L 9 U 2090/20

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
9
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 1 U 7008/18
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 U 2090/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 18. Mai 2020 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.



Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Anerkennung einer Berufskrankheit (BK) nach Nr. 2108 der Anlage 1 zu Berufskrankheitenverordnung (BKV) streitig.

Mit Schreiben vom 17.03.2017 teilte der 1960 geborene Kläger der Beklagten mit, dass er das letzte halbe Jahr unter ständigen Kreuzschmerzen gelitten habe und nun seit November 2016 in orthopädischer Behandlung sei. Es sei ein starker Verschleiß seiner Wirbelsäule diagnostiziert worden, welcher nur durch eine Operation behoben werden könne. Seine Tätigkeit als Radio-Fernsehtechniker sei an seinem Körper nicht spurlos vorübergegangen. Die Fernsehgeräte hätten damals schon über 30 kg gewogen und seien zu 80 % immer alleine transportiert worden. Im Fragebogen der Beklagten gab der Kläger unter dem 11.04.2017 an, seit ca. 15 Jahren unter Rückenbeschwerden zu leiden. Diese träten im mittleren Bereich (Brustwirbelsäule) und unteren Bereich (Lendenwirbelsäule) auf und äußerten sich in Schmerzen im Kreuz bis zu den Zehenspitzen.

Der Kläger ist gelernter Radio- und Fernsehtechniker (Berufsausbildung 3 ½ Jahre von 1975 bis 1979 bei der Fa. F-M, M), hat Weiterbildungen zum Elektroniker und zum Meister (1991) abgeschlossen. Von März 1979 bis Juni 1980 war er in der Werkstatt und als Kundendiensttechniker bei der K AG in L, von Juli 1980 bis März 1981 bei der Fa. D in S, von April 1981 bis Februar 1984 bei der Fa. B GmbH, S, beschäftigt. Seit März 1984 ist er als Kundendiensttechniker bei der Fa. H GmbH, ab 01.01.2000 bei der SP: H1 GbR und ab 01.01.2002 bei der H GmbH in Urbach, einem Elektrobetrieb mit Neubauinstallation, Hausgeräte-Kundendienst und einer Fernseherabteilung angestellt.

Die Beklagte leitete ein Feststellungsverfahren ein, ob durch die berufliche Tätigkeit eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Wirbelsäule verursacht worden ist.

Der Kläger legte (u. a.) Berichte der O vom 19.10.2016, 08.03.2017 (Diagnosen zuletzt: Insuffizienz Schulter-Nackenmuskulatur, „Spondylchondr/arthrose“ der WS, absolute Spinalkanalstenose: L4/5, pseudoradikuläre Schmerzausstrahlung, apparatepflichtige Schlafapnoe, cortisonpflichtiges Asthma bronchiale), sowie den Bericht über eine Magnetresonanztomographie (MRT) der Lendenwirbelsäule vom 02.03.2017 der radiologischen Gemeinschaftspraxis GbR H2 & Koll., S, vor. In diesem wird für die Etage L1/2 eine Retrolisthesis im Millimeterbereich, für die Etage L2/3 eine Chondrose, für die Etage L3/4 eine Chondrose und minimale rechts paramediane Herniation mit Migration nach kranial, für die Etage L4/5 eine Chondrose oder diskrete Osteochondrose, Bulging anulus und hypertrophe Spondylarthrose, dadurch interpedunkuläre Distanz nur noch im Millimeterbereich im Sinne einer Spinalkanalstenose und für die Etage L5/S1 eine Osteochondrose und Bulging anulus angegeben. Ferner wurde angegeben: „Keine Massenherniation. Spondylarthrose auch in der übrigen Lendenwirbelsäule, keine sonstige Spinalkanalstenose oder wesentliche ossäre Stenosierung der Neuroforamina beidseits.“ Im ebenfalls vorliegenden Bericht der R-M-Kliniken S vom 16.03.2017 wird die Diagnose segmentale Instabilität bei Osteochondrose L4/5 mit Spinalkanal-stenose und neuroforaminaler Stenose, Wurzelirritation des Wurzelabganges der L5-Wurzel links gestellt. Ferner liegen Berichte über die Behandlung von Leistenhernien, einer Schlafapnoe, des rechten Schultergelenkes, von Nierensteinen und Asthma bronchiale vor.

