L 8 U 974/22

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
8.
1. Instanz
SG Mannheim (BWB)
Aktenzeichen
S 2 U 2053/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 U 974/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 10.12.2021 aufgehoben. Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheids vom 20.12.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.08.2020 verurteilt, dem Kläger Verletztenrente für den Arbeitsunfall vom 29.06.2017 im gesetzlichen Umfang nach einer MdE um 10 v.H. ab dem 05.11.2017 zu gewähren.

Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers im Klageverfahren und im Berufungsverfahren zu erstatten.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung einer Verletztenrente aufgrund der Folgen des Arbeitsunfalls vom 29.06.2017 im Streit.

Der 1966 geborene Kläger hatte bereits zuvor einen Arbeitsunfall erlitten. Der Kläger war am 10.05.2007 bei forstwirtschaftlichen Arbeiten im Wald seines Vaters beim Abladen von Holz vom Ladegerät gestürzt und dabei mit dem Kopf auf dem Boden aufgeschlagen. Die hierfür zuständige Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten- und Gartenbau (SVLFG) gewährte dem Kläger deswegen mit Bescheid vom 05.10.2009 eine Verletztenrente auf unbestimmte Zeit nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 30 von Hundert (v.H.). Als Unfallfolgen wurden eine traumatische Halswirbelsäulenverletzung mit erheblichen Bewegungseinschränkungen der Halswirbelsäule (HWS) und daraus resultierenden schmerzhaften Funktionsstörungen im Bereich der Nackenmuskulatur sowie  Missempfindungen in beiden Armen sowie Störungen der Oberflächen- und Tiefensensibilität im Bereich der oberen Extremität mit linksseitiger Reflexminderung und einliegendem Fremdmaterial im Bereich der Halswirbelkörper (HWK) 5/6 anerkannt (vgl. die beigezogenen Akten der SVLFG sowie die entsprechende Mitteilung der SVLFG  im Berufungsverfahren vom 20.02.2023 über den laufenden Rentenbezug).

Bei dem Ereignis vom 29.06.2017 um 05:20 Uhr rannte der als Busfahrer beschäftigte Kläger bei seinem Schichtbeginn im strömenden Regen von seinem Auto zu seinem Bus, wobei er mit dem rechten Fuß nach außen umknickte. Der Kläger stellte sich nach dem Ende seiner Arbeitsschicht noch am Unfalltag bei dem Durchgangsarzt G1 vor, welcher eine Distorsion des rechten oberen Sprunggelenks (OSG) S 93.40 GR im Sinne einer Verstauchung und Zerrung feststellte. Ein Hinweis auf eine frische knöcherne Verletzung habe sich im Rahmen der Röntgenuntersuchung nicht ergeben. Die Verletzung wurde in der Folge nur konservativ behandelt.

Die Beklagte zog ein Vorerkrankungsverzeichnis der AOK B1 bei, aus dem sich für den Zeitraum ab dem Jahr 2010 keine einschlägigen Vorerkrankungen ergaben.

Der Kläger befand sich vom 04.10. bis 04.11.2017 in stationärer Behandlung im P1klinikum K1, in welchem auf eine frühere Kernspintomographie vom 10.07.2017 mit Nachweis eines Knochenmarködems der laterodorsalen Talusrolle und einer Partialruptur des Innenbandes (parstibiotalarer Posterior) mit Tendovaginitis der Tibialis posterior und der Peronealsehnen und einem Gelenkerguss im rechten unteren Sprunggelenk (USG) hingewiesen wurde.

Eine Kernspintomographie vom 13.10.2017 ergab Residuen wie nach einem Pronationstrauma des USG, ein regredientes Knochenmarködem, sowie eine osteochondrale Läsion an der lateralen Talusrollenkante, derzeit ohne Nachweis eines ulzerierenden Knorpeldefekts, aber mit struktureller Chondropathie.

Anschließend erstattete der B2 am 19.10.2019 im Auftrag der Beklagten das erste Rentengutachten. Den unfallbedingten Gesundheitserstschaden bezeichnete er als Distorsion des OSG rechts mit traumatischer Ruptur von Bändern in Höhe des OSG und Fußes (S 93.2). Das MRT vom 10.07.2017 habe einen Bone bruise im Bereich des medialen Talus sowie eine Partialruptur des Innenbandes ergeben. Im MRT vom 13.10.2017 hätten sich Residuen nach einem Pronationstrauma des USG gezeigt. Ein MRT vom 18.12.2018 habe eine osteochondrale Läsion/Flake an der lateralen Talusschulter mit einem über der Läsion deutlich veränderten bzw. fehlenden Knorpel ergeben. Es habe sich ein deutlich fortschreitender Knorpelschaden bei rückläufigem Erguss gezeigt. Die wesentlichen Unfallfolgen mit ihren funktionellen Einschränkungen seien als diskrete Schwellung und Druckschmerzhaftigkeit nach stattgehabter Ruptur des Innenbandes rechts zu bezeichnen. Funktionelle Einschränkungen seien im Rahmen der Untersuchung nicht nachweisbar gewesen. Unfallunabhängig liege eine Fußheberschwäche links bei Zustand nach Bandscheibenvorfall L4/5 mit Zustand nach Rekompression von L5/1 im August 2007 als Folge einer HWS-Distorsion im Rahmen eines Arbeitsunfalles 05/07 mit Bandscheibenvorfall C4/5 mit inkomplettem Querschnittsyndrom vor. Die MdE aufgrund des Ereignisses vom 29.06.2017 betrage unter 10 v.H. Hierzu verwies der Gutachter auf das Messblatt für untere Gliedmaßen, wonach dem Kläger das Heben/Senken des Fußes beidseitig jeweils mit 5/0/30 Grad gelungen sei.

