Auf die Berufung der Klägerin werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 07.01.2022 sowie der Bescheid des Beklagten vom 19.01.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.12.2018 abgeändert und der Beklagte verpflichtet, die Voraussetzungen für das Merkzeichen „B“ seit dem 21.03.2017 festzustellen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt ein Drittel der außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt einen Grad der Behinderung (GdB) von 80 sowie die Zuerkennung der Merkzeichen „aG“ (außergewöhnliche Gehbehinderung) und „B“ (Notwendigkeit der ständigen Begleitung bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel).
Am 24.08.2017 beantragte die im Jahr 1967 geborene und in der Bundesrepublik Deutschland wohnhafte Klägerin erstmals die Feststellung eines GdB sowie von Merkzeichen rückwirkend zum 21.03.2017 und verwies im Wesentlichen auf die Folgen eines PKW-Unfalls vom 21.09.2016.
Der Beklagte zog Befundberichte sowie einen Rehaentlassungsbericht vom 28.09.2017 über eine stationäre Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation vom 27.10.2016 bis zum 24.11.2016 in der B1-Klinik in W1 mit den Diagnosen dorsale Stabilisierung von Brustwirbelkörper (BWK) 11 auf Lendenwirbelkörper (LWK) 1 am 30.09.2016 bei instabiler BWK-12-Fraktur sowie posttraumatische Belastungsstörung bei.
Der R1 bewertete in seiner Stellungnahme vom 07.11.2017 die geltend gemachten Funktionsbeeinträchtigungen wie folgt:
Psychovegetatives Erschöpfungssyndrom, posttraumatische Belastungsstörung, Kopfschmerzsyndrom (Teil-GdB 20),
Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Wirbelsäulenverformung, mit Verformung verheilter Wirbelbruch, Instabilität, chronisches Schmerzsyndrom (Teil-GdB 40),
Funktionsbehinderung beider oberer Sprunggelenke, Funktionsbehinderung beider unterer Sprunggelenke (Teil-GdB 20).
Den Gesamt-GdB schätzte er mit 50 seit dem 24.08.2017 ein. Darüber hinaus sei die Klägerin in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt (Merkzeichen G).
Der Beklagte stellte durch Bescheid vom 19.01.2018 einen GdB von 50 seit dem 21.03.2017 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Merkmale des Merkzeichens „G“ bei der Klägerin fest. Gleichzeitig lehnte er die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen von weiteren Merkzeichen ab.
Die damalige Prozessbevollmächtigte der Klägerin legte am 01.02.2018 Widerspruch ein und wendete ein, dass ein GdB von 80 sowie die Merkzeichen „aG“, „B“ und „H“ zu bewilligen seien.
Der Beklagte zog weitere Befundberichte, ein Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung B2 (MDK) vom 27.02.2018 mit der Feststellung, dass keine Pflegebedürftigkeit vorliege, ein Gutachten von G1 für die Agentur für Arbeit S1 mit den Diagnosen posttraumatische Belastungsstörung, Anpassungsstörung, Wirbelkörperkompressionsfraktur und Fersenbeinfraktur sowie einen Rehaentlassungsbericht vom 03.09.2018 der Fachklinik E1 über die stationäre Rehabiliationsmaßnahme vom 25.07.2018 bis zum 22.09.2018 bei. Die Prozessbevollmächtigte reichte zwei weitere Befundberichte ein.
B3 führte in einer versorgungsmedizinischen Stellungnahme vom 26.10.2018 aus, dass konkrete nachvollziehbare Befunde, die eine Höherbewertung bzw. die begehrten Nachteilsausgleiche rechtfertigten, nicht vorlägen.
Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 21.12.2018 unter Verweis auf die versorgungsärztlichen Stellungnahmen zurück.
Die damalige Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat am 11.01.2019 Klage beim Sozialgericht Heilbronn (SG) erhoben. Zur Begründung hat sie ausgeführt, dass die Beeinträchtigungen der Klägerin auf psychiatrischem Fachgebiet mit einem GdB von 20 nicht ausreichend bewertet worden seien. Die Klägerin leide unter einer posttraumatischen Belastungsstörung mit geringer Stresstoleranz, schneller Ermüdbarkeit, Schlafstörungen, einer permanenten Grübelneigung, Angstzuständen, Überforderungs- und Insuffizienzgefühlen sowie einem erheblichen sozialen Rückzug. Ein Teil-GdB von 20 werde dem Ausmaß der Beeinträchtigung nicht gerecht. Auch die orthopädischen Beeinträchtigungen der Wirbelsäule sowie im Bereich der Sprunggelenke führten weiterhin zu massiven Schmerzen und erheblichen Bewegungseinschränkungen, so dass ein GdB von wenigstens 80 vorliege. Auch seien die Voraussetzungen für die Feststellung der Merkzeichen „aG“ und „B“ erfüllt.
Das SG hat die behandelnden Ärzte der Klägerin schriftlich als sachverständige Zeugen befragt.
Der B4 hat in seiner Stellungnahme vom 16.05.2019 ausgeführt, dass die Klägerin nach einem Unfall am 21.09.2016 mit Frakturen des 12. Brustwirbels und der Rippen 9 bis 12 links und einer zunächst nicht erkannten Talusfraktur mit komplikativer Konsolidierung unter anhaltenden Schmerzen sowie der damit verbundenen sozialen und pekuniären Belastung leide. Die Beschwerden der Klägerin müssten als schwer eingestuft werden.
Die K1 hat in ihrer Stellungnahme vom 26.06.2019 ausgeführt, dass bei der Klägerin eine außergewöhnliche Gehbehinderung vorliege. Zwischenzeitlich liege rechts eine ausgeprägte Coxarthrose mit Außenrotationskontraktur von 10 Grad vor. Es bestünden Belastungs- und Ruheschmerzen. Die Funktionsbehinderung des rechten Sprunggelenks und des Fußes sei hinsichtlich des GdB zu niedrig eingeschätzt.
Darüber hinaus hat das Gericht einen Befundbericht vom 03.07.2018 der L1 beigezogen, in der diese eine Anpassungsstörung und eine posttraumatische Belastungsstörung als Diagnosen mitteilt und ausführt, dass die Klägerin große Schwierigkeiten habe, am normalen und sozialen Leben teilzunehmen. Aufgrund der schwierigen sozialen und finanziellen Situation hätten die Beschwerden in letzter Zeit wieder zugenommen.
Die damalige Prozessbevollmächtigte hat mit Schreiben vom 15.08.2019 sowie mit Schreiben vom 15.10.2019 weitere Befundberichte eingereicht.
Der Beklagte hat mit Schreiben vom 21.10.2019 eine versorgungsärztliche Stellungnahme von S2 vom 10.10.2019 vorgelegt, wonach der Funktionskomplex der Wirbelsäule ausreichend hoch bewertet sei. Auch eine Höherbewertung der Funktionsbehinderung der Sprunggelenke komme nicht in Betracht. Der Funktionskomplex der Beine sei um die Funktionsstörung der rechten Hüfte ohne Auswirkungen auf den einzelnen GdB zu ergänzen. Die beschriebenen seelischen Beschwerden der Klägerin ohne notwendige stationäre Behandlungen seien leichtgradig und hinreichend hoch mit einem GdB von 20 bewertet. Die Notwendigkeit einer ständigen Begleitung bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel sei weiterhin nicht gegeben. Auch liege keine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung mit einem GdB von 80 als anspruchsbegründende Voraussetzung für das Merkzeichen „aG“ vor.
Das SG hat bei T1 ein orthopädisches Gutachten nebst neurologisch-psychiatrischem Zusatzgutachten bei S3 eingeholt.
S3 hat bei der Klägerin in seinem Gutachten vom 23.07.2020 eine Angst und depressive Störung, gemischt bei körperlichen Unfallfolgen und psychosozialen Belastungen diagnostiziert. Hierdurch ergebe sich die Funktionsbeeinträchtigung einer seelischen Störung und einer seelischen Minderbelastbarkeit. Der Ausprägungsgrad der seelischen Störung werde als leicht eingestuft und mit einem GdB von 20 bewertet.