Die Beklagte holte Befundberichte bei der S-Klinik F vom 04.04.2017 (Multisegmentale degenerative Veränderungen der Lendenwirbelsäule mit spinaler Enge, Osteochondrose und Facettengelenksarthrosen, Punktum maximum L4/5 und L5/S1 mit leichtgradigen degenerativer
Olisthese L4/5), bei B über eine Behandlung am 16.03.2017, der Hausärzte S1/K1 vom 02.05.2017, bei D1 vom 10.05.2017 (Diagnosen nach einer Untersuchung am 15.07.2015: Osteochondrose L5/S1, Skoliose, Hyperlordose, Spondylarthrose) und bei S2 ein. Im von den Hausärzten vorgelegten Bericht der R-M-Kliniken S vom 08.07.2012 wird über seit dem 06.07.2012 bestehende Rückenschmerzen und rechtsseitige Flankenschmerzen mit Ausstrahlung bis zum rechten Unterbauch berichtet. Im Entlassbrief der S-Klinik F vom 31.05.2017 wird nach einem stationären Aufenthalt des Klägers vom 29.05.2017 bis 02.06.2017 über eine konservative Behandlung der Lendenwirbelsäule nach multisegmentalen degenerativen Veränderungen der Lendenwirbelsäule mit spinaler Enge, Osteochondrose und Facettengelenksarthrosen, Punktum maximum L4/5 und L5/S1 mit leichtgradiger degenerativer Olisthese L4/5 berichtet. Im Ambulanzbrief der S-Klinik vom 19.07.2017 wird von einer deutlichen Linderung der bestehenden Beschwerdesymptomatik berichtet. Vom 14.08.2017 bis 04.09.2017 befand sich der Kläger im Rahmen einer stationären medizinischen Rehabilitation in der F-Klinik B1 (Diagnosen: Lumboischialgie rechts bei multisegmentalen degenerativen Veränderungen der Lendenwirbelsäule mit spinaler Enge Punktum maximum L4/5 und L5/1 mit leichter degenerativer
Olisthese L4/5, rezidivierendes Halswirbelsäulensyndrom bei degenerativen Veränderungen der Halswirbelsäule, Insuffizienz der Schulter-Nackenmuskulatur, Rumpfmuskelinsuffizienz, Asthma bronchiale, Schlafapnoe mit CPAP-Maske). Ferner zog die Beklagte ein Vorerkrankungsverzeichnis der IKK classic, Ludwigsburg bei.

Die Firma SP:H1, U, teilte der Beklagten auf Anfrage unter dem 17.05.2017 mit, der Kläger sei als Radio- und Fernsehtechniker beschäftigt gewesen, vereinzelt habe er bei Elektroinstallationen mitgeholfen, selten bei der Auslieferung von weißer Ware.

Auf Veranlassung der Beklagten teilte die Berufsgenossenschaft Handel und Warenlogistik das Ergebnis ihrer Ermittlungen zur Arbeitsplatzexposition während der Tätigkeit für die K AG, L, in der Zeit vom 01.03.1979 bis 30.07.1980 mit einer Gesamtdosis 1,7 x 106 Nh mit. Dies entspreche einem prozentualen Anteil von 7 % des Orientierungswertes von 25 x 106 Nh. Dipl.-Ing. (FH) D aus der Präventionsabteilung der Beklagten stellte unter dem 09.10.2017 nach Befragung des Klägers und des Arbeitgebers für den Beschäftigungszeitraum 01.03.1984 bis 31.10.2016 bei der H GmbH eine berufliche Gesamtdosis von 6,2 x 106 Nh fest. Ergänzend hierzu stellte dieser in seiner Stellungnahme vom 27.10.2017 auch die Teildosen für die Tätigkeiten des Klägers bei F-M in der Zeit vom 01.08.1976 bis 28.02.1979 mit 1,4 x 106 Nh, für die Tätigkeit bei der Fa D in der Zeit vom 01.07.1980 bis 31.03.1981 mit 0,4 x 106 Nh und für die Tätigkeit bei der B GmbH in der Zeit vom 01.04.1981 bis 28.02.1984 mit 1,3 x 106 Nh sowie die Gesamtdosis mit 9,3 x 106 Nh fest.