Bezugnehmend auf einen Versicherungsfall vom 29.06.2017 lehnte die Beklagte daraufhin mit Bescheid vom 20.12.2019 wegen der Folgen des Arbeitsunfalls einen Anspruch auf Rente ab, wozu sie sich auf die Ausführungen des Gutachters stützte.

Mit Schreiben vom 27.12.2019 legte der Kläger Widerspruch ein. Zur Begründung trugen die Bevollmächtigten des Klägers vor, dass eine unfallbedingte MdE von 20 v.H., hilfsweise zumindest jedoch von 10 v.H. aufgrund des Ereignisses vom 29.06.2017 nachgewiesen sei. Die Beurteilung der Beweglichkeit des Sprunggelenks alleine nach der Neutral-Null-Methode sei nicht zielführend, da die so überprüfte passive Beweglichkeit unter Umgehung einer Blockierung des Gelenks unter Arbeitsbedingungen nicht einsetzbar sei. Der Kläger weise ein leicht hinkendes Gangbild und einen deutlichen Druckschmerz im Ansatz der Sehne des Musculus tibialis posterior auf. Es zeige sich ein deutlich schmerzhaft-entzündliches Geschehen im Verletzungsbereich, und das nach inzwischen über drei Jahren nach dem Ereignis.

Mit Widerspruchsbescheid vom 06.08.2020 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Die Höhe der MdE bemesse sich nach der Schwere des unfallbedingten Krankheitsbildes und dem Umfang der dem Verletzten dadurch verschlossenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsfeld. Verbliebene, subjektiv empfundene Beschwerden wie vom Kläger vorgetragen seien zwar zu berücksichtigen, könnten jedoch für sich genommen regelmäßig keinen Rentenanspruch oder eine höhere MdE begründen. Es sei nicht feststellbar, dass die allgemeinen Grundsätze zur Bewertung der MdE im Falle des Klägers unzutreffend angewandt worden seien.

Der Kläger hat deswegen am 14.08.2020 beim Sozialgericht Mannheim (SG) Klage erhoben. Die Bevollmächtigten des Klägers haben mit der Klage vorgetragen, dass der Beurteilung der MdE durch den B2 selbst bei Zugrundelegung der von dem Gutachter selbst getroffenen Feststellungen nicht gefolgt werden könne. Der Gutachter habe ein leicht hinkendes Gangbild, einen deutlichen Druckschmerz im Bereich des rechten Fußes sowie am Ansatz der Peronaeus brevis-Sehne rechts festgestellt. Die aktive Beweglichkeit des verletzten Sprunggelenks sei nicht ausreichend berücksichtigt worden.

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 10.12.2021 abgewiesen. Die unfallbedingten Erkrankungen des Klägers könnten nicht mit einer MdE von wenigstens 20 v.H. bewertet werden, wozu das SG gemäß § 136 Abs. 3 SGG auf die Ausführungen der Beklagten in dem Widerspruchsbescheid vom 06.08.2020 Bezug nahm. Insbesondere sei das Heben und Senken des rechten Fußes immerhin noch bis 5-0-30 Grad gelungen, was sich aus dem Gutachten des B2 ergebe. Die unfallmedizinische Literatur (mit Hinweis auf Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl. 2017, S. 123, 712 ff.) sehe bei Bewegungsmaßen von 0-0-30 Grad eine MdE um 10 v.H. vor. Selbst wenn der B2 den Kläger die Bewegungen nicht aktiv habe demonstrieren lassen, wie der Kläger im Klageverfahren ausgeführt habe, zeige doch das passive Bewegungsmaß, dass er hierbei nicht stärker limitiert sei. Der Referenzwert betrage insoweit 20-0-40 Grad (mit Hinweis auf das Messblatt für untere Gliedmaßen der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung, Abbildung 6). Die im Klageverfahren angeführten Beschwerden zeigten zwar eine Funktionsbeeinträchtigung, untermauerten jedoch keine MdE um wenigstens 20 v.H. Mangels Stützrententatbestand (§ 56 Abs. 1 Satz 2 bis 4 SGB VII) sei im Falle des Klägers diese Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit allerdings für ein Recht auf eine Verletztenrente erforderlich. Das Urteil wurde den Bevollmächtigten des Klägers am 17.03.2022 zugestellt.

Die Bevollmächtigten haben am 04.04.2022 beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) Berufung eingelegt, mit der sie ihren bisherigen Vortrag wiederholt und vertieft haben. Es sei nicht nachvollziehbar, weswegen der Gutachter Vorschäden, welche sich auf den anderen Fuß bezögen, thematisiert habe. Schließlich habe das SG nicht die Frage beantwortet, warum bei einem vorliegenden stützenden Tatbestand keine MdE um 10 v.H. gesehen werde.

Der Kläger beantragt zuletzt,

das Urteil des Sozialgerichts Mannheim vom 10.12.2021 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 20.12.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.08.2020 zu verurteilen, ihm wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 29.06.2017 eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 10 v.H. zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte hält die angefochtenen Bescheide für rechtmäßig. Der Kläger übersehe, dass bezüglich der Unfallfolgen eine MdE von unter 10 v.H. festgestellt worden sei, weswegen auch der Hinweis auf einen Stützrententatbestand nicht weiterführe. Die Bewertung mit einer MdE von unter 10 v.H. stehe auch in Übereinstimmung mit den allgemein anerkannten unfallmedizinischen Erfahrungswerten. Danach bedingten erst Bewegungseinschränkungen im OSG von 0-0-30 Grad eine MdE um 10 v.H. (mit Hinweis auf Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Anhang 12, Punkt 17.4). In den Befund- und Behandlungsberichten vor dem Gutachten sei im Übrigen wiederholt eine freie Beweglichkeit im rechten OSG festgestellt worden. Eine messbare MdE sei daher nicht begründbar.