T1 hat in seinem Gutachten vom 30.07.2020 eine beginnende degenerative Verschleißerkrankung der Halswirbelsäule (HWS) ohne radikuläre Ausfallsymptomatik, eine dorsale Spondylodese TH11-L1 zur Therapie einer instabilen BWK 12-Fraktur im September 2016 mit verbleibender mittelgradiger Funktionseinschränkung ohne radikuläre Symptomatik sowie eine fortgeschrittene Verschleißerkrankung des rechten Hüftgelenkes ohne aktuelle Funktionsbeeinträchtigung diagnostiziert. Die Funktionseinschränkung der Wirbelsäule bei Teilversteifung sei mit einem Teil-GdB von 30 zu bewerten. Unter Berücksichtigung eines Teil-GdB von 20 für die depressive Störung sei der Gesamt-GdB mit 40 einzuschätzen. Bei der Klägerin liege keine außergewöhnliche Gehbehinderung vor. Die Voraussetzungen zur Anerkennung des Merkzeichens B seien nicht erfüllt.
Die Klägerin hat vertreten durch ihren jetzige Prozessbevollmächtigten mit Schreiben vom 22.02.2021 vorgetragen, dass die Gutachten nicht nachvollziehbar seien. Sie finde sich dort an keiner Stelle wieder. Ihre Gesundheitsbeeinträchtigungen und die darauf beruhenden Funktionseinschränkungen seien überhaupt nicht zur Kenntnis genommen und auch unzutreffend bewertet worden. Sie verlasse das Haus faktisch nicht mehr, und wenn, sei sie in jedem Einzelfall auf fremde Hilfe angewiesen. Sie könne ihr rechtes Bein faktisch nicht mehr kontrolliert einsetzen und leide unter starken Schmerzen beginnend über das Knie bis in die rechte Hüfte. Sie gehe nur noch wenige Meter zu Fuß.
Das SG hat die Klage nach vorheriger Anhörung der Beteiligten mit Gerichtsbescheid vom 07.01.2022 abgewiesen. Der Teil-GdB für das Funktionssystem Rumpf sei jedenfalls nicht höher als in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 26.10.2018 einzuschätzen, wo dieser bereits mit 40 bewertet worden sei. Bei der Untersuchung durch den Gutachter T1 am 20.07.2020 habe sich eine endgradige Funktionseinschränkung der HWS sowie eine mittelgradige Funktionseinschränkung der LWS ergeben. Insgesamt lasse sich also jedenfalls kein höherer GdB als 40, wie durch den Beklagten bereits in Ansatz gebracht, begründen. Bereits für einen GdB von 40 würden schwere funktionelle Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten vorausgesetzt. Das Funktionssystem Beine sei jedenfalls nicht höher als durch den Beklagten in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 26.10.2018 mit einem Teil-GdB von 20 zu bewerten. Bei der Untersuchung durch T1 hätten sich im Bereich der Hüftgelenke beidseits für Streckung/Beugung 0-0-130 Grad, Abspreizung/Anführen 30-0-30 Grad, Drehung auswärts/einwärts 40-0-40 Grad Normalmaße gezeigt. Auch die oberen Sprunggelenke hätten mit Bewegungsausmaßen für das Heben/Senken des Fußes beidseits mit 30-0-50 Grad Normalmaße aufgewiesen. Die unteren Sprunggelenke seien beidseits frei beweglich gewesen.
Die Beschwerden der Klägerin im Funktionssystem Gehirn einschließlich Psyche seien mit einem Teil-GdB von 20 einzuschätzen. Bei der Untersuchung durch S3 hätten sich keine Anhaltspunkte für eine durchgehende Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit in allen Lebensbereichen ergeben. So hätten zwar grundsätzlich psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlungen bei der L1 stattgefunden. Zum Untersuchungszeitpunkt durch den Gutachter am 20.07.2020 sei jedoch keine entsprechende Behandlung mehr erfolgt. Den Angaben der Klägerin gegenüber dem Sachverständigen zufolge sei diese zuletzt im Jahr 2019 bei der L1 in Behandlung gewesen. Stationäre Behandlungen wegen seelischer Beschwerden seien bisher nicht erfolgt. Gegen ihre seelischen Beschwerden nehme die Klägerin Johanniskraut. Ihr behandelnder Nervenarzt habe ihr Mirtazapin verschrieben, unter welchem sie allerdings nur geschlafen habe. Eine intensive, engmaschige psychiatrische bzw. schmerztherapeutische Behandlung, etwa in Form von deutlich zahlreicheren als vierteljährlichen fachärztlichen Besuchen und begleitenden therapeutischen Maßnahmen, wie für einen Teil-GdB von 30 erforderlich, liege nicht vor. Es sei von einem Teil-GdB von nicht mehr als 40 für das Funktionssysteme Rumpf auszugehen. Der Teil-GdB von 20 für das Funktionssystem Gehirn einschließlich Psyche erhöhe den Gesamt-GdB auf 50. Der Teil-GdB von 20 für das Funktionssystem Beine wirke sich nicht erhöhend aus. Die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens „aG“ lägen nicht vor. Der K1 habe in seiner Auskunft vom 26.06.2019 angegeben, dass die Gehstrecke der Klägerin auf wenige 100 Meter eingeschränkt sei. Die Voraussetzungen des Merkzeichens B lägen nicht vor
Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat gegen den ihm am 12.01.2022 zugestellten Gerichtsbescheid am 09.02.2022 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt. Er hat zur Berufungsbegründung vorgetragen, dass die Bewegungsmessungen von T1 nicht nachvollziehbar seien. Die Klägerin leide bis heute an den Folgen der instabilen BWK-12-Fraktur, die mit erheblichen Bewegungseinschränkungen und chronischen Schmerzen einhergingen. Die Klägerin habe bei der Begutachtung durch T1 zu keinem Zeitpunkt den Eindruck gewonnen, dass dieser ihr richtig zugehört oder sie einer ausreichenden Untersuchung zugeführt habe. Sie habe dem Gutachter eine schwerste Belastungsinsuffizienz bis zur Geh- und Stehunfähigkeit vortragen müssen. Hierfür sähen die versorgungsmedizinischen Grundsätze einen wesentlich höheren Teil-GdB als lediglich 30, wie der Gutachter meine, bzw. 40, wie vom Beklagten festgestellt, vor. Die Klägerin sei allenfalls noch in der Lage, kleinschrittig bis maximal 50 Meter zurückzulegen. Dies sei zum einen den beschriebenen Wirbelsäulenbeschwerden geschuldet, zum anderen der posttraumatischen Knochennekrose am Talus rechts. Das Treppenlaufen bereite der Klägerin massive Probleme. Tiefe Bewegungen seien überhaupt nicht möglich, also Schuhe Ausziehen oder Socken An- und Ausziehen sei alleine nicht möglich. In der Rückenlage beschreibe die Klägerin reißende Schmerzen in der Brustwirbelsäule (BWS). Die Beine seien regelmäßig geschwollen. Die gesamte dorsale Muskulatur stehe extrem unter Spannung aufgrund der Schäden, vor allem im Übergang von BWS zur LWS. Aufgrund ihrer stark eingeschränkten Gehfähigkeit sei die Klägerin, wenn sie einen Arzt aufsuchen müsse, auf die Verordnung einer Krankenbeförderung angewiesen. Die Klägerin sei in ihrer täglichen Lebensführung maximal eingeschränkt. Eine Haushaltshilfe sei nötig. Das Benutzen von Verkehrsmitteln sei nicht mehr möglich. Ihren Beruf habe sie als Folge dessen aufgeben müssen. All diese Beschwerden hätten zu einer massiven Einschränkung der Gestaltungs- und Erlebnisfähigkeit im Alltag der Klägerin geführt. Sie sei fortgesetzt arbeitsunfähig und verfüge über keinerlei Stresstoleranz mehr, sei antriebslos, leide unter Schlafstörungen und Grübelneigungen. Sie beschreibe Hilflosigkeit und das Gefühl des Ausgeliefertseins. S3 habe die Beschwerdeschilderung der Klägerin auf Seite 6 seines Gutachtens dokumentiert, auch die geklagten Kopfschmerzen und Schwindelsymptomatik, ihr jedoch keinerlei Beachtung im Rahmen seiner Begutachtung geschenkt. Vielmehr äußere er sich dahingehend, dass insgesamt schon ein sehr beschwerdebetontes Verhalten, auch mit Anhaltspunkten für eine Aggravation, zumindest bezogen auf das muskuloskelettale System, bestehe. Der Gutachter empfinde es also als beschwerdebetontes Verhalten, wenn sich ein schwer belasteter Mensch deutlich zu seinen Beschwerden positioniere. Wie die Klägerin bereits erstinstanzlich habe vortragen lassen, habe sie nach dem Lesen der Gutachten den Eindruck gehabt, dass ggf. ihre Akte verwechselt worden sei, so unzutreffend seien die Feststellungen der erstinstanzlich beauftragten Gutachter.