Mit Bescheid vom 04.12.2017 stellte die Beklagte fest, dass keine BK nach Nr. 2108 der Berufskrankheiten-Liste bestehe und auch keine Ansprüche auf Leistungen. Die Berechnung der beruflichen Gesamtdosis durch die Präventionsabteilung habe ergeben, dass der Kläger im Zeitraum von August 1976 bis 31.10.2016 einer beruflichen Gesamtdosis i.H.v. 11 x 106 Nh ausgesetzt gewesen sei. Dies entspreche einem prozentualen Anteil von 44 % des Orientierungswertes von 25 x 106 Nh für Männer. Damit sei auch der hälftige Orientierungswert von 12,5 x 106 Nh gemäß BSG-Urteil unterschritten. Mit dem hiergegen am 15.12.2017 eingegangenen Widerspruch machte der Kläger geltend, mit der bisherigen Berechnung nicht einverstanden zu sein (vgl. Schriftsatz vom 13.03.2018, Akten-Id:172).

Es erfolgten hierauf weitere Ermittlungen des Präventionsdienstes der Beklagten, der im Bericht vom 02.08.2018 von einer Gesamtdosis von 9,6 x 106 Nh für Tätigkeiten in Betrieben, die im Zuständigkeitsbereich der Beklagten ausgeführt worden seien, ausging. Der Kläger bemängelte hierauf, dass die bisherige Bewertung der Arbeitsplatzexposition im Zeitraum 1979/1980 im Verbundlager der K AG mit einer Belastungsdosis von 1,7 nicht berücksichtigt worden sei (Schriftsatz vom 24.08.2018).

Mit Widerspruchsbescheid vom 21.11.2018 wies die Beklagte den Widerspruch zurück und führte aus, dass die Neuberechnung vom 02.08.2018, welche sich insbesondere auf eine Befragung des Klägers und seines Bevollmächtigten vom 02.08.2018 gestützt habe, ergeben habe, dass der Kläger in den Betrieben, welche in den Zuständigkeitsbereich der Beklagten fallen, einer Gesamtdosis von 9,6 x106 Nh ausgesetzt gewesen sei. Zusammen mit der Beurteilung der BGHW ergebe sich nur eine berufliche Gesamtdosis von 11,3 x 106 Nh. Dies entspreche einem prozentualen Anteil von 45,2 % des Orientierungswertes von 25 x 106 Nh für Männer. Damit sei weiterhin auch der hälftige Orientierungswert von 12,5 x 106 Nh unterschritten. Die vorliegenden beruflichen Einwirkungen seien auch nach erneuter Überprüfung nicht geeignet, eine BK nach Nr. 2108 der Berufskrankheitenliste zu verursachen.


Hiergegen hat der Kläger am 20.12.2018 Klage zum Sozialgericht Stuttgart (SG) erhoben und geltend gemacht, die Einwendungen gegen die ergänzende Stellungnahme des Präventionsdienstes vom 02.08.2018 mit Schriftsatz vom 24.08.2018 seien nicht berücksichtigt und inhaltlich nicht bewertet worden, nachdem aus der Begründung des Widerspruchsbescheides ersichtlich sei, dass lediglich auf die Neuberechnung vom 02.08.2018 abgestellt worden sei, ohne die insoweit bestehenden Bedenken gegen die dortige Berechnung und nach Verständnis des Klägers fehlende Bewertung der Erhöhung der Gesamtdosis in der prozentualen Bewertung des Orientierungswertes berücksichtigt zu haben. Die Erhöhung der Arbeitsplatzexposition für die Beschäftigung bei der H GmbH hätte zu einem Dosiswert von jedenfalls 14,4 x 106 Nh führen müssen, wodurch der heftige Orientierungswert von 12,5 x 106 Nh überschritten sei. Zumindest im Zeitraum bis 2016 sei es bei der Rücknahme der Geräte zu der aus der Einsatzstellung von Röhrengeräten höheren Gewichtsbelastung als Folge des Einsatzes von zu liefernden Ersatzgeräten gekommen, bei denen es sich regelmäßig noch um die deutlich schwereren Röhrengeräte gehandelt habe. Auch insoweit lege die Beklagte weiterhin falsche Gewichtsbelastungen für die Berechnung zu Grunde.