Im Auftrag des Gerichts hat der S1 am 12.10.2022 ein weiteres Sachverständigengutachten erstellt. Die unfallbedingten Gesundheitsstörungen auf orthopädischem Fachgebiet wurden als leichte Bewegungseinschränkung des rechten Sprunggelenks für die aktive Dorsal- und Plantarflexion sowie belastungsabhängige Schmerzen durch die bestehende osteochondrale Läsion im Rahmen der Distorsion und eine persistierende Schwellneigung des rechten Unterschenkels als Blutumlaufstörung bezeichnet. Bisher sei es noch nicht zu einer fortschreitenden posttraumatischen Arthrose des rechten OSG gekommen, ebenso wenig wie zu einer Akzentuierung der vorbestehenden Knick-Senk-Fuß-Bildung auf der linken Seite. Die unfallbedingte MdE sei seit dem 01.01.2018 durchgängig mit 10 v.H. und nicht mit unter 10 v.H. zu bemessen. Für die Bewertung der MdE mit 20 v.H. seien die Bewegungseinschränkungen zu gering. Mit in die Bewertung solle jedoch auch die Schwellneigung des rechten Unterschenkels aufgenommen werden, welche eine Kompressionsstrumpfbehandlung erforderlich mache. Mit der Beurteilung des B2 im ersten Rentengutachten vom 01.10.2019 stimme er bezüglich der Befunderhebung überein. Die gemessene Beweglichkeit der oberen Sprunggelenke betrage für die Dorsalflexion/Plantarflexion beidseits aktiv 5/0/30 Grad und lasse sich passiv rechts auf 10/0/50 Grad, links auf 10/0/40 Grad steigern. Die geringfügigen Messunterschiede gegenüber dem Vorgutachten seien am ehesten messtechnisch bedingt. Anders als der Vorgutachter halte er jedoch die Mitberücksichtigung der Schmerzhaftigkeit und Schwellneigung sowie die minimale Einschränkung der aktiven Beweglichkeit des linken OSG für dazu angetan, zu einer unfallbedingten MdE um 10 v.H. zu führen.

Die Beklagte ist dem Gutachten des S1 entgegengetreten. Nach ihrer Auffassung überzeuge die Annahme einer MdE um 10 v.H. nicht, da lediglich eine minimale Einschränkung der aktiven Beweglichkeit im oberen rechten Sprunggelenk vorliege, welche jedoch zum einen seitengleich zu links bestehe und zum anderen passiv nicht mehr feststellbar sei. Das untere rechte Sprunggelenk sei in der Beweglichkeit völlig frei. Die maßgebliche Berücksichtigung von Schmerzen durch den Gutachter sei unzulässig, da diese Argumentation nur bei „über das übliche Maß“ hinausgehenden Schmerzen zulässig sei (mit Hinweis auf Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 244). Zudem müsse als Gesundheitsschaden zunächst der konkrete Schmerz mit Vollbeweis festgestellt werden. Eine Minderung der Muskelmasse sei nicht erkennbar. Dieser Umstand belege nach den Bewegungsmaßen eine uneingeschränkte Funktion/Belastbarkeit. Ob die von S1 dokumentierte abendliche Schwellneigung im rechten Unterschenkel zu berücksichtigen sei, hänge zunächst davon ab, ob diese überhaupt als Unfallfolge zu werten sei. Weder in dem Gutachten des B2 noch in den nachfolgenden aktenkundigen Behandlungsberichten sei jedoch über eine Schwellneigung berichtet oder eine solche objektiv dokumentiert worden. Mögliche Ursachen könnten auch ein Venenleiden oder Durchblutungsstörungen sein. Des Weiteren sei das Ausmaß der angegebenen Schwellneigung nicht dokumentiert. Ein mittlerer Mehrumfang am Ober- und Unterschenkel von weniger als einem Zentimeter werde nach den allgemein anerkannten unfallmedizinischen Erfahrungswerten lediglich als nicht messbar bewertet (mit Hinweis auf Bereiter-Hahn/Mehrtens, a.a.O., Anhang 12.17.4).

Im Hinblick auf die Kritik der Beklagten hat der S1 auf Aufforderung des Senats am 07.01.2023 eine ergänzende gutachterliche Stellungnahme vorgelegt. Die Beklagte betrachte die Schmerzen des Klägers nicht als ausreichend, obwohl diese über das übliche Maß hinausgingen und funktionelle Einschränkungen auf die Erwerbsfähigkeit nach sich zögen. An der osteochondralen Läsion des Klägers, die mehrfach kernspintomographisch nachgewiesen worden sei, bestünden keine Zweifel. Dies gelte auch in Anbetracht der auf den primär kernspintomographischen Aufnahmen schon erkennbaren Knochenmarködembildung, welche zu dem Schmerzerlebnis des Klägers führe. Durch die Schmerzen sei der Kläger in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert, da häufiges Stehen und Gehen sowie das Heben von Lasten begrenzt sei. Im Rahmen seines Gutachtens habe er sich ausführlich mit dieser Schwellungstendenz und den vorhandenen Blutumlaufstörungen auseinandergesetzt und auf die Ödembildung des rechten Unterschenkels hingewiesen. Allein von Seiten der Bewegungseinschränkungen sei die MdE in der Tat auf unter 10 v.H. einzuschätzen, unter Einbeziehung der vorhandenen Schmerzhaftigkeit und der Blutumlaufstörungen sei jedoch eine unfallbedingte MdE um 10 v.H. auf Dauer gerechtfertigt. Die Einlassungen der beklagten BG seien aus seiner Sicht nicht geeignet, die Schlussfolgerungen in dem Gutachten vom 12.10.2022 zu ändern.