Die Klägerin beantragt, sachdienlich gefasst,
den Beklagten unter Aufhebung des Gerichtsbescheids des Sozialgerichts Heilbronn vom 07.01.2022 und unter Abänderung des Bescheids vom 19.01.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.12.2018 zu verurteilen und bei der Klägerin einen GdB von mindestens 80 sowie die gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen „aG“ und „B“ seit dem 21.03.2017 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte hat zur Berufungserwiderung auf die Ausführungen des SG im angefochtenen Gerichtsbescheid sowie die Feststellungen der Gutachter T1 und S3 verwiesen. Die Klägerin sei nicht auf eine ständige Begleitung angewiesen. Sie sei trotz ihrer Funktionsbeeinträchtigungen in Lage, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Sie lasse sich nicht mit dem im Teil D2 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VG) genannten Personenkreis vergleichen.
Bezüglich des Merkzeichen „aG“ liege bereits die Grundvoraussetzung nicht vor, da keine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung mit einem Teil-GdB von mindestens 80 bestehe. Eine Rollstuhlpflichtigkeit bestehe ebenfalls nicht, vielmehr gebe K1 an, dass die Gehfähigkeit der Klägerin einige 100 Meter betrage.
Der Prozessbevollmächtigte hat auf Anfrage der Berichterstatterin, bei welchen Fachärzten die Klägerin derzeit in Behandlung sei, mit Schreiben vom 29.06.2022 ausgeführt, dass die Klägerin aufgrund der dauerhaften Mobilitätsbeeinträchtigung bei Wahrnehmung von Arztterminen auf eine Krankenbeförderung angewiesen sei. Sie habe erheblichste Schwierigkeiten das Haus selbstständig zu verlassen, weswegen sie die Behandlungen auf das Notwendigste beschränke. Sie erhalte Krankengymnastik aufgrund einer Langfristverordnung des P1. Aufgrund ihrer eingeschränkten Beweglichkeit befinde sich die Klägerin fortlaufend in Behandlung bei ihrem Hausarzt B4, aber nicht weiter bei Fachärzten, bis auf die Heilmittelverordnung durch P1. Auch die psychologische Betreuung sei daran gescheitert, dass die Klägerin keine weiteren regelmäßigen Termine habe wahrnehmen können. Die Coronathematik habe ihr Übriges dazu beigetragen.
Der Senat hat B4 als sachverständigen Zeugen schriftlich vernommen. B4 hat mit Schreiben vom 11.07.2022 mitgeteilt, dass die Gehfähigkeit fluktuierend sei. Insgesamt sei keine wesentliche Besserung eingetreten. Die Klägerin könne sich auch ohne fremde Hilfe bewegen, allerdings mit Beschwerden. Das Ein-und Aussteigen in öffentliche Verkehrsmittel sei nicht ohne Hilfe möglich.
Der Senat hat S4 mit der Erstellung eines orthopädischen Gutachtens beauftragt. In seinem am 11.03.2023 erstellten Gutachten hat S4 folgende Diagnosen gestellt:
Ein degeneratives HWS-Syndrom mit Aufbraucherscheinung vor allem der kleinen Wirbelgelenke und konzentrischer Bewegungseinschränkung der gesamten HWS sowie belastungsabhängigen Schmerzen,
eine in Fehlstellung von 25 Grad Kyphose des thorakolumbalen Übergangs knöchern konsolidierte BWK-12-Fraktur mit noch einliegender Instrumentation ohne sicheren Nachweis einer Anschlussdekompensation respektive Instabilität,
ein hochgradiges, vor allem die kleinen Wirbelgelenke betreffendes degeneratives LWS-Syndrom mit massiver Fehlstatik der gesamten Rumpfwirbelsäule im Sinne eines Hohl-/Rundrückens mit kompensatorischer Hyperlordose durch die frakturbedingte pathologische Kyphose des thorakolumbalen Übergangs mit intermittierenden Nervenwurzelreizerscheinungen (zum Untersuchungszeitpunkt nicht nachweisbar),
eine nekrotisierende Coxarthrose der rechten Seite mit völligem Aufbrauch des Gelenkspaltes, schmerzhafter Bewegungseinschränkung und Auswirkungen auf die Gehstreckenlimitierung,
Funktionelle Einschränkungen beider oberen Sprunggelenke mit leichter Bewegungseinschränkung rechts und belastungsabhängigen Schmerzen nach schwerem Distorsionstrauma rechts mit Auswirkung auf die Gehfähigkeit.
Der Teil-GdB für das degenerative Wirbelsäulensyndrom in 2 Abschnitten mit massiver Fehlstatik durch die in Fehlstellung verheilte BWK-12-Fraktur mit belastungsabhängigen Schmerzen und intermittierenden Nervenwurzelreizerscheinungen werde auf 40 eingeschätzt, der Teil-GdB für die nekrotisierende Coxarthrose rechts auf 20 und der Teil-GdB für die Sprunggelenksbeschwerden bds., die auch durch die massive Adipositas akzentuiert würden, auf 20. Der Teil-GdB für die sich auf die Gehfähigkeit auswirkenden Funktionsstörungen werde auf orthopädischem Fachgebiet auf 50 eingeschätzt. Ein GdB von mindestens 80 als Grundvoraussetzung für die Feststellung einer erheblichen mobilitätsbedingten Teilhabe und Beeinträchtigung werde dabei nicht erreicht. Aus den Funktionsbeeinträchtigungen folge keine außergewöhnliche Gehbehinderung in dem Sinne, dass sich die Klägerin wegen der Schwere des Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe und nur mit großer Anstrengung praktisch von dem ersten Schritt an außerhalb eines Kraftfahrzeuges bewegen könne. Sie sei während der Gutachtenerstellung in der Lage gewesen, auch frei mehrere Schritte zu gehen und Wegstrecken von 30 bis 50 m zum Untersuchungsort und weiterhin in die V1-Klinik R2 zurückzulegen. Bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel sei eine Ein- und Ausstieghilfe notwendig, sei es durch herabklappbare Stufen oder ebenerdig, wie sie bei S- und U-Bahnen vorliege. Hilfen zum Ausgleich von Orientierungsstörungen seien nicht erforderlich.
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 SGG erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts sowie des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die beigezogene Akte des Beklagten sowie auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die gemäß §§ 143 und 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte, nach § 151 SGG form- und fristgerechte sowie auch im Übrigen zulässige Berufung der Klägerin, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 SGG entscheiden konnte, ist im tenorierten Umfang begründet. Der Bescheid vom 19.01.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 21.12.2018 ist insoweit rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, als der Beklagte die Feststellung des Merkzeichens „B“ abgelehnt hat. Insoweit war auch der Gerichtsbescheid des SG aufzuheben. Im Übrigen hat die Klägerin jedoch weder Anspruch auf Feststellung eines GdB von mindestens 80 noch auf die Zuerkennung des Merkzeichens „aG“. Die Berufung hat insoweit daher keinen Erfolg.