Die Beklagte ist der Klage unter Vorlage einer Stellungnahme zur Arbeitsplatzexposition des D2 vom 25.03.2019 entgegengetreten. Er hat ausgeführt, dass die Beschäftigungszeiträume und Tätigkeiten in den Gesprächen vom 20.09.2017, 23.10.2017 und am 02.08.2018 ermittelt worden seien. Soweit in der Klageschrift von einer „Verdoppelung“ der Belastung gesprochen worden sei, könne sich diese Aussage lediglich auf eine Teiltätigkeit bezogen haben und niemals auf die gesamten Beschäftigungszeiträume und die damit verbundene Gesamtdosis. Diese müsse berechnet werden und könne nicht geschätzt werden. In der Stellungnahme vom 23.10.2017 sei auf Seite 4 der Beschäftigungszeitraum von 2005-2017 bei der H1 besprochen worden. Die darin erfassten Tätigkeiten und Werte seien in der Berechnung vollumfänglich berücksichtigt worden. Der Versicherte sowie Rechtsanwalt K1 hätten diesem Punkt zugestimmt. Ein entsprechender handschriftlicher Vermerk sei vom Unterzeichner in der Ermittlungsakte mit Datum vom 02.08.2018 vorgenommen worden. Die Gewichte in der Berechnung des Beschäftigungsverhältnisses bei der H1 bezögen sich auf die durchschnittlichen Gewichte von Fernsehgeräten. Hierbei sei ebenfalls berücksichtigt worden, dass die Geräte im Laufe der Jahre leichter geworden seien. Die Gewichte für Fernsehgeräte seien im Mittel mit 35 kg und 25 kg angenommen worden. Letzteres setzte sich aus dem Mittelwert von Röhrengeräten und Flachbildschirmen zusammen. Aufgrund der Geometrie von Röhrengeräten i.V.m. deren Gewicht seien Gewichtsangaben über 35 kg aus Sicht des Präventionsdienstes nicht plausibel. Eine exakte Ermittlung der Gewichte sei rückblickend nicht mehr möglich.

Hierauf hat der Kläger nochmals erwidert und ausgeführt, dass die vorgenommene Korrekturberechnung nicht dem entspreche, was im Gespräch vom 02.08.2018 besprochen worden sei. Bezogen auf die Beschäftigung bei der H1 sei insbesondere zu berücksichtigen, dass auch bei der im Verlaufe der Beschäftigungszeit angenommenen geringeren Gewichte der Fernsehgeräte der Austausch immer noch gegen ein Röhrengeräten stattgefunden habe, weshalb die Gewichtsangaben mit über 35 kg auch weiterhin plausibel und nachvollziehbar und in der Berechnung zugrunde zu legen seien. Selbst wenn man nicht von einer Verdoppelung der zu berechnenden Dosis ausgehen wolle, würde sich bei einer Verdopplung der Hebe- und Tragevorgänge und der hierbei zu bewegenden Gewichte jedenfalls eine deutliche Erhöhung der zu berechnenden Dosiswerte ergeben, die insoweit in der seitherigen Berechnung nicht abgebildet seien. Aus diesem Grund bestehe auch weiterhin mit der vorgenommenen Korrekturberechnung kein Einverständnis, die diesbezüglichen Werte seien nicht zutreffend. Ferner sei zu berücksichtigen, dass der Kläger ausweislich der Verwaltungsakten in der Zeit von April 1981 bis Februar 1984 bei der B GmbH beschäftigt gewesen sei und dort nach seiner Erinnerung bis zu 40 Waschmaschinen mit einem Gewicht von 80-90 kg arbeitstäglich zu zweit zu bearbeiten gehabt habe. Auch diesbezügliche Belastungszeiten seien bei der seitherigen Berechnung nicht berücksichtigt worden.