Anschließend sind die Akten der SVLFG angefordert worden, welche vollumfänglich in Kopie vorgelegt und zu den Akten genommen worden sind. Die SVLFG hat mit Schreiben vom 20.02.2023 zu dem vorliegenden Verfahren bestätigt, dass der Kläger aktuell weiterhin die Verletztenrente aufgrund des Ereignisses vom 10.05.2007 nach einer MdE um 30 v.H. bezieht.

Die Beklagte ist den Ausführungen des S1 erneut entgegengetreten, wozu sie eine beratungsärztliche Stellungnahme des W1 vom 01.03.2023 vorgelegt hat. Nach der Auffassung von W1 sei eine Blutumlaufstörung nicht belegt. Die Schwellneigung sei irrelevant, zumal hier auf den Rahmen der Messgenauigkeit zu verweisen sei, wie bereits geschehen. Die subjektiven Angaben des Klägers im Hinblick auf Schmerzen seien nicht annähernd nachvollziehbar.

Auf einen Hinweis des Berichterstatters haben die Bevollmächtigten des Klägers ihren ursprünglichen Antrag auf Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE um 20 v.H. auf einen Antrag auf Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE um 10 v.H. umgestellt.

Auf die Anfrage nach dem Einverständnis mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung hat die Beklagte am 16.03.2023 mitgeteilt, dass sie hiermit nicht einverstanden sei.

Für die weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten und der SVLFG sowie die Akten des SG und des LSG mit den darin enthaltenen Ausführungen der Beteiligten Bezug genommen.



Entscheidungsgründe

Die nach den §§ 143 f. SGG statthafte und zulässige Berufung des Klägers ist zulässig und im Sinne des zuletzt verfolgten klägerischen Antrags auch begründet. Die angegriffenen Entscheidungen haben zu Unrecht einen Anspruch des Klägers auf Gewährung von Verletztenrente aufgrund des Versicherungsfalls vom 29.06.2017 abgelehnt.

Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3, 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit; § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (§ 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII). Für das Vorliegen eines Arbeitsunfalls i. S. des § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII ist danach in der Regel erforderlich, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer bzw. sachlicher Zusammenhang), dass diese Verrichtung zu dem zeitlich begrenzten, von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis – dem Unfallereignis - geführt hat, und das Unfallereignis einen Gesundheits(-erst-)schaden oder den Tod des Versicherten verursacht (haftungsbegründende Kausalität) hat. Die Entstehung länger andauernder Unfallfolgen aufgrund des Gesundheits(-erst)schadens (haftungsausfüllende Kausalität) ist nicht Voraussetzung für die Anerkennung eines Arbeitsunfalls (ständige Rechtsprechung, vgl. stellvertretend BSG, Urteile vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R = SozR 4-2700 § 8 Nr. 17, B 2 U 40/05 R= UV-Recht Aktuell 2006, 419-422, B 2 U 26/04 R = UV-Recht Aktuell 2006, 497-509, alle auch in juris).

Nach der im Sozialrecht anzuwendenden Theorie der wesentlichen Bedingung werden als kausal und rechtserheblich nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben (st. Rspr. vgl. stellvertretend BSG vom 12.04.2005 - B 2 U 27/04 R - BSGE 94, 269 = SozR 4-2700 § 8 Nr. 15, jeweils RdNr. 11). Welche Ursache wesentlich ist und welche nicht, muss aus der Auffassung des praktischen Lebens über die besondere Beziehung der Ursache zum Eintritt des Erfolgs bzw. Gesundheitsschadens abgeleitet werden (BSGE 1, 72, 76).

Die Theorie der wesentlichen Bedingung beruht ebenso wie die im Zivilrecht geltende Adä-quanztheorie (vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2006 – B 2 U 1/05 R –, BSGE 96, 196-209, SozR 4-2700 § 8 Nr. 17 sowie zu den Unterschieden BSGE 63, 277, 280 = SozR 2200 § 548 Nr. 91) auf der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie als Ausgangsbasis. Nach dieser ist jedes Ereignis Ursache eines Erfolges, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio sine qua non). Aufgrund der Unbegrenztheit der naturwissenschaftlich-philosophischen Ursachen für einen Erfolg ist für die praktische Rechtsanwendung in einer zweiten Prüfungsstufe die Unterscheidung zwischen solchen Ursachen notwendig, die rechtlich für den Erfolg verantwortlich gemacht werden bzw. denen der Erfolg zugerechnet wird, und den anderen, für den Erfolg rechtlich unerheblichen Ursachen.