Gegenstand des Berufungsverfahrens ist eine Verpflichtung des Beklagten, den GdB der Klägerin in Höhe von mindestens 80 sowie die Merkzeichen „aG“ und „B“ seit dem 21.03.2017 festzustellen. Dieses Ziel verfolgt die Klägerin zulässigerweise mit der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage im Sinne des § 54 Abs. 1 Satz 1 SGG.
I. Rechtsgrundlage für die GdB-Feststellung ist § 2 Abs. 1 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 und ab dem 01.01.2018 geltenden Fassungen in Verbindung mit § 69 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung beziehungsweise in Verbindung mit § 152 Abs. 1 und 3 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung. Im Hinblick auf die den vorliegend zu beurteilenden Zeitraum betreffenden unterschiedlichen Gesetzesfassungen sind diese – da Übergangsregelungen fehlen – nach dem Grundsatz anzuwenden, dass die Entstehung und der Fortbestand des sozialrechtlichen Anspruchs auf Leistungen nach dem Recht zu beurteilen ist, welches zur Zeit der anspruchsbegründenden Ereignisse oder Umstände jeweils gegolten hat (BSG, Urteil vom 16.12.2014 – B 9 SB 2/13 R –; BSG, Urteil vom 04.09.2013 – B 10 EG 6/12 R –, beide in juris).
Nach § 2 Abs. 1 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Nach § 2 Abs. 1 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung sind Menschen mit Behinderungen Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate hindern können, wobei eine Beeinträchtigung in diesem Sinne vorliegt, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht.
Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX in den bis zum 14.01.2015 und 29.12.2016 geltenden Fassungen stellen die für die Durchführung des BVG zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen in einem besonderen Verfahren das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung beziehungsweise nach § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung gilt ergänzend, dass der GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung festgestellt wird. Als GdB werden dabei nach § 69 Abs. 1 Satz 4 und 5 SGB IX in den bis zum 14.01.2015 und 29.12.2016 geltenden Fassungen, nach § 69 Abs. 1 Satz 5 und 6 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung beziehungsweise nach § 152 Abs. 1 Satz 5 und 6 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft festgestellt, wobei eine Feststellung hierbei nur dann zu treffen ist, wenn ein GdB von wenigstens 20 vorliegt.
Nach § 70 Abs. 2 SGB IX in der bis zum 29.12.2016 geltenden Fassung wird das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des GdB und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundes-recht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Nach § 70 Abs. 2 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung beziehungsweise nach § 153 Abs. 2 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung gilt diese Ermächtigung für die allgemeine – also nicht nur für die medizinische – Bewertung des GdB und die Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen sowie auch für die Kriterien für die Bewertung der Hilflosigkeit. Zwar ist von dieser Ermächtigung noch kein Gebrauch gemacht worden. Indes bestimmt § 159 Abs. 7 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung beziehungsweise § 241 Abs. 5 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung, dass – soweit eine solche Verordnung nicht erlassen ist – die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der auf Grund des § 30 Abs. 17 BVG in der bis zum 30.06.2011 geltenden Fassung beziehungsweise § 30 Abs. 16 BVG in der ab dem 01.07.2011 geltenden Fassung erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend gelten. Mithin ist für die konkrete Bewertung von Funktionsbeeinträchtigungen die ab dem 01.01.2009 an die Stelle der „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehinderten-gesetz“ (AHP) getretene Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zu § 2 Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (VersMedV) vom 10.12.2008 (BGBl. I S. 2412), die durch die Verordnungen vom 01.03.2010 (BGBl. I S. 249), 14.07.2010 (BGBl. I S. 928), 17.12.2010 (BGBl. I S. 2124), 28.10.2011 (BGBl. I S. 2153) und 11.10.2012 (BGBl. I S. 2122) sowie das Gesetz vom 23.12.2016 (BGBl. I S. 3234) geändert worden ist, heranzuziehen. In den VG sind unter anderem die Grundsätze für die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG festgelegt worden. Diese sind nach den VG, Teil A, Nr. 2 auch für die Feststellung des GdB maßgebend. Die VG stellen ihrem Inhalt nach antizipierte Sachverständigengutachten dar. Dabei beruht das für die Auswirkungen von Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe an der Gesellschaft relevante Maß nicht allein auf der Anwendung medizinischen Wissens. Vielmehr ist die Bewertung des GdB auch unter Beachtung der rechtlichen Vorgaben sowie unter Heranziehung des Sachverstandes anderer Wissenszweige zu entwickeln (BSG, Urteil vom 17.04.2013 – B 9 SB 3/12 R –, juris).
Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB nach § 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX in den bis zum 14.01.2015, 29.12.2016 und 31.12.2017 geltenden Fassungen beziehungsweise nach § 152 Abs. 3 Satz 1 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Zur Feststellung des GdB werden in einem ersten Schritt die einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen (von der Norm abweichenden) Zuständen nach § 2 Abs. 1 SGB IX und die sich daraus ableitenden, für eine Teilhabebeeinträchtigung bedeutsamen Umstände festgestellt. In einem zweiten Schritt sind diese dann den in den VG genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten Schritt ist dann in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der Gesamt-GdB zu bilden. Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen (sich decken), sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinanderstehen (BSG, Urteil vom 17.04.2013 – B 9 SB 3/12 R –, juris). Nach den VG, Teil A, Nr. 3 Buchst. c ist bei der Bildung des Gesamt-GdB in der Regel von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB auszugehen und sodann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob der Ausgangswert also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen um 10, 20 oder mehr Punkte zu erhöhen ist, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Insoweit führen nach den VG, Teil A, Nr. 3 Buchst. d, von Ausnahmefällen abgesehen, zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, die bei der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnte, auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es danach vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Außerdem sind nach den VG, Teil A, Nr. 3 Buchst. b bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in der GdB-Tabelle der VG feste Grade angegeben sind.
Die Bemessung des GdB ist grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe. Dabei hat insbesondere die Feststellung der nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens zu erfolgen (BSG, Urteil vom 17.04.201 – B 9 SB 3/12 R –, juris).
Gemessen an diesen gesetzlichen Vorgaben hat das SG den GdB zutreffend mit 50 bewertet. Auch der Senat kann unter Berücksichtigung der Beweiserhebung im Berufungsverfahren keinen höheren GdB als 50 feststellen.
Die Klägerin leidet im Funktionssystem Rumpf an einem degenerativen HWS-Syndrom mit Aufbraucherscheinung vor allem der kleinen Wirbelgelenke und konzentrischer Bewegungseinschränkung der gesamten HWS sowie belastungsabhängigen Schmerzen, einer in Fehlstellung von 25 Grad Kyphose des thorakolumbalen Übergangs knöchern konsolidierten BWK-12-Fraktur mit noch einliegender Instrumentation ohne sicheren Nachweis einer Anschlussdekompensation respektive Instabilität sowie einem hochgradigen, vor allem die kleinen Wirbelgelenke betreffenden degenerativen LWS-Syndrom mit massiver Fehlstatik der gesamten Rumpfwirbelsäule im Sinne eines Hohl-/Rundrückens mit kompensatorischer Hyperlordose durch die frakturbedingte pathologische Kyphose des thorakolumbalen Übergangs mit intermittierenden Nervenwurzelreizerscheinungen. Der Senat stellt dies mit dem Gutachten von S4 vom 11.03.2023 fest.