Die Beklagte hat hierauf eine weitere Stellungnahme zur Arbeitsplatzexposition des Präventionsdienstes vom 23.09.2019 vorgelegt, der unter Berücksichtigung der Beschäftigung bei der B GmbH mit einer Teildosis von 1 x
106 Nh und der Beschäftigung bei der H GmbH von 9,6 x 106 Nh sowie unter Berücksichtigung der Tätigkeiten bei der Firma F-M (0,4 106 Nh) und der Firma D (0,1 x 106 Nh) von einer Gesamtdosis für die Zeit vom 01.08.1976 bis 31.10.2016 von 11,1 x 106 Nh ausgegangen war. Die Beklagte hat hierzu ausgeführt, dass somit von einer Gesamtdosis von 12,8 x 106 Nh auszugehen sei. Der Wert entspreche einem prozentualen Anteil von 51 % des Orientierungswertes von 25 x 106 Nh für Männer, weshalb nach der Rechtsprechung des BSG in solchen Fällen eine Einzelfall-Bewertung mit medizinischer Begutachtung zur kritischen Prüfung des Kausalzusammenhangs zu erfolgen habe. Für die Berechnung der Belastungsdosis sei als Beginn der Wirbelsäulenerkrankung der Oktober 2016, der vom Kläger in seinem Schreiben vom 17.03.2017 genannt worden sei, festgelegt worden. Im Verfahren habe der Kläger jedoch angegeben, seit 15 Jahren, also seit ca. 2002 unter Wirbelsäulenbeschwerden zu leiden. Im Vorerkrankungsverzeichnis der IKK classic würden Arbeitsunfähigkeitszeiten wegen Lumboischialgie bereits im Januar 2014 und im November 2015 bescheinigt. Ob frühere ambulante Behandlungen, die keine Arbeitsunfähigkeit bedingten, durchgeführt worden seien, gehe aus dem Vorerkrankungsverzeichnis nicht hervor, müsse aber aufgrund der Angaben des Klägers angenommen werden. Unter Berücksichtigung dieser Datenlage müsse der vom Kläger angegebene Behandlungsbeginn von Oktober 2016 vorverlegt werden, mit der Folge, dass auch für die Berechnung der Belastung am Arbeitsplatz das Enddatum von Oktober 2016 auf zumindest Januar 2014, eventuell auch schon auf 2002, vorverlegt werden müsse. Hieraus errechne sich eine Belastung bei der Firma H GmbH von 8,6 x 106 Nh und insgesamt eine Belastung - einschließlich der Einwirkungen aus der Tätigkeit bei der K AG- von insgesamt 11,8 x 106 Nh. Der hälftige Orientierungswert würde damit wiederum nicht erreicht. Ferner hat die Beklagte eine fachärztlich-chirurgische Stellungnahme ihres Beratungsfacharztes H3 vom 04.10.2019 (gleichlautende und unterschriebene Fassung in den Akten der Beklagten) vorgelegt. Dort wird ausgeführt, dass beim Kläger nach dessen Angaben bereits seit 2002 Rückenbeschwerden bestünden. Die klinische und röntgenologische Untersuchung, ergänzt durch eine MRT-Untersuchung, bestätigten ein multisegmentales degeneratives Leiden der Bandscheiben der Lendenwirbelsäule. Die eingesehenen Röntgen- und MRT-Aufnahmen bestätigten dieses Bild der Bandscheibendegeneration der Lendenwirbelsäule, insbesondere im lumbosakralen Übergangsbereich. Die Ausmessung der normierten relativen Bandscheibenhöhe bestätigten lediglich eine zweitgradige Chondrose im Segment L5/S1 in den Röntgenaufnahmen, ebenfalls eine grenzwertig zweitgradige Chondrose im Segment L4/5. Dieses stelle die einzigen befundmäßigen Hinweise auf ein Bandscheibenleiden der gesamten Lendenwirbelsäule dar. Der Ausprägungsgrad der in den Bildgebungen (Röntgen und MRT) abgebildeten Bandscheibenräume entspreche dem Alter des Klägers, ein dem Alter untypischer Befund sei in allen einsehbaren Aufnahmen nicht gegeben. Im vorliegenden Fall sei auch ein belastungsadaptierter Krankheitsverlauf nicht gegeben. Die so genannten Positivbefunde in der Bildgebung im Sinne einer BK 2108 lägen nicht vor: Keine zweitgradige Spondylose (Begleitspondylose), keine zweitgradigen Osteochondrosen in nicht betroffenen Segmenten und keine Black Disk in den nicht höhengeminderten Bandscheibenräumen. Somit fehlten wesentliche Befunde im Sinne der BK 2108.

