgrundlage § 152 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) i. d. F. ab 1. Januar 2018 (bis 31. Dezember 2017: § 69 Abs. 1 Satz 1). Danach stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung fest. Diese Vorschrift knüpft materiell-rechtlich an den in § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX bestimmten Begriff der Behinderung an. Danach sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Nach § 152 Abs. 1 Satz 4 SGB IX (§ 69 Abs. 1 Satz 4 SGB IX a. F.) werden die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft als Grad der Behinderung nach Zehnergraden abgestuft dargestellt. Bei dem Vorliegen mehrerer Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft wird gemäß § 152 Abs. 3 Satz 1 SGB IX (§ 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX a. F) der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt.
Die Bemessung des GdB ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts in drei Schritten vorzunehmen und grundsätzlich Aufgabe der Verwaltung bzw. tatrichterliche Aufgabe (BSG, Beschluss vom 9. Dezember 2010 - B 9 SB 35/10 B – juris Rn. 5 m. w. N). In einem ersten Schritt werden ausschließlich mit medizinischem Fachwissen die einzelnen und nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen festgestellt. Da es für die Bemessung des Gesamt-GdB nach § 152 SGB IX (§ 69 SGB IX a. F.) maßgebend auf die Auswirkungen der Gesundheitsstörungen auf die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft ankommt, hat in einem zweiten und dritten Schritt die Verwaltung bzw. das Tatsachengericht über die medizinisch zu beurteilenden Maßstäbe hinaus weitere Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen. Da für die Feststellung der Auswirkungen der Behinderung gemäß § 152 Abs. 1 Satz 4 SGB IX (§ 69 Abs. 1 Satz 4 SGB IX a. F.) die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 Bundesversorgungsgesetz (BVG) heranzuziehen sind, ist die aufgrund von § 30 Abs. 16 BVG erlassene Rechtsverordnung entsprechend anzuwenden. Die Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) regelt unter anderem versorgungsmedizinisch Grundsätze für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen. Maßgeblich für die Feststellung des GdB ist die auf der Grundlage des aktuellen Stands der medizinischen Wissenschaft erstellte Anlage zu § 2 VersMedV "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VmG). Diese versorgungsmedizinischen Grundsätze sind sowohl im Verwaltungs- als auch im Gerichtsverfahren zu beachten (BSG, Beschluss vom 9. Dezember 2010 - B 9 SB 35/10 B – juris Rn. 5 m. w. N.). Hiernach stellen die Verwaltung als auch das Tatsachengericht zunächst die Einzel-GdB-Werte fest. Sodann ist nach Maßgabe von Teil A 2 e) AnlVersMedV ein Teil-GdB für das bestimmte Funktionssystem zu bilden, dem die Einzel-GdB-Werte zuzuordnen sind. Die AnlVersMedV unterscheidet in Teil A 3 1. Die Funktionssysteme Gehirn/ Psyche, Augen, Ohren, Atmung, Herz/ Kreislauf, Verdauung, Harnorgane, Geschlechtsapparat, Haut, Blut einschl. blutbildendes Gewebe und Immunsystem, innere Sekretion/ Stoffwechsel, Arme, Beine und Rumpf.
Ausgehend von diesen Grundsätzen erfolgt die Bestimmung der Sehschärfe nach Teil B Nr. 4. Absatz 2 Sätze 1 und 2 AnlVersMedV grundsätzlich entsprechend den Empfehlungen der Deutschen Opthalmologischen Gesellschaft (DOG) nach DIN 58220. Gemäß Teil B Nr. 4. Absatz 4 AnlVersMedV bildet die Grundlage für die GdS/ GdB - Beurteilung bei Herabsetzung der Sehschärfe die MdE-Tabelle der DOG, die unter Teil B Nr. 4.3. AnlVersMedV abgedruckt ist. Der Passus, dass die Bestimmung der Sehschärfe entsprechend den Empfehlungen der DOG nach DIN 58220 erfolgt, wurde durch die Dritte VO zur Änderung der Versorgungsmedizin-Verordnung (3. VersMedVÄndV) vom 17.12.2010 (BGBl. I, S. 2124) eingefügt.
Nach den Empfehlungen der DOG zur Qualitätssicherung bei sinnesphysiologischen Untersuchungen und Geräten vom 9. März 2009 Punkt 1.4.1. erfolgt die gutachterliche Sehschärfenbestimmung grundsätzlich mittels Fernvisus (DIN 58220, Teil 3); auch die entsprechenden GdS/ GdB - Tabellenwerte stellen auf den Fernvisus ab. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass dem Sehen in der Ferne im alltäglichen Geschehen grundsätzlich eine größere Bedeutung als dem Nahsehen zukommt sowie bei der Mehrzahl der Betroffenen Fernvisus und Nahvisus übereinstimmen und damit über den Fernvisus regelmäßig die Teilhabeeinschränkungen des Betroffenen vollständig erfasst werden.
Problematisch wird es – wie im zu entscheidenden Fall – dann, wenn der Fernvisus und der Nahvisus stark differieren. Die Sachverständige führt nachvollziehbar aus, dass dies für Erkrankungen der Makula, wie sie beim Kläger vorliegt, typisch ist. So ist nach Einschätzung der Sachverständigen der GdB für den Fernvisus mit 10 und für den Nahvisus mit 70 zu bewerten. Hieraus wird deutlich, dass der grundsätzlich auf den Fernvisus abstellende GdB nicht die Teilhabebeeinträchtigungen abbildet, die der Kläger aufgrund des extrem schlechten Nahvisus hat. Für den Senat stellt sich aufgrund dessen die Frage, wie vorliegend mit dieser erheblichen Differenz im Rahmen der GdB - Festsetzung umzugehen ist, um den Teilhabebeeinträchtigungen des Klägers angemessen Rechnung zu tragen.
Nach den Empfehlungen der DOG vom 9. März 2009 unter Punkt 1a 4.5. ist beim Auseinanderfallen von Fern- und Nahvisus bei hoher Myopie, was für den Kläger zutreffend ist, bei parazentralen Gesichtsfelddefekten sowie Schielamblyopien ausgeführt: "Ergeben sich Abweichungen zwischen Fern- und Nahvisus, so ist die MdE für beide Sehschärfenwerte anhand der Tabelle zu ermitteln und für die Beurteilung ein Zwischenwert zu wählen, der bevorzugt den Nahvisus berücksichtigt." Der entsprechende Weg für die Bildung dieses Zwischenwertes ist gleichermaßen aufgezeigt. Hier wird der Mittelwert über die Visus - Werte gebildet und erst der Zwischenwert als Ergebnis nach der DOG -Tabelle gemäß Teil B Nr. 4.3. AnlVersMed V einem GdS-, GdB- bzw. einem MdE-Wert zugeordnet.
Hieraus wird deutlich, dass nicht uneingeschränkt die Nahvisuswerte zugrunde zu legen sind und hiermit nach der Tabelle unter Teil B Nr. 4.3. AnlVersMedV der GdS, GdB bzw. die MdE festzusetzen ist. Dies führt, worauf die Sachverständige zu Recht hingewiesen hat, zu inkonsistenten Ergebnissen. Die Tabellenwerte stellen, wie oben bereits ausgeführt, ausschließlich auf Fernvisuswerte ab.
Für eine gerechte teilhabeorientierte Bewertung der Störungen des Sehvermögens des Klägers ist es bezogen für die vorliegende Fallkonstellation erforderlich, nach o. g. Regelung Zwischenwerte zu bilden und anhand derer den GdB festzusetzen. Nur so werden die Teilhabeeinschränkungen des Klägers vollständig abgebildet, was Sinn und Zweck der Bildung eines GdB ist. Die Anwendung der genannten Regelung ist auch nicht etwa dadurch ausgeschlossen, dass sie lediglich auf die Bestimmung der MdE abstellt. Teil B Nr. 4. AnlVersMedV verweist ausdrücklich auf diese Empfehlungen der DOG, womit die Anwendbarkeit für die GdS/ GdB– Bildung eröffnet ist. Andererseits nimmt die Regelung ausdrücklich auf die Tabelle Bezug, wie sie unter Teil B Nr. 4.3. AnlVersMedV Eingang gefunden hat. Ferner ist in Satz 2 Teil B Nr. 4. Absatz 2 AnlVersMedV dargestellt, wie bei Abweichungen zu verfahren ist. Danach ist es nur in Ausnahmefällen zulässig, den GdS/ GdB abweichend vom Fernvisus zu bestimmen; verwiesen wird wieder auf die Empfehlungen der DOG und hiernach kommt – wie ausgeführt – die Bildung von Zwischenwerten in Betracht. Beispielhaft In Teil B Nr. 4. Absatz 2 Satz 2 AnlVersMedV werden Personenkreise von Kleinkindern und Bettlägerige