Nach den VG Teil B Ziff. 18.9 ist bei Wirbelsäulenschäden mit geringen funktionellen Auswirkungen (Verformung, rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität geringen Grades, seltene und kurz dauernd auftretende leichte Wirbelsäulensyndrome) ein GdB von 10, mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende und über Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome) ein GdB von 20, mit schweren funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, häufig rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkung oder Instabilität schweren Grades, häufig rezidivierende und Wochen andauernde ausgeprägte Wirbelsäulensyndrome) ein GdB von 30 und mit mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten ein GdB von 30 bis 40 gerechtfertigt. Maßgebend ist dabei, dass die Bewertungsstufe GdB 30 bis 40 erst erreicht wird, wenn mittelgradige bis schwere funktionelle Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten vorliegen. Die Obergrenze des GdB von 40 ist danach erreicht bei schweren Auswirkungen in mindestens zwei Wirbelsäulenabschnitten (Senatsurteil 24.01.2014 - L 8 SB 2497/11 -, juris und www.sozialgerichtsbarkeit.de); leichte Funktionsbehinderungen in mehreren Wirbelsäulenabschnitten, die jeweils für sich nur mit einem GdB von 10 zu bewerten sind, sind nicht zu einem GdB von 20 zusammenzufassen, weil nach der gesetzlichen Regelung diese Bewertungsstufe erst erreicht wird, wenn Funktionsdefizite vorliegend, die in zumindest einem Wirbelsäulenabschnitt eine mittelgradige Ausprägung erreichen. Erst bei Wirbelsäulenschäden mit besonders schweren Auswirkungen (z.B. Versteifung großer Teile der Wirbelsäule; anhaltende Ruhigstellung durch Rumpforthese, die drei Wirbelsäulenabschnitte umfasst (z.B. Milwaukee-Korsett); schwere Skoliose (ab ca. 70° nach Cobb) ist ein GdB von 50 bis 70 und bei schwerster Belastungsinsuffizienz bis zur Geh- und Stehunfähigkeit ein GdB von 80 bis 100 gerechtfertigt.
Der Senat konnte in diesem Funktionssystem eine massive Fehlstatik in 2 Abschnitten durch die in Fehlstellung verheilte BWK-12-Fraktur feststellen, welche nach den VG Teil B Ziff. 18.9 als schwergradige Funktionsbeeinträchtigungen in 2 Abschnitten mit einem GdB von 40 zu bewerten sind. S4 führt in seinem Gutachten vom 11.03.2023 aus, dass die Fehlstellung des thorakolumbalen Übergangs mit konsekutiver Fehlstellung des erheblichen Hohlkreuzes über das Ausmaß hinausgehen. Es bestanden Druck- und Klopfschmerzen sowie Erschütterungsschmerzen der gesamten Wirbelsäule mit maximalem Punkt am thorakolumbalen Übergang der LWS und am rechten Ileosakralgelenk. Die paravertrebrale Muskulatur zeigte sich deutlich tonuserhöht und die Beweglichkeit massiv eingeschränkt mit einem Finger-Boden-Abstand von 50 cm und einem Zeichen nach Schober von 10/13 cm. Soweit T1 in seinem Gutachten vom 30.07.2020 im Gegensatz dazu nur eine endgradige Funktionseinschränkung der HWS und eine mittelgradige Funktionseinschränkung der LWS feststellt und mit einem GdB von 30 bewertet, hat sich diese Befundlage bei der Begutachtung durch S4 nicht bestätigt. Der vom Beklagten im Funktionssystem Rumpf zuerkannte GdB von 40 ist somit nach wie vor zutreffend. Ein höherer GdB kann dagegen in diesem Funktionssystem nicht vergeben werden, da noch keine Versteifung von 3 Wirbelsäulenabschnitten oder eine schwergradige Belastungsinsuffizienz der Wirbelsäule mit Geh- und Stehunfähigkeit vorliegt.
Die Klägerin leidet im Funktionssystem Beine an einer nekrotisierenden Coxarthrose der rechten Seite mit völligem Aufbrauch des Gelenkspaltes, schmerzhafter Bewegungseinschränkung und Auswirkungen auf die Gehstreckenlimitierung. Der Senat stellt dies mit dem Gutachten von S4 fest.
Nach den VG Teil B Ziff. 18.14 ist eine Bewegungseinschränkung der Hüftgelenke geringen Grades (z.B. Streckung/Beugung bis zu 0-10-90 Grad mit entsprechender Einschränkung der Dreh- und Spreizfähigkeit) einseitig mit einem GdB von 10 bis 20 und beidseitig mit einem GdB von 20 bis 30 zu bewerten. Eine Bewegungseinschränkung der Hüftgelenke mittleren Grades (z.B. Streckung/Beugung bis zu 0-30-90 Grad mit entsprechender Einschränkung der Dreh- und Spreizfähigkeit) ist einseitig mit einem GdB von 30 und beidseitig mit einem GdB von 50 zu bewerten. Eine Bewegungseinschränkung der Hüftgelenke stärkeren Grades ist einseitig mit einem GdB von 40 und beidseitig mit einem GdB von 60 bis 100 zu bewerten.
Nach den von S4 erhobenen Befunden liegen deutliche Leistendruckschmerzen, ein lokaler Trochanterklopfschmerz und fortgeleiteter Fersenklopfschmerz vor. Die Gesamtbeweglichkeit war für die Streckung und Beugung bis auf eine Beugekontraktur von bds. 10 Grad noch normal. Die Rotationsbewegung zeigte sich rechts massiv eingeschränkt mit aufgehobener Innenrotation bzw. Außenrotationsfehlstellung von 10 Grad, die sich auch auf passive Bewegung nur um 20 Grad steigern ließ bei unauffälligen Verhältnissen links. Auch die Abduktion war rechts gegenüber links gemindert. Angesichts der massiv eingeschränkten Rotationsfähigkeit ist die Bewertung mit einem GdB von 20 für die einseitige Funktionseinschränkung des Hüftgelenkes angemessen, auch wenn noch keine Beweglichkeitseinschränkung für die Beugung und Streckung vorliegt.
Die Klägerin leidet zudem in dem Funktionssystem der Beine an funktionellen Einschränkungen beider oberen Sprunggelenke mit leichter Bewegungseinschränkung rechts und belastungsabhängigen Schmerzen nach schwerem Distorsionstrauma rechts mit Auswirkung auf die Gehfähigkeit. Der Senat entnimmt dies dem Gutachten von S4 vom 11.03.2023.
Nach den VG Teil B Ziff. 18.14 ist eine Bewegungseinschränkung im oberen Sprunggelenk geringen Grades mit keinem GdB, mittleren Grades (Heben/Senken 0-0-30 Grad) mit einem GdB von 10 und stärkeren Grades mit einem GdB von 20 zu bewerten. S4 hat in seinem Gutachten vom 11.03.2023 eine leichte Bewegungseinschränkung rechts mit belastungsabhängigen Schmerzen festgestellt. Beide Sprunggelenke zeigten sich in der Gelenkkontur vermehrt. Angesichts der beidseitigen Betroffenheit und der verminderten Belastbarkeit ist der von S4 vorgeschlagene GdB von 20 angemessen.
Im Funktionssystem Gehirn einschließlich Psyche leidet die Klägerin an einer Angst- und depressiven Störung gemischt. Der Senat nimmt diesbezüglich auf das Gutachten von S3 vom 23.07.2020 Bezug.
Nach den VG Teil B Ziff. 3.7 ist bei Neurosen, Persönlichkeitsstörungen oder Folgen psychischer Traumen mit leichteren psychovegetativen oder psychischen Störungen der GdB mit 0 bis 20, bei stärker behindernden Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungs-fähigkeit (z.B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) der GdB mit 30 bis 40 und bei schweren Störungen (z.B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpassungs-schwierigkeiten der GdB mit 50 bis 70 und mit schweren sozialen Anpassungsschwierigkeiten der GdB mit 80 bis 100 zu bewerten.