Hierauf hat der Kläger mit Schriftsatz vom 24.01.2020 erwidert und daran festgehalten, dass jedenfalls eine den Orientierungswert mit mehr als 50 % überschreitende Gesamtdosis vorgelegen habe. Ferner hat er bestritten, dass die medizinischen Voraussetzungen für die BK nach Nr. 2108 nicht erfüllt seien.

Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 18.05.2020 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Beklagte habe bei ihrer Entscheidung zutreffend darauf abgestellt, dass der hälftige Grenzwert als Gesamtbelastungsdosis für die Wirbelsäule belastenden Tätigkeiten des Klägers zwischen 1976 und dem zuletzt richtigerweise angenommenen Beginn der Erkrankung im Januar 2014, was sich aus dem Vorerkrankungsverzeichnis der IKK classic ergebe, mit insgesamt 11,8 x
106 Nh nicht erreicht werde. Bei diesem Wert habe die Beklagte in ihren verschiedenen Berechnungen stets zu Gunsten des Klägers die von diesem für seine Arbeitgeberfirmen angegebenen Belastungen zugrunde gelegt. Darüber hinaus habe die Beklagte, auch weil der hälftige Grenzwert relativ knapp nicht erreicht worden sei, auch zu den medizinischen Voraussetzungen der streitigen BK eine beratungsärztliche Stellungnahme eingeholt. Aufgrund der Aktenlage habe der Beratungsarzt unter Berücksichtigung der fachärztlichen Befunde sowie der MRT-Untersuchungsergebnisse einen belastungsadaptiven Krankheitsverlauf, selbst bei Berücksichtigung einer Gesamtbelastungsdosis von 12,8 x 106 Nh, ausdrücklich verneint. Die Kammer halte diese Darlegungen und Auswertungen der vorhandenen ärztlichen Befunde und Dokumentationen für schlüssig und überzeugend und schließe sich ihnen nach eigener Prüfung an. Damit stehe für die Kammer fest, dass hier weder die arbeitstechnischen noch die medizinischen Voraussetzungen für die streitige BK der Lendenwirbelsäule gegeben seien.

Gegen den ihm am 03.06.2020 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 03.07.2020 Berufung eingelegt. Er hat die Auffassung vertreten, dass die Berechnung durch die Beklagte nicht zutreffend vorgenommen worden sei, weil dort weiterhin von einer Unterschreitung des hälftigen Grenzwertes für Männer ausgegangen werde, während tatsächlich die wirbelsäulenbelastende Tätigkeit zwischen 1976 und 2017 zu einer Belastung geführt habe, die oberhalb des hälftigen Beurteilungswertes für Männer gelegen habe. Das SG habe im Übrigen rechtsfehlerhaft bei der diesbezüglichen Berechnung auf den Beginn der Erkrankung des Klägers im Jahre 2014 abgestellt, obwohl der Kläger unstreitig noch bis Februar 2017 beruflich tätig gewesen sei und erst nach der dortigen MRT-Untersuchung arbeitsunfähig erkrankt gewesen sei, so dass selbstverständlich für die Berechnung der Gesamtbelastung auch der Zeitraum 2014-2017 in die Berechnung miteinzubeziehen und zu berücksichtigen sei. Schon hieraus würde sich ergeben, dass entgegen der Auffassung der Beklagten und des SG die Gesamtbelastungsdosis nicht bei 11,8 x 106 Nh gelegen habe, sondern deutlich über 12,5 x 106 Nh. Der Bericht des H3 reiche nicht aus, eine sachgerechte Bewertung für die Frage des Vorliegens der medizinischen Voraussetzung der streitigen BK vornehmen zu können. Es wäre jedenfalls die Durchführung einer aktuellen gutachterlichen Untersuchung durch einen fachorthopädischen Sachverständigen geboten und erforderlich gewesen, welcher zu der zutreffenden Feststellung gelangt wäre, dass entgegen der Auffassung des SG und der Beklagten sehr wohl auch die medizinischen Voraussetzungen für die Anerkennung der Erkrankung der Lendenwirbelsäule als BK vorgelegen hätten.
 