Bei mehreren Ursachen ist sozialrechtlich allein relevant, ob das Unfallereignis wesentlich war. Ob eine konkurrierende (Mit-)Ursache auch wesentlich war, ist unerheblich. Ist jedoch eine Ursache oder sind mehrere Ursachen gemeinsam gegenüber einer anderen von überragender Bedeutung, so ist oder sind nur die erstgenannte(n) Ursache(n) "wesentlich" und damit Ursache(n) im Sinne des Sozialrechts. Die andere Ursache, die zwar naturwissenschaftlich ursächlich ist, aber (im zweiten Prüfungsschritt) nicht als "wesentlich" anzusehen ist und damit als Ursache nach der Theorie der wesentlichen Bedingung und im Sinne des Sozialrechts ausscheidet, kann in bestimmten Fallgestaltungen als "Gelegenheitsursache" oder Auslöser bezeichnet werden. Für den Fall, dass die kausale Bedeutung einer äußeren Einwirkung mit derjenigen einer bereits vorhandenen krankhaften Anlage zu vergleichen und abzuwägen ist, ist darauf abzustellen, ob die Krankheitsanlage so stark oder so leicht ansprechbar war, dass die "Auslösung" akuter Erscheinungen aus ihr nicht besonderer, in ihrer Art unersetzlicher äußerer Einwirkungen bedurfte, sondern dass jedes andere alltäglich vorkommende Ereignis zu derselben Zeit die Erscheinung ausgelöst hätte. Bei der Abwägung kann der Schwere des Unfallereignisses Bedeutung zukommen (ständige Rechtsprechung; vgl. stellvertretend zum Vorstehenden insgesamt BSG, Urteile vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R, SozR 4 2700 § 8 Nr. 17; B 2 U 40/05 R, UV Recht Aktuell 2006, 419; B 2 U 26/04 R, UV Recht Aktuell 2006, 497; alle auch veröffentlicht in Juris).

Beweisrechtlich ist zu beachten, dass der je nach Fallgestaltung ggf. aus einem oder mehreren Schritten bestehende Ursachenzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und den Unfallfolgen als anspruchsbegründende Voraussetzung positiv festgestellt werden muss. Für die Feststellung des Ursachenzusammenhangs - der haftungsbegründenden und der haftungsausfüllenden Kausalität - genügt hinreichende Wahrscheinlichkeit (st. Rspr. BSGE 19, 52 = SozR Nr. 62 zu § 542 a. F. RVO; BSGE 32, 203, 209 = SozR Nr. 15 zu § 1263 a. F. RVO; BSGE 45, 285, 287 = SozR 2200 § 548 Nr. 38, BSGE 58, 80, 83 = SozR 2200 § 555a Nr. 1). Diese liegt vor, wenn mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht und ernste Zweifel ausscheiden; die reine Möglichkeit genügt nicht (BSG, Urteile vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R und B 2 U 26/04 R - a.a.O. m.w.H.). Dagegen müssen die Krankheit, die versicherte Tätigkeit und die durch sie bedingten schädigenden Einwirkungen einschließlich deren Art und Ausmaß i. S. des "Vollbeweises", also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen werden (BSG SozR 3-5670 Anl. 1 Nr. 2108 Nr. 2 m.w.N.).

Der Kläger hat am 29.06.2017 einen bei der Beklagten versicherten Arbeitsunfall erlitten, als er zum Beginn seiner Arbeitsschicht als Busfahrer auf dem Weg zu seinem Bus mit dem rechten Fuß nach außen umknickte. Hiervon geht auch die Beklagte in dem Bescheid vom 20.12.2019 aus, in welchem sie „wegen der Folgen des Arbeitsunfalls“ einen Anspruch auf Rente abgelehnt hat. Ein ablehnender Bescheid, mit welchem die Berufsgenossenschaft feststellt, dass eine versicherte Person wegen der Folgen ihres Arbeitsunfalls keinen Anspruch auf eine Unfallrente hat, kann dahingehend auszulegen sein, dass zumindest das Vorliegen eines Arbeitsunfalls anerkannt wird. Das objektivierte Empfängerverständnis vermittelt hier die Anerkennung eines Arbeitsunfalls, unbeschadet des Umstands, ob die Beklagte mit dem Bescheid einen Arbeitsunfall anerkennen wollte oder nicht. Eine Klarstellung hat sie auch im Widerspruchsbescheid vom 07.05.2012 nicht vorgenommen (vgl. BSG, Urteil vom 28. Juni 2022 – B 2 U 9/20 R –, juris; Urteil des erkennenden Senats vom 12.05.2021 – L 8 U 1424/20 –, Rn. 34, juris). Das Vorliegen eines Arbeitsunfalls ist auch zu Recht von der Beklagten anerkannt und damit auch bestandskräftig festgestellt worden.

Der Senat stellt fest, dass bei dem Kläger als Folgen seines Arbeitsunfalls vom 29.06.2017 eine leichte Bewegungseinschränkung des rechten OSG für die aktive Dorsal- und Plantarflexion sowie belastungsabhängige Schmerzen durch die bestehende osteochondrale Läsion im Rahmen der Distorsion und eine persistierende Schwellneigung des rechten Unterschenkels als Blutumlaufstörung vorliegen. Diese Überzeugung stützt der Senat auf das Gesamtergebnis des Verfahrens, wie es sich insbesondere aus den beiden vorliegenden Gutachten ergibt. Der S1 hat schlüssig und überzeugend dargestellt, dass diese Erkrankungen bei dem Kläger vorliegen und auf den Arbeitsunfall vom 29.06.2017 zurückzuführen sind. Hierbei hat er im Wesentlichen die Ausführungen des B2 bestätigt, was die Überzeugung des Senats von der Richtigkeit der Schlussfolgerungen des S1 bekräftigt. Sofern S1 zusätzlich zu B2 eine Schwellneigung des rechten Unterschenkels als Blutumlaufstörung nach der erlittenen Unfallverletzung bezeichnet, hat er schlüssig dargelegt, dass diese vorliegen. Zudem hatte auch B2 in seinem vorausgehenden Gutachten vom 19.10.2019 – wenngleich in geringerer Ausprägung – ausdrücklich eine „diskrete Schwellung“ verbunden mit einer Druckschmerzhaftigkeit nach stattgehabter Ruptur des Innenbandes rechts beschrieben.