S3 konnte in seinem Gutachten vom 23.07.2020 keine höhergradige psychovegetative Störung feststellen. Der Senat verkennt bezüglich der Würdigung der Aussagen der Klägerin und der Befunderhebung durch S3 nicht, dass der Unfall für die Klägerin eine einschneidende Lebensveränderung mit sich gebracht hat, deren Folgen für die Klägerin immer noch deutlich spürbar sind. S3 konnte allerdings keine Einschränkung der Aufmerksamkeit und der Konzentration feststellen. Auch die emotionale Schwingungsfähigkeit war noch ausreichend erhalten. Eine psychisch bedingte Antriebsminderung lag nicht vor. Die Einschätzung von S3, dass eine leichtgradige Störung in Gestalt der Diagnose Angst- und depressive Störung gemischt vorliegt, ist nach Auffassung des Senats nicht zu beanstanden. Insofern konnte er auch die Einschätzung der bis zum Jahr 2019 behandelnden L1 nicht bestätigen, nach deren Ausführungen vom 03.07.2018 eine höhergradige depressive Symptomatik vorlag. Aktuelle psychologische Befunde liegen indes nicht vor. Insofern hat die Klägerin zwar auf die Mobilitätseinschränkungen verwiesen, welche dazu führten, dass sie Arztbesuche auf das unbedingt Notwendige beschränke. Allerdings kann der Senat auch der sachverständigen Zeugenaussage des behandelnden B4 keine weiteren Anhaltspunkte für ein Fortbestehen der psychovegetativen Symptomatik entnehmen. Bei einer deutlichen psychovegetativen Symptomatik wäre zumindest die Einleitung entsprechender Behandlungsmaßnahmen durch den Hausarzt zu erwarten gewesen. Ohne entsprechende aktuelle Befundberichte kann der Senat nicht feststellen, ob sich im Zustand der Klägerin Änderungen ergeben haben bzw. ob der von S3 angenommene Schweregrad nicht zutrifft. Für diese Tatsache ist letztlich die Klägerin beweisbelastet, so dass die fehlende Nachweisbarkeit zu ihren Lasten geht. Der Senat stellt daher fest, dass der GdB von 20 für die Funktionsbeeinträchtigungen auf psychiatrischen Fachgebiet nach den aktenkundigen Befunden nicht zu beanstanden ist.
Weitere GdB-relevante Erkrankungen sind nicht aktenkundig. Der Sachverhalt ist vollständig aufgeklärt. Der Senat hält weitere Ermittlungen von Amts wegen, nicht für erforderlich. Die vorliegenden ärztlichen Unterlagen haben dem Senat zusammen mit den eingeholten Gutachten die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen vermittelt (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG, § 412 Abs. 1 ZPO). Denn der medizinische festgestellte Sachverhalt bietet die Basis für die alleine vom Senat vorzunehmende rechtliche Bewertung des GdB unter Einschluss der Bewertung der sich zwischen den einzelnen Erkrankungen und Funktionsbehinderungen ergebenden Überschneidungen und Wechselwirkungen.
Ausgehend von dem Funktionskomplex Rumpf mit der Wirbelsäulenerkrankung mit einem Einzel-GdB von 40 und der Funktionsbeeinträchtigung im Funktionssystem Beine mit einem Einzel-GdB von 20 für die Hüftgelenkserkrankung sowie von 20 für die Sprunggelenkserkrankung sowie der Funktionsbeeinträchtigung im Funktionssystem Gehirn einschließlich Psyche von 20, ist der GdB mit insgesamt 50 angemessen bewertet. Eine Bewertung mit einem GdB von mehr als 50 kommt dagegen nicht in Betracht, da es sich insbesondere bei dem GdB von 20 für die Sprunggelenkserkrankung sowie dem GdB von 20 für die Angst und depressive Störung gemischt nach dem Ausmaß der derzeit noch bestehenden Funktionsbeeinträchtigungen um leichtgradige Störungen handelt, welche nicht jeder für sich genommen zur Erhöhung des Gesamt-GdB führen.
Die Berufung hat daher bezüglich der Erhöhung des GdB keinen Erfolg.
II. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Feststellung des Merkzeichens „aG“ ab dem 21.03.2017.
Anspruchsgrundlage für die begehrte Feststellung ist § 152 Abs. 4 SGB IX. Dieser bestimmt, dass wenn neben dem Vorliegen einer Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen sind, die zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen im Verfahren nach § 152 Abs. 1 SGB IX treffen. Zu diesen Nachteilsausgleichen gehört das im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz (StVG) oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften in den Schwerbehindertenausweis einzutragende Merkzeichen „aG“ (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Schwerbehindertenausweisverordnung [SchwbAwV]). Diese Feststellung zieht straßenverkehrsrechtlich die Gewährung von Parkerleichterungen im Sinne von § 46 Abs. 1 Nr. 11 Straßenverkehrsordnung (StVO) nach sich, insbesondere die Nutzung von gesondert ausgewiesenen „Behindertenparkplätzen“ und die Befreiung von verschiedenen Parkbeschränkungen. Darüber hinaus führt sie unter anderem zur Befreiung von der Kraftfahrzeugsteuer (§ 3a Abs. 1 Kraftfahrzeugsteuergesetz [KraftStG]) bei gleichzeitiger Möglichkeit der unentgeltlichen Beförderung im öffentlichen Personennahverkehr (§ 228 Abs. 1 SGB IX) und gegebenenfalls zur Ausnahme von allgemeinen Fahrverboten nach § 40 Bundesimmissionsschutzgesetz (BImSchG).
§ 229 Abs. 3 SGB IX enthält nunmehr die Legaldefinition des Nachteilsausgleichs „aG“, die zuvor aufgrund Art. 3 Nr. 13 des Gesetzes zur Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen (Bundesteilhabegesetz – BTHG) vom 23. Dezember 2016 seit dem 30. Dezember 2016 in § 146 Abs. 3 SGB IX a. F. enthalten war. Nach § 229 Abs. 3 SGB IX sind schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung Personen mit einer erheblichen mobilitätsbezogenen Teilhabebeeinträchtigung, die einem Grad der Behinderung von mindestens 80 entspricht (Satz 1). Eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung liegt vor, wenn sich die schwerbehinderten Menschen wegen der Schwere ihrer Beeinträchtigung dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können (Satz 2). Hierzu zählen insbesondere schwerbehinderte Menschen, die auf Grund der Beeinträchtigung der Gehfähigkeit und Fortbewegung – dauerhaft auch für sehr kurze Entfernungen – aus medizinischer Notwendigkeit auf die Verwendung eines Rollstuhls angewiesen sind (Satz 3). Verschiedenste Gesundheitsstörungen (insbesondere Störungen bewegungsbezogener, neuromuskulärer oder mentaler Funktionen, Störungen des kardiovaskulären oder Atmungssystems) können die Gehfähigkeit erheblich beeinträchtigen (Satz 4). Diese sind als außergewöhnliche Gehbehinderung anzusehen, wenn nach versorgungsärztlicher Feststellung die Auswirkung der Gesundheitsstörungen sowie deren Kombination auf die Gehfähigkeit dauerhaft so schwer ist, dass sie der unter § 229 Abs. 3 Satz 1 SGB IX genannten Beeinträchtigung gleichkommt (Satz 5).
Nach der Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drucks. 18/9522, S. 318) kann beispielsweise bei folgenden Beeinträchtigungen eine solche Schwere erreicht werden, dass eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung vorliegt: zentralnervösen, peripher-neurologischen oder neuromuskulär bedingten Gangstörungen mit der Unfähigkeit, ohne Unterstützung zu gehen oder wenn eine dauerhafte Rollstuhlbenutzung erforderlich ist (insbesondere bei Querschnittlähmung, Multipler Sklerose, Amyotropher Lateralsklerose (ALS), Parkinsonerkrankung, Para- oder Tetraspastik in schwerer Ausprägung), einem Funktionsverlust beider Beine ab Oberschenkelhöhe oder einem Funktionsverlust eines Beines ab Oberschenkelhöhe ohne Möglichkeit der prothetischen oder orthetischen Versorgung (insbesondere bei Doppeloberschenkelamputierten und Hüftexartikulierten), schwerster Einschränkung der Herzleistungsfähigkeit (insbesondere bei Linksherzschwäche Stadium NYHA IV), schwersten Gefäßerkrankungen (insbesondere bei arterieller Verschlusskrankheit Stadium IV), Krankheiten der Atmungsorgane mit nicht ausgleichbarer Einschränkung der Lungenfunktion schweren Grades und einer schwersten Beeinträchtigung bei metastasierendem Tumorleiden (mit starker Auszehrung und fortschreitendem Kräfteverfall).
§ 229 Abs. 3 SGB IX normiert mehrere (kumulative) Voraussetzungen: Zunächst muss bei dem Betroffenen eine mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung bestehen, diese muss einem GdB von mindestens 80 entsprechen. Darüber hinaus muss die mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung auch erheblich sein. Mit der Bezugnahme auf mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigungen wollte sich der Gesetzgeber von der Einengung auf orthopädische Gesundheitsstörungen lösen, so dass „keine Fallgestaltung von vornherein bevorzugt oder ausgeschlossen wird, auch nicht dem Anschein nach“ (vgl. BT-Drs. 18/9522, S. 318). Trotz dieser Ausweitung übernimmt die Neuregelung den bewährten Grundsatz, dass das Recht, Behindertenparkplätze zu benutzen, nur unter engen Voraussetzungen eingeräumt werden darf, und verlangt daher einen – relativ hohen – GdB von wenigstens 80 für die mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung. Dabei ist an den tatsächlich zuerkannten GdB anzuknüpfen (vgl. Senatsurteil vom 27.01.2017 – L 8 SB 943/16 –, juris, Rdnr. 49).
Nach diesen Maßstäben liegt bei der Klägerin keine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung vor, weil sie sich nicht dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeugs bewegen kann.
Dies ergibt sich zunächst, wie das SG zu Recht ausgeführt hat, bereits aus der Tatsache, dass kein mobilitätsbedingter GdB von 80 vorliegt. Hierzu wird auf die Ausführungen unter I. verwiesen. Diesbezüglich hat auch die Beweiserhebung im Berufungsverfahren durch das Gutachten von S4 keinen höheren GdB als insgesamt 50 und innerhalb dieses GdBs einen GdB von 40 für die Funktionsbeeinträchtigungen der Wirbelsäule, von 20 für die Funktionsbeeinträchtigungen der Sprunggelenke bds. sowie von 20 für die nekrotisierende Coxarthrose rechts ergeben. Bereits aus diesem Grund kann das Merkzeichen „aG“ vorliegend nicht festgestellt werden.
Zudem hat S4 bestätigt, dass die Klägerin noch in der Lage ist, frei mehrere Schritte zu gehen und Wegstrecken von 30 bis 50 m zum Untersuchungsort und weiterhin in die V1-Klinik R2 zurückzulegen. Dies entspricht auch der Einschätzung des behandelnden B4, welcher in der sachverständigen Zeugenaussage vom 11.07.2022 ausführt, dass die Klägerin sich noch ohne fremde Hilfe, aber mit Beschwerden bewegen könne. Auch nach der Einschätzung der behandelnden Ärzte sowie der Gutachter liegt daher keine außergewöhnliche Gehbehinderung vor.
Das Merkzeichen „aG“ kann daher nicht festgestellt werden.
III. Die Klägerin hat Anspruch auf die Zuerkennung des Merkzeichens „B“ ab dem 21.03.2017.
Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch auf Feststellung des Merkzeichens „B“ ist § 152 Absatz 1 und 4 SGB IX (§ 69 Absatz 1 und 4 SGB IX a.F.). Nach § 152 Abs. 4 SGB IX stellen die zuständigen Behörden neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind.
Nach § 229 Abs. 2 Satz 1 SGB IX (§ 146 Abs. 2 SGB IX a.F.) sind schwerbehinderte Menschen zur Mitnahme einer Begleitperson berechtigt, die bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln infolge ihrer Behinderung regelmäßig auf Hilfe angewiesen sind. Nach § 228 Abs. 6 Nr. 1 SGB IX (§ 145 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX a.F.) wird eine Begleitperson eines schwerbehinderten Menschen i.S.d. § 228 Abs. 1 SGB IX (§ 145 Abs. 1 SGB IX a.F.) unentgeltlich im öffentlichen Nahverkehr befördert, wenn die Berechtigung zur Mitnahme einer Begleitperson nachgewiesen und dies im Ausweis des schwerbehinderten Menschen eingetragen ist. Schwerbehinderte Menschen i.S.d. § 228 Abs. 1 SGB IX (§ 145 Abs. 1 SGB IX a.F.) sind Personen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt oder hilflos oder gehörlos sind. Damit knüpft der Tatbestand an die Merkzeichen „G“, „Gl“ und „H“ an. Die Zuerkennung des Merkzeichens „B“ kann somit nur erfolgen, wenn das Merkzeichen „G“, „H“ oder „Bl“ zuerkannt ist (BSG 11.11.1987 - 9a RVs 6/86 - SozR 3870 § 38 Nr. 2). Weiter ist Voraussetzung, dass sie bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel infolge ihrer Behinderung regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen sind (§ 229 Abs. 2 Satz 1 SGB IX; § 146 Abs. 2 Satz 1 SGB IX a.F.).
Die auch über den Rechtswechsel zum 01.01.2018 hinaus fortgeltenden Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VG), die als Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (BGBl. I 2008, 2412) ergangen sind, bestimmen unter Teil D Nr. 2 VG folgendes:
„Berechtigung für eine ständige Begleitung (Merkzeichen B)
a. Für die unentgeltliche Beförderung einer Begleitperson ist nach dem SGB IX die Berechtigung für eine ständige Begleitung zu beurteilen. Auch bei Säuglingen und Kleinkindern ist die gutachtliche Beurteilung der Berechtigung für eine ständige Begleitung erforderlich. Für die Beurteilung sind dieselben Kriterien wie bei Erwachsenen mit gleichen Gesundheitsstörungen maßgebend. Es ist nicht zu prüfen, ob tatsächlich diesbezügliche behinderungsbedingte Nachteile vorliegen oder behinderungsbedingte Mehraufwendungen entstehen.
b. Eine Berechtigung für eine ständige Begleitung ist bei schwerbehinderten Menschen (bei denen die Voraussetzungen für die Merkzeichen „G“, „Gl“ oder „H“ vorliegen) gegeben, die bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln infolge ihrer Behinderung regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen sind. Dementsprechend ist zu beachten, ob sie bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel regelmäßig auf fremde Hilfe beim Ein- und Aussteigen oder während der Fahrt des Verkehrsmittels angewiesen sind oder ob Hilfen zum Ausgleich von Orientierungsstörungen (z.B. bei Sehbehinderung, geistiger Behinderung) erforderlich sind.
c. Die Berechtigung für eine ständige Begleitung ist anzunehmen bei Querschnittgelähmten, Ohnhändern, Blinden und Sehbehinderten, Hörbehinderten, geistig behinderten Menschen und Anfallskranken, bei denen die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr gerechtfertigt ist.“
Damit knüpft Teil D Nr. 2 Buchst. a) VG die Möglichkeit zur unentgeltlichen Beförderung einer Begleitperson an die „Berechtigung für eine ständige Begleitung“ an. Das entspricht auch dem Gesetz in § 228 Abs. 6 Nr. 1 i.V.m. § 228 Abs. 1 Satz 1 SGB IX bzw. § 145 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 145 Abs. 1 SGB IX a.F.
Hiervon ausgehend liegen - sowohl nach den bis 31.12.2017 als auch nach den ab 01.01.2018 - anzuwendenden Vorschriften die Voraussetzungen des Merkzeichens „B“ ab 21.03.2017 vor.