genannt. Diese sind aber – entgegen der Auffassung des Beklagten – lediglich beispielhaft aufgeführt und bilden keine abschließende Aufzählung. So ist es nach Überzeugung des Senats zulässig, auch für weitere Personengruppen abweichend vom Fernvisus den GdS/ GdB nach Zwischenwerten zu bilden, wenn die Teilhabeeinschränkung im Alltag im Nahsehen gegenüber dem Fernsehen eine entscheidende Rolle einnimmt. So verhält es sich vorliegend. Der Kläger ist Schüler, der sich mehrere Unterrichtsstunden hintereinander auf Schriften und Bücher konzentrieren, schriftliche Aufgaben lösen und am Nachmittag noch Hausaufgaben erledigen muss. Die Mehrheit des Tages – vom Nachtschlaf abgesehen – ist der Kläger mit Nahsehen beschäftigt. Die mit seinem erheblich eingeschränkten Nahsehvermögen einhergehenden Teilhabeeinschränkungen spiegeln sich in seinem diesbezüglichen täglichen Hilfebedarf wider. Er hat zunächst die Blinden- und Sehbehindertenschule in Y.... besucht und absolviert nunmehr, um die mit der erheblichen Fahrzeit verbundene psychische Belastung zu vermeiden, die Integrationsklasse einer Privatschule am Wohnort. Er benötigt mehr Zeit für schriftliche Arbeiten, er sitzt in der ersten Reihe und es muss ausschließlich mit weißer Kreide auf der Tafel geschrieben werden, um einen starken Kontrast der Schrift zum Tafeluntergrund zu gewährleisten. Insofern bilden seine Teilhabeeinschränkungen auch die der beispielhaft aufgeführten Personengruppen ab. Zu vergleichen sind dabei ausschließlich die Teilhabeeinschränkungen der Personengruppen und nicht die gesundheitlichen Funktionseinschränkungen.
Auf die Bitte des Senats hat die Sachverständige Dr. D.... in ihrem Gutachten vom
15. April 2021 Zwischenwerte gebildet und unter Berücksichtigung von Teil B 4.3. AnlVersMedV die entsprechenden GdB-Werte zugeordnet:
Datum Zwischenwert R/L GdB
_____________________________________________________________________
24. September 2013 0,4 / 0,1 30
12. August 2014 0,4 / 0,1 30
10. Februar 2015 0,4 / 0,1 30
6. August 2015 0,5 / 0,16 25
17. Februar 2016 0,5 / 0,16 25
15. Februar 2017 0,5 / 0,2 20
15. November 2018 0,25/0,2 40
15. April 2021 0,63/0,32 10
Nach Prüfung durch den Senat erweisen sich diese GdB - Werte als korrekt, so dass diese zugrunde zu legen sind. Der Argumentation des Beklagten unter Hinweis auf das ungeprüfte beidäugige Sehvermögen des Klägers, dass der Beweiswert der erhobenen Visuswerte generell anzuzweifeln sei, vermag sich der Senat nicht anzuschließen. Bereits unter Teil B Nr. 4.3 Anmerkung 3. AnlVersMedV wird darauf hingewiesen, dass Augenärzte die Sehschärfe in der Regel nicht beidäugig bestimmen und eine augenärztliche Begutachtung empfohlen wird. Dem hat der Senat entsprochen. Der Beklagte allerdings hat eine solche Begutachtung nicht für notwendig erachtet und den GdB stets nach den Fernvisuswerten festgestellt. Auch hat er den Kläger im Rahmen seiner Fürsorgepflicht zu keiner Zeit darauf hingewiesen, zukünftig die Sehschärfe auch beidäugig bestimmen zu lassen. Angesichts dieser Umstände vermag der Senat das nachträgliche Infragestellen der Fernvisuswerte nicht nachzuvollziehen. Im Hinblick auf die beiden ungeraden GdB - Werte von 25 sind diese gemäß Teil B Nr. 4.3 Anmerkungen 9. AnlVersMedV auf 30 aufzurunden, da bei dem Kläger ausschließlich die Behinderung der Augen vorliegt.
In der Gesamtbetrachtung ergibt sich für den Zeitraum ab 20. August 2013 bis 14. Februar 2017 ein GdB von 30, vom 15. Februar 2017 bis 14. November 2018 ein GdB von 20, vom 15. November 2018 bis 14. April 2021 ein GdB von 40 und ab 15. April 2021 ein GdB von 10. Damit erweist sich lediglich die Entscheidung des Beklagten für den Zeitraum vom 15. Februar 2017 bis 14. November 2018 sowie ab 15. April 2021 als rechtsfehlerfrei.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) liegen nicht vor.