Die sich aus diesen Unfallfolgen ergebenden funktionellen Einschränkungen sind mit einer MdE um 10 v.H. zu bewerten und erfüllen damit unter Berücksichtigung der von der SVLFG bereits gewährten Rente (Stützrente) nach einer MdE um 30 v.H. die Voraussetzungen für die Gewährung einer Verletztenrente.

Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 vom Hundert gemindert ist, haben Anspruch auf eine Rente. Ist die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert und erreichen die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20, besteht für jeden, auch für einen früheren Versicherungsfall, Anspruch auf Rente. Die Folgen eines Versicherungsfalls sind nur zu berücksichtigen, wenn sie die Erwerbsfähigkeit um wenigstens 10 vom Hundert mindern (§ 56 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch Gesetzliche Unfallversicherung SGB VII). Während der ersten drei Jahre nach dem Versicherungsfall soll der Unfallversicherungsträger die Rente als vorläufige Entschädigung festsetzen, wenn der Umfang der MdE noch nicht abschließend festgestellt werden kann (§ 62 Abs. 1 Satz 1 SGB VII). Spätestens mit Ablauf von drei Jahren nach dem Versicherungsfall wird die vorläufige Entschädigung als Rente auf unbestimmte Zeit geleistet. Bei der erstmaligen Feststellung der Rente nach der vorläufigen Entschädigung kann der Vomhundertsatz der MdE abweichend von der vorläufigen Entschädigung festgestellt werden, auch wenn sich die Verhältnisse nicht geändert haben (§ 62 Abs. 2 SGB VII).

Ein Stützrententatbestand liegt in Form der fortlaufend gewährten Verletztenrente der SVLFG nach einer MdE um 30 v.H. vor. Wegen eines Sturzes auf den Kopf am 10.05.2007 hat die SVLFG bei dem Kläger die Folgen „traumatische Halswirbelsäulenverletzung mit erheblichen Bewegungseinschränkungen der Halswirbelsäule (HWS) und daraus resultierenden schmerzhaften Funktionsstörung en im Bereich der Nackenmuskulatur sowie  Missempfindungen in beiden Armen sowie Störungen der Oberflächen- und Tiefensensibilität im Bereich der oberen Extremität mit linksseitiger Reflexminderung und einliegendem Fremdmaterial im Bereich der Halswirbelkörper (HWK) 5/6“ anerkannt. Die deswegen gewährte Verletztenrente nach einer MdE um 20 v.H. wird dem Kläger fortlaufend ausgezahlt (gemäß der Mitteilung der SVLFG vom 20.02.2023). Der Senat hat keinen Zweifel daran, dass die genannten Unfallfolgen die Gewährung einer Verletztenrente nach einer MdE um 30 v.H. auf unbestimmte Zeit rechtfertigen. Im Übrigen ist der für eine "gestützte" Verletztenrente zuständige Unfallversicherungsträger an die durch Verwaltungsakt oder Urteil getroffenen Feststellungen anderer Unfallversicherungsträger gebunden, weswegen die Prüfung der Voraussetzungen einer Stützrente insoweit eingeschränkt ist (vgl. BSG vom 22.01.1981 - 8/8a RU 94/79 = SozR 2200 § 581 Nr. 14; Bayerisches LSG, Urteil vom 21.02.2006 – L 17 U 317/03 –, juris).

Da der vorliegende, zweite Arbeitsunfall gesundheitliche Einschränkungen nach sich zieht, die mit einer MdE um 10 v.H. zu bewerten sind, hat die Berufung des Klägers Erfolg.

Die Bemessung der MdE wird vom BSG in ständiger Rechtsprechung als Tatsachenfeststellung gewertet, die das Gericht gemäß § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG nach seiner freien aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung trifft. Dies gilt für die Feststellung der Beeinträchtigung des Leistungsvermögens des Versicherten ebenso wie für die auf der Grundlage medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher oder seelischer Beeinträchtigungen zu treffende Feststellung der ihm verbliebenen Erwerbsmöglichkeiten (BSG SozR 4-2700 § 56 Nr. 2; BSG SozR 3-2200 § 581 Nr. 8, S 36 m.w.N.). Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, inwieweit derartige Beeinträchtigungen sich auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, sind eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die richterliche Schätzung der MdE, vor allem soweit sie sich darauf beziehen, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch die Unfallfolgen beeinträchtigt sind (BSG SozR 2200 § 581 Nr. 22, 23; BSGE 82, 212 = SozR 3-2200 § 581 Nr. 5). Erst aus der Anwendung medizinischer und sonstiger Erfahrungssätze über die Auswirkungen bestimmter körperlicher oder seelischer Beeinträchtigungen auf die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten des Betroffenen auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens und unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalles kann die Höhe der MdE geschätzt werden (BSG SozR 3-2200 § 581 Nr. 8). Die zumeist in jahrzehntelanger Entwicklung von der Rechtsprechung sowie dem versicherungsrechtlichen und versicherungsmedizinischen Schrifttum herausgearbeiteten Erfahrungssätze sind deshalb bei der Beurteilung der MdE zu beachten; sie sind zwar nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend, bilden aber die Grundlage für eine gleiche, gerechte Bewertung der MdE in zahlreichen Parallelfällen der tägliche Praxis und unterliegen einem ständigen Wandel (BSG a.a.O; BSG Urteil vom 22.06.2004 - B 2 U 14/03 R - SozR 4-2700 § 56 Nr. 1). Die Erfahrungswerte bilden in der Regel die Basis für einen Vorschlag, den der medizinische Sachverständige zur Höhe der MdE unterbreitet, sie sind aber nicht für die Entscheidung im Einzelfall bindend (BSG SozR 2200 § 581 Nr. 23 und 27; BSGE 82, 212 = SozR 3-2200 § 581 Nr. 5; BSG SozR 3-2200 § 581 Nr. 8; BSG, Urteil vom 18.03.2003 - B 2 U 31/02 R -; BSGE 93, 63 = SozR 4-2700 § 56 Nr. 1). Die Feststellung der Höhe der MdE als tatsächliche Feststellung erfordert stets die Würdigung der hierfür notwendigen Beweismittel im Rahmen freier richterlicher Beweiswürdigung gemäß § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG (BSG, Urteil vom 13.09.2005 - B 2 U 4/04 R - veröffentlicht in juris m. H. auf BSG, SozR 3-2200 § 581 Nr. 8; Urteil vom 18.03.2003 a.a.O.).