Das Merkzeichen „B“ – bei Klägerin ist das Merkzeichen „G“ festgestellt – bezieht sich nur auf die Mitnahme einer Begleitperson bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln. Dementsprechend umfasst der Schutzbereich des Merkzeichens auch nur die Begleitung zwecks fremder Hilfe beim Ein- und Aussteigen bzw. während der Fahrt des Verkehrsmittels oder zum Ausgleich von Orientierungsstörungen im Zusammenhang mit der Benutzung des öffentlichen Personennahverkehrs. Damit begründet eine Begleitungsbedürftigkeit außerhalb des Einsteigens, Aussteigens, der Fahrt und der Orientierung im Zusammenhang mit der Benutzung der Verkehrsmittel des öffentlichen Personennahverkehrs - z.B. die Hilfe bei der Orientierung beim Spaziergang im Wald, beim Einkaufen und sonstigen Wegen - nicht den Feststellungsanspruch hinsichtlich des Merkzeichens „B“ (vgl. Senatsurteil, Urteil vom 22.03.2019 – L 8 SB 3550/18 –, juris Rdnr. 45 ff.).
Die Hilfe durch eine Begleitperson muss dabei nicht immer, aber zumindest regelmäßig erforderlich sein (Vogl in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 3. Aufl. 2018, § 229 SGB IX, RdNr. 29). Ein- bis zweimal wöchentlich auftretende Gehstörungen reichen nicht aus (Kossens in: Kossens/von der Heide/Maaß, SGB IX, 3. Aufl. 2009, § 146 SGB IX Rdnr. 12); nicht ausreichend ist auch eine dreimal wöchentlich durchzuführende Dialyse mit der Gefahr von anschließenden Schwindelanfällen (LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 17.10.1996 – L 4 Vs 145/95 –, juris). Ein erwachsener Taubstummer oder Gehörloser hat nicht allein wegen dieser Behinderung Anspruch auf Feststellung der Notwendigkeit ständiger Begleitung (BSG, Urteil vom 12.11.1996 – 9 RVs 5/95 –, SozR 3-1300 § 48 Nr. 57). Bei dem Personenkreis der Gehörlosen kann nach Abschluss der Gehörlosenschule und jedenfalls dem Abschluss einer Ausbildung nicht aufgrund typischer Funktionsbeeinträchtigungen, insbesondere beeinträchtigter Kommunikationsfähigkeit, vom Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „B“ ausgegangen werden; eine solche Annahme wäre bei gehörlosen Menschen in aller Regel dann gerechtfertigt, wenn sich ihre Störung der Kommunikationsfähigkeit auf ihre Orientierungsfähigkeit auswirken würde (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 21.02.2013 – L 6 SB 5788/11 –, juris Rdnr. 24; LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 19.02.2014 – L 7 SB 72/12 –, juris).
Jedoch lässt sich aus den Vorschriften über das Merkzeichen „B“ auch nicht allgemein ableiten, dass ein GdB von 80 bzw. 70 für einzelne Störungen Voraussetzung der Feststellung des Merkzeichens „B“ ist. Weder § 229 Abs. 2 SGB IX noch § 228 Abs. 6 SGB IX lässt sich solches entnehmen. Lediglich in Teil D Nr. 2 Buchst. c) VG wird für Blinde und Sehbehinderte, Hörbehinderte, geistig behinderte Menschen und Anfallskranke auf die Voraussetzungen von Teil D Nr. 1 Buchst. f) VG verwiesen, als es sich um Menschen handeln muss, bei denen die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr gerechtfertigt ist (dazu vgl. auch Senatsurteil vom 23.11.2018 – L 8 SB 324/18 –, juris).
Die Klägerin ist nicht dem in Teil D Nr. 2 Buchst. c) VG genannten Personenkreis zuzuordnen. Sie ist weder querschnittgelähmt noch Ohnhänder. Sie ist auch nicht blind oder soweit sehbehindert oder hörbehindert, dass bei ihr nicht bereits aus diesem Grund die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr gerechtfertigt ist.
Liegt kein „Katalogfall“ von Teil D Nr. 2 Buchst. c) VG vor, kommt eine Berechtigung für eine ständige Begleitung nur in Betracht, wenn der Schweregrad einer Behinderung alleine oder mehrerer Behinderungen zusammen in den funktionellen Auswirkungen auf die Sicherheit des behinderten Menschen und Dritter in Richtung der in der VersMedV genannten Personenkreise der „Katalogfälle“ weisen (Vogl in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IX, 3. Aufl. 2018, § 229 SGB IX, RdNr. 26 unter Hinweis auf Bayerisches LSG, Urteil vom 05.06.2002 – L 18 SB 29/01 –, juris). Damit versteht der Senat die Regelungen in Teil D Nr. 2 VG nicht als abschließend (vgl. hierzu Senatsurteil vom 22.03.2019 – L 8 SB 3550/18 –, juris Rdnr. 51). Vielmehr, wie auch aus den neuen Regelungen zum Merkzeichen „aG“ ableitbar, kommt es darauf an, ob eine Person in einer „funktionellen Gesamtschau“ entsprechend schwer funktionell teilhabebeeinträchtigt ist. Insoweit ist von Bedeutung, dass das Merkzeichen „B“ gerade nicht nur die Bewegungsfähigkeit im Blick hat, sondern vielmehr die umfassende Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs (Einsteigen, Fahrt, Aussteigen, Orientierung an der Haltestelle in Bezug auf das Verkehrsmittel). Damit können auch Funktionsbehinderungen, die nicht in Teil D Nr. 2 Buchst. c) VG genannt sind, eine Begleitungsbedürftigkeit begründen, wenn sie funktionell in einem solchen Ausmaß die selbständige Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs beeinträchtigen, wie es durch die „Katalogfälle“ des Teil D Nr. 2 Buchst. c) VG beschrieben ist. Diesen Beispielen ist gemein, dass sie Personen erfassen, die in das Verkehrsmittel des öffentlichen Personennahverkehrs nicht alleine einsteigen, damit fahren bzw. wieder aussteigen können (z.B. Querschnittsgelähmte und Ohnhänder), sich bei dessen Benutzung alleine nicht zurechtfinden (z.B. Blinden und Sehbehinderten, Hörbehinderten, geistig behinderten Menschen und Anfallskranken) oder sich an der jeweiligen Haltestelle nicht alleine ausreichend orientieren können (z.B. geistig behinderte Menschen).
Die Klägerin leidet, wie der Senat dem Gutachten von S4 vom 11.03.2023 entnimmt, an einer Bewegungseinschränkung der gesamten HWS sowie belastungsabhängigen Schmerzen, einer schmerzhaften Bewegungseinschränkung der Hüftgelenke mit Auswirkungen auf die Gehstrecke sowie einer leichten Bewegungseinschränkung des Sprunggelenkes rechts und belastungsabhängigen Schmerzen mit Auswirkung auf die Gehfähigkeit. Infolge dieser Einschränkungen ist nach den Ausführungen von S4 bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln eine Ein- und Ausstieghilfe durch herabklappbare Stufen oder ebenerdige Ausstiege notwendig. Auch B4 hat in seiner sachverständigen Zeugenaussage vom 11.07.2022 bestätigt, dass die Klägerin beim Ein- und Aussteigen fremde Hilfe benötigt. Es ist auch zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats davon auszugehen, dass noch keine verbreitete Barrierefreiheit im öffentlichen Nahverkehr vorliegt (vgl. hierzu LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 13.03.2020 – L 13 SB 115/18 –, juris Rdnr. 64 m.w.N.) und daher regelmäßig Höhenunterschiede und Stufen beim Ein- und Aussteigen aus Bahnen und Bussen zu überwinden sind. Der Senat ist somit im vorliegenden Einzelfall auf Grundlage des Gutachtens von S4 und der vorliegenden ärztlichen Berichte zu der Überzeugung gelangt, dass die Klägerin alleine nicht in der Lage ist, die Verkehrsmittel des öffentlichen Personennahverkehrs ohne fremde Hilfe zu benutzen. Nachdem bei der Klägerin das Merkzeichen „G“ bereits festgestellt ist, ist ihr nunmehr auch das Merkzeichen „B“ zuzuerkennen.
Es war daher wie erfolgt zu tenorieren.
IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt den Ausgang des Verfahrens.
V. Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.