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 18. Mai 2020 sowie den Bescheid der Beklagten vom 4. Dezember 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. November 2018 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, eine Berufskrankheit nach Nr. 2108 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung in Form einer bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule festzustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hat daran festgehalten, dass unter Berücksichtigung der Datenlage und des vom Kläger angegebenen Behandlungsbeginns im Oktober 2016 auch die Berechnung der Belastung am Arbeitsplatz das Enddatum von Oktober 2016 auf zumindest Januar 2014 hätte vorverlegt werden müssen. Hieraus errechne sich dann eine Belastung bei der H GmbH von 8,6 x
106 Nh und insgesamt eine Belastung von 11,8 x 106 Nh. Unabhängig von den fehlenden arbeitstechnischen Voraussetzungen seien jedoch auch die medizinischen Voraussetzungen nicht erfüllt.

Hierauf hat der Kläger mit Schriftsatz vom 14.09.2020 nochmals erwidert.

Der Senat hat Beweis erhoben durch das Einholen eines Sachverständigengutachtens bei C, H4. Dieser hat in seinem Gutachten vom 30.04.2021 vorangeschrittene degenerative Veränderungen der unteren Halswirbelsäule zwischen dem 3. bis 7. Halswirbelkörper mit eingeschränkter Beweglichkeit und Belastbarkeit, aktuell ohne Nervenwurzelreizerscheinungen, eine geringe rechtskonvexe Seitauslenkung der Brustwirbelsäule ohne erkennbare funktionelle Einschränkungen sowie vorangeschrittene degenerative Veränderungen der unteren Lendenwirbelsäule, insbesondere L4/L5 und L5/S1, mit Bewegungseinschränkung, Belastungsminderung und Hinweisen auf eine sensible und motorische Nervenwurzelreizung L5 links festgestellt. Röntgenologisch zeige sich eine bandscheibenbedingte Erkrankung in den Segmenten L4/L5 und L5/S1 in Form einer Chondrose Grad III. Kernspintomographisch sei darüber hinaus im Segment L3/L4 am 02.03.2017 ein rechtsseitig hochgeschlagener Bandscheibenvorfall erkennbar. Klinisch äußere sich diese bandscheibenbedingte Erkrankung in Form einer Belastungsminderung, Bewegungseinschränkung und einer linksseitigen sensiblen und motorischen Nervenwurzelreizung. Der Stellungnahme des H3 vom 04.10.2019 stimme er nicht zu. Weder liege eine monosegmentale Chondrose vor noch eine zweitgradige Chondrose noch ein Bandscheibenvorfall mit einer Ausdehnung von weniger als 5 mm.
Weil die untersten beiden Bewegungssegmente betroffen seien, könne man prinzipiell auch ein belastungskonformes Schadensbild annehmen. Es bestünden jedoch erhebliche Zweifel daran, dass eine plausible zeitliche Korrelation zur Entwicklung der bandscheibenbedingten Erkrankung bestehe. So sei durch den Kläger 2017 angegeben worden, Beschwerden im Bereich der mittleren Brustwirbelsäule und der unteren Lendenwirbelsäule etwa seit 15 Jahren gehabt zu haben; dies wäre etwa 2002. Die ersten Röntgenaufnahmen der Lendenwirbelsäule datierten vom 08.07.2012, sie zeigten zum damaligen Zeitpunkt eine Chondrose Grad II in L4/L5 und eine Chondrose Grad III in L5/S1. Weil nach klinischer Erfahrung davon auszugehen sei, dass sich eine solche Chondrose erst im Verlauf mehrerer Jahre entwickle, sei die Argumentation der Beklagten, dass keine plausible zeitliche Korrelation zwischen der beruflichen Belastung und der Entwicklung der bandscheibenbedingten Erkrankung bestehe, nicht von der Hand zu weisen. Zusammenfassend sei er der Auffassung, dass zwar bei dem Kläger eine gesicherte bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule vorliege, dass jedoch beim erstmaligen Auftreten hieraus resultierender Beschwerden die Exposition nicht ausreichend gewesen sei und insofern keine plausible Korrelation zur Entwicklung der bandscheibenbedingten Erkrankung festzustellen sei. Es liege seiner Auffassung nach eine Konstellation A2 im Sinne der Konsensempfehlungