Normen: § 191 Halbs 1 SGG, § 111 Abs 1 S 1 SGG, § 5 JVEG, § 19 Abs 1 S 1 JVEG, § 19 Abs 2 JVEG, § 22 JVEG
Sozialgerichtliches Verfahren, Entschädigung für Verdienstausfall bei selbstständiger Tätigkeit wegen der Teilnahme an einem Gerichtstermin, Anforderung an den Nachweis des Verdienstausfalls, gleichzeitiger SGB II Bezug, Entschädigung für Zeitversäumnis
1. Zu den Anforderungen an die Ermittlung des Verdienstausfalls bei einem Selbständigen, wenn dieser ergänzend Leistungen nach dem SGB II bezieht.
Die Entschädigung des Erinnerungsführers anlässlich der Teilnahme am Erörterungstermin am 21. Juli 2022 wird auf 70,90 Euro festgesetzt.
Eine Beschwerde an das Bundessozialgericht findet nicht statt.
Gründe
Die Entschädigung anlässlich der Teilnahme am Erörterungstermin am 21. Juli 2022 ist auf 70,90 Euro festzusetzen.
Nach § 191 Halbs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) werden einem Beteiligten, dessen persönliches Erscheinen angeordnet worden ist, auf Antrag bare Auslagen und Zeitverlust wie einem Zeugen vergütet. Zeugen erhalten nach § 19 Abs. 1 Satz 1 JVEG als Entschädigung Fahrtkostenersatz (§ 5 JVEG), Entschädigung für Aufwand (§ 6 JVEG), Entschädigung für sonstige Aufwendungen (§ 7 JVEG), Entschädigung für Zeitversäumnis (§ 20 JVEG), Entschädigung für Nachteile bei der Haushaltsführung (§ 21 JVEG) sowie Entschädigung für Verdienstausfall (§ 22 JVEG). Soweit die Entschädigung nach Stunden zu bemessen ist, wird sie nach § 19 Abs. 2 JVEG für die gesamte Zeit der Heranziehung einschließlich notwendiger Reise- und Wartezeiten, jedoch nicht mehr als zehn Stunden je Tag gewährt (Satz 1); die letzte bereits begonnene Stunde wird voll gerechnet (Satz 2).
Die gerichtliche Festsetzung gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 JVEG stellt keine Überprüfung der von der Kostenbeamtin vorgenommenen Berechnung dar, sondern ist eine davon unabhängige erstmalige Festsetzung. Bei der Entscheidung sind alle für die Bemessung der Vergütung maßgeblichen Umstände zu überprüfen, unabhängig davon, ob sie angegriffen worden sind. Bei der Festsetzung ist das Gericht weder an die Höhe der Einzelansätze noch an den Stundenansatz oder an die Gesamthöhe der Vergütung in der Festsetzung durch den Urkundsbeamten der Geschäftsstelle oder den Antrag der Beteiligten gebunden; es kann nur nicht mehr festsetzen, als beantragt ist (vgl. Senatsbeschluss vom 26. September 2018 – L 1 JVEG 59/18, Rn. 1 m.w.N., zitiert nach juris). Das Verbot der „reformatio in peius“ gilt nicht. Der Senat hat eine vollumfassende Prüfung des Entschädigungsanspruchs vorzunehmen. Die vom Gericht festgesetzte Entschädigung kann daher auch niedriger ausfallen, als sie zuvor von der Kostenbeamtin festgesetzt worden ist.
Danach errechnet sich die Entschädigung wie folgt:
Fahrtkosten sind in Höhe von 48,30 Euro zu erstatten (138 km x 0,35 Euro).
Hinzu kommen Parkauslagen in Höhe von 2,60 Euro.
Eine Entschädigung für Verdienstausfall nach § 22 JVEG ist nicht festzusetzen.
Der Senat konnte sich insoweit nicht die erforderliche Überzeugung verschaffen, dass der Erinnerungsführer durch die Wahrnehmung des Erörterungstermins am 21. Juli 2022 überhaupt einen Verdienstausfall erlitten hat. Zwar dürfen nach der Rechtsprechung bei der Überzeugungsbildung, ob ein Verdienstausfall eingetreten ist, die Anforderungen an die Prüfpflicht der Kostenbeamten und Kostenrichter nicht überspannt werden (vgl. Senatsbeschluss vom 25. Mai 2020 – L 1 JVEG 73/20 –, juris). Deshalb reicht es aus, dass zur Gewissheit des Senats feststeht, dass überhaupt ein Verdienstausfall entstanden ist. Dass die fehlende Möglichkeit bei Selbständigen die konkrete Höhe des entstandenen Verdienstausfalls zu beziffern, einer Entschädigung nicht entgegensteht, ergibt sich bereits aus der Konzeption des Gesetzes. Denn das JVEG eröffnet bezüglich des Verdienstausfalls keinen echten Schadensersatz, sondern sieht schon nach dem Wortlaut des § 22 JVEG nur eine Entschädigung vor. Dass kein echter Schadensersatz bezweckt wird, ergibt sich auch aus der Begrenzung der Entschädigung auf maximal 25,00 Euro pro Stunde. Darüber hinaus kann es bei Selbstständigen durchaus naheliegend sein, dass diese auf Grund der Möglichkeit, sich ihre Arbeitszeit frei einzuteilen, durch die Wahrnehmung eines Gerichtstermins überhaupt keinen Verdienstausfall erleiden, weil sie die von ihnen zu erbringenden Arbeiten auch an einem anderen Tag erledigen können und deshalb zum Beispiel keinen Auftrag ablehnen müssen. Davon wird insbesondere dann auszugehen sein, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass ein selbständig Tätiger seine Tätigkeit nur mit deutlich zeitlich reduziertem Aufwand ausübt und auch keine termingebundenen Aufgaben ausführt (vgl. Senatsbeschluss vom 25. Mai 2020 – L 1 JVEG 73/20 –, juris). Daher hat sich der Senat im Rahmen der freien Beweiswürdigung eine Überzeugung davon zu verschaffen, ob der Selbständige durch die gerichtliche Heranziehung einen Verdienstausfall an sich erlitten hat. Die Erwerbsverhältnisse sind daher nach pflichtgemäßem Ermessen unter Berücksichtigung der Lebensverhältnisse und der regelmäßigen Erwerbstätigkeit des Berechtigten zu beurteilen. Allerdings können die geschilderten Beweisschwierigkeiten nicht dazu führen, dass der gesetzlich vorgegebene Vollbeweis nicht mehr zu beachten wäre, sondern nur dazu, dass im Rahmen der freien Beweiswürdigung sichergestellt werden muss, dass der gesetzlich vorgegebene Anspruch nicht faktisch bei Selbständigen leerläuft. Aufgrund dieser Beweisvorgaben muss daher auch ein selbständig tätiger Antragsteller mit für den Senat an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachweisen, dass ihm überhaupt ein Verdienstausfall entstanden ist. Voraussetzung hierfür ist, dass der selbständig tätige Antragsteller plausible Angaben macht. Welcher Art diese Angaben zu sein haben, hängt von Art und Umfang der ausgeübten Tätigkeit ab. Gibt es deutliche Hinweise darauf, dass der Selbständige nur vereinzelt einer beruflichen Tätigkeit nachgeht, sind weitere Angaben dazu erforderlich, dass exakt durch die Wahrnehmung des Gerichtstermins ein Verdienstausfall entstanden ist.
Ausgehend hiervon ergibt sich vorliegend kein Anspruch. Der Erinnerungsführer ist als selbständiger Elektromeister tätig und erzielt zwar grundsätzlich aus seinem Betrieb Einnahmen. Vorliegend bestehen jedoch erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass ein tatsächlicher Verdienstausfall aufgrund der Wahrnehmung des Gerichtstermins nicht eingetreten ist. Der Erinnerungsführer betreibt nur ein kleines Handwerksunternehmen. Die Einnahmen hieraus sind schon seit längerer Zeit ersichtlich nicht ausreichend, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Daher bezog bzw. bezieht der Erinnerungsführer ergänzend Leistungen nach dem SGB II. Aus dem Umfang der mitgeteilten Umsätze und insbesondere der für den Monat Juli 2022 vorgelegten Einnahmeüberschussrechnung mit Umsatzerlösen in Höhe von 741,93 Euro und dem gleichzeitigen SGB II-Bezug ergibt sich, dass der Erinnerungsführer nicht Tag für Tag mit Aufträgen ausgelastet sein kann. Unerheblich ist, dass nach den Angaben des Erinnerungsführers die endgültige Festsetzung der SGB II-Leistungen für den Monat Juli 2022 noch aussteht. Dies ändert nichts an den Umsatzerlösen, die bereits aufgrund ihrer geringen Höhe belegen, dass im Monat Juli 2022 eine Tätigkeit nur mit deutlich zeitlich reduziertem Aufwand ausgeübt worden ist. Des Weiteren verweist der Erinnerungsführer in seinem Schriftsatz vom 3. Mai 2023 darauf, dass er nach einem vorliegenden ärztlichen Gutachten gesundheitlich nicht in der Lage sei, 30 Stunden in der Woche auf Baustellen zu arbeiten. Es spricht daher viel dafür, dass er die von ihm zu erledigenden Aufträge terminlich so planen konnte, dass eine Kollision mit dem Erörterungstermin am 21. Juli 2022 vermieden wurde. Der Erinnerungsführer hat nichts dazu vorgetragen, dass er am 21. Juli 2022 konkret einen Auftrag, den er nur an diesem Vormittag hätte ausführen können, versäumt hat. Soweit der Erinnerungsführer darauf verweist, dass er sich als Elektriker ständig fortzubilden habe und auch den Auflagen der Bürokratie nachkommen müsse, handelt es sich hierbei ebenfalls um Arbeiten, die zeitlich variabel gestaltet werden können. Der Senat konnte sich daher nicht die erforderliche Überzeugung davon verschaffen, dass dem Erinnerungsführer am 21. Juli 2022 durch die Wahrnehmung des Erörterungstermins ein Verdienstausfall entstanden ist. Sein Hinweis darauf, dass er als selbständiger Handwerker mit einem anhand des vom Jobcenter berücksichtigten Betriebsgewinns errechneten Stundenlohn nicht wirtschaften könne, ist in diesem Zusammenhang ohne Belang. Denn bereits aus der Notwendigkeit des ergänzenden Bezugs von SGB II-Leistungen folgt, dass der Handwerksbetrieb des Erinnerungsführers nicht wirtschaftlich arbeitet. § 22 JVEG knüpft aber an den konkreten Verdienstausfall an. Ein solcher scheidet bereits wegen der Verschiebbarkeit der Abarbeitung von Aufträgen aus. Dasselbe gilt für den Hinweis auf den Mindestlohn. Als Selbständiger unterliegt der Erinnerungsführer nicht den Vorgaben des Mindestlohns, und § 22 JVEG sieht im Rahmen der Entschädigung des Verdienstausfalles nur eine Begrenzung nach oben, aber nicht nach unten vor.
Hingegen kann der Erinnerungsführer eine Entschädigung für Zeitversäumnis nach § 20 JVEG in Höhe von 20,00 Euro (5 x 4,00 Euro) beanspruchen. Zugunsten des Erinnerungsführers geht der Senat insoweit davon aus, dass ihm durch seine Heranziehung der erforderliche Nachteil entstanden ist. Zwar bezog der Erinnerungsführer Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II), was nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. Senatsbeschluss vom 15. April 2021 – L 1 JVEG 122/19 –, juris) grundsätzlich einen Anspruch auf Entschädigung für Zeitversäumnis nach § 20 JVEG ausschließt. Jedoch wendet der Senat diese Rechtsprechung dann nicht an, wenn neben dem Bezug von Leistungen nach dem SGB II noch eine selbständige Tätigkeit in einem nennenswerten Umfang ausgeübt wird. Insoweit ist die Feststellung, dass wie bei einem Empfänger von Leistungen nach dem SGB II vom Nichtvorhandensein eines Nachteils durch die Heranziehung nicht ausgegangen werden kann, nicht gerechtfertigt.
Anhaltspunkte für sonstige Entschädigungen nach dem JVEG sind nicht ersichtlich.
Soweit der Erinnerungsführer bereits eine höhere Entschädigung erstattet bekommen hat, als nun festgesetzt wurde, ist dieser Betrag von ihm zurückzuzahlen.
Das Verfahren ist gebührenfrei; Kosten werden nicht erstattet (§ 4 Abs. 8 JVEG).
Eine Beschwerde an das Bundessozialgericht findet nicht statt (§ 4 Abs. 4 Satz 3 JVEG).