Neben diesen auf tatsächlichem Gebiet liegenden Umständen für die Bemessung der MdE sind aus der gesetzlichen Definition der MdE sowie den Grundsätzen der gesetzlichen Unfallversicherung fließende rechtliche Vorgaben zu beachten (SozR 4-2700 § 56 Nr. 2). Bestanden bei dem Versicherten vor dem Versicherungsfall bereits gesundheitliche, auch altersbedingte Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit (sog. Vorschäden), werden diese nach der ständigen Rechtsprechung des BSG und der einhelligen Auffassung in der Literatur für die Bemessung der MdE berücksichtigt, wenn die Folgen des Versicherungsfalles durch die Vorschäden beeinflusst werden. Denn Versicherte unterliegen mit ihrem individuellen Gesundheitszustand vor Eintritt des Versicherungsfalls dem Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung (BSG, a.a.O. m.H.a.: BSGE 63, 207, 211, 212 = SozR 2200 § 581 Nr. 28). Dies verlangt § 56 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 SGB VII, wonach die "infolge" des Versicherungsfalls eingetretene Beeinträchtigung des Leistungsvermögens und die dadurch verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens maßgeblich sind.

Das SG hat in seinem Urteil vom 10.12.2021 zutreffend darauf hingewiesen, dass das Heben und Senken des rechten Fußes bei der Begutachtung durch B2 immerhin noch bis 5-0-30 Grad (Referenzwert: 20-0-40 Grad) gelungen ist. Die unfallmedizinische Literatur (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl. 2017, S. 123, 712 ff.) sieht bei Bewegungsmaßen von 0-0-30 Grad eine MdE um 10 v.H. vor. Die Messwerte von B2 wurden durch den S1 am 12.10.2022 bestätigt. Dieser hat für die Dorsalflexion/Plantarflexion beidseits aktiv ebenfalls mit 5-0-30 Grad festgestellt.

Die nach der zitierten unfallmedizinischen Literatur danach anzunehmende MdE von unter 10 v.H. berücksichtigt jedoch noch nicht die bei dem Kläger vorliegenden besonderen Schmerzen. Zwar handelt es sich bei der MdE-Beurteilung um eine Funktionsbeurteilung, wobei davon auszugehen ist, dass die einschlägigen MdE-Erfahrungswerte die üblicherweise mit einer bestimmten gesundheitlichen Einschränkung einhergehenden Schmerzen bereits miterfassen (Schönberger/Mehrtens/ Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Auflage 2017, S. 244 f.).

Hier ist aber zu berücksichtigen, dass der Kläger nach dem Unfallereignis fortlaufend und konsistent auf seine Schmerzen hingewiesen und hierzu regelmäßig Behandlungsangebote bei der Beklagten nachgefragt hat, was sich aus den vorliegenden Verwaltungsakten ergibt (vgl. die Arztberichte vom 11.09.2017, 06.10.2017, 16,10.2017, 04.11.2017, 08.05.2018, 09.06.2018, 17.10.2018, 23.11.2018, 24.01.2019, 13.03.2019, 25.03.2019, 25.06.2020, jeweils mit der Mitteilung anhaltender Schmerzen im rechten Sprunggelenk). Bereits bei der Behandlung in der BG-Klinik am 04.10.2017 wurde eine spezielle Schmerztherapie mit begleitenden physikalischen Maßnahmen eingeleitet (Bericht vom 06.10.2017), welche offensichtlich nicht zum Erfolg geführt hat. Denn in den sich anschließenden Behandlungen kam es nicht zur Besserung der Schmerzsymptomatik. Im Bericht des P1-Klinikums K1 vom 04.11.2017 nach einem einmonatigen Reha-Aufenthalt wird erneut auf eine Schmerztherapie verwiesen, wobei die Entlassung am 04.11.2017 bei persistierender Schmerzsymptomatik erfolgte. Fortbestehende, umfassende Schmerzen im Verletzungsbereich werden auch im D-Arztbericht vom 08.05.2018 geschildert. Dem Kläger sind gemäß D-Arzt-Bericht vom 17.10.2018 aufgrund der andauernden Schmerzsymptomatik Ibuprofen und Pantozol verschrieben worden, welche der Kläger regelmäßig einnimmt. Im Verlaufsbericht vom 25.03.2019 wird die Einnahme von Ibuprofen 1-2-mal täglich angegeben, was mit einer 2-mal wöchentlich durchgeführten Physiotherapie nach den Angaben des Klägers eine weitere Beschäftigung als Busfahrer zulasse.

Dieser Verlauf der Schmerzgeschichte des Klägers wird auch von beiden Gutachtern bestätigt. Bei B2 hat der Kläger täglich vorhandene Schmerzen, vor allem bei vermehrter Belastung, angegeben. Der Gutachter hat in seinen Befunden im Gutachten vom 19.10.2019 an mehreren Stellen einen deutlichen Druckschmerz beim Kläger festgestellt, so am Ansatz der Sehne des Musculus tibialis posterior und distal des Innenknöchels, sowie am Ansatz der Peronaeus brevis-Sehne rechts. Die vorhandenen Druckschmerzen hat der Gutachter ausdrücklich in seine Zusammenfassung der wesentlichen Unfallfolgen mit aufgenommen.

Der S1 hat in seiner ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme auch schlüssig dargestellt, dass beim Kläger durch mehrere Kernspintomografien eine osteochondrale Läsion nachgewiesen ist, welche zu einer Knochenmarködembildung geführt hat, und welche die spezielle Schmerzsymptomatik des Klägers erklärt. Der Gutachter hat auch nachvollziehbar dargestellt, dass sich hieraus in der Gesamtschau funktionelle Einschränkungen im Erwerbsleben ergeben, da hierdurch häufiges Stehen und Gehen sowie das Heben von Lasten nur eingeschränkt möglich sind. Insoweit hält der Senat auch die Einwendungen der Beklagten und des W1, dass ein Schmerzerleben des Klägers auf subjektiven Angaben beruhe und nicht annähernd nachvollziehbar sei, als durch das Gesamtergebnis des Verfahrens widerlegt. Der S1 hat expliziert chronifizierte Ruheschmerzen als Unfallfolge festgestellt, welche sich unter Belastung noch steigern.

Ein solches Schmerzgeschehen ist als 2023 noch bestehende Folge eines 2017 erfolgten Umknickens mit dem Fuß nicht mehr als gewöhnlicher Verlauf anzusehen, und kann daher auch nicht als in der als Standard mit einer MdE von unter 10 v.H. mitumfassten Schmerzsymptomatik angesehen werden. Das Vorliegen ungewöhnlicher Schmerzen – und zwar bereits im Ruhezustand trotz mehrfach erfolgter Schmerztherapie und Einnahme von Schmerzmitteln – rechtfertigt vorliegend eine maßvolle Erhöhung der MdE von unter 10 v.H. auf eine MdE von 10 v.H. (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 22.07.2016 – L 8 U 475/15 –, Rn. 47, juris; LSG Hamburg, Urteil vom 28.02.2018 – L 2 U 44/14 –, Rn. 30, juris; Hessisches LSG, Urteil vom 12.11.2018 – L 9 U 213/15 –, Rn. 49, juris). Gerade wenn wie vorliegend neben dem Schmerz keine wesentliche Funktionseinschränkung vorliegt, gebietet es die Gleichbehandlung der Versicherten, den Schmerz bei der MdE gebührend zu berücksichtigen (Schönberger/Mehrtens/Valentin a.a.O. S. 244 mit Hinweis auf Roller SGb 2007, 271, 272). Der Senat hält es daher im Rahmen der Tatsachenbewertung bei der Feststellung der MdE für erforderlich, die unfallbedingte MdE von unter 10 v.H. moderat anzuheben und mit den Feststellungen des Dr. von Stockert eine unfallbedingte MdE um 10 v.H. festzustellen.

Hierbei lässt es der Senat offen, ob auch eine Einbeziehung der Schwellneigung des rechten OSG zu berücksichtigen ist, da bereits aufgrund der Berücksichtigung der Schmerzsymptomatik der Berufung des Klägers in vollem Umfang stattzugeben ist.

Renten werden von dem Tag an gezahlt, an dem der Anspruch auf Verletztengeld endet oder der Versicherungsfall eingetreten ist, wenn kein Anspruch auf Verletztengeld entstanden ist (§ 72 Abs. 1 SGB VII). Verletztengeld wird grundsätzlich von dem Tag an gezahlt, ab dem die Arbeitsunfähigkeit ärztlich festgestellt wird (§ 46 Abs. 1 1. HS SGB VII) und endet mit dem letzten Tag der Arbeitsunfähigkeit oder der Hinderung an einer ganztägigen Erwerbstätigkeit durch eine Heilbehandlungsmaßnahme (§ 46 Abs. 3 Nr. 1 SGB VII).

Der Kläger hat nach dem Arbeitsunfall vom 29.06.2017 weitergearbeitet und war am 05.09.2017 zunächst bis zum 14.09.2017 durch den G1 als arbeitsunfähig beurteilt worden. Erstmalig wieder arbeitsfähig beurteilt wurde er danach am 04.11.2017 bei seiner Entlassung aus der stationären Maßnahme im P1klinikum K1. Die Gewährung der Rente hat daher gemäß § 72 Abs. 1 Nr. 2 SGB VII ab dem 05.11.2017 auf Dauer zu erfolgen, solange der Stützrententatbestand nach § 56 Abs. 1 Satz 2 bis 4 SGB VII erfüllt ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.  




 

Rechtskraft
Aus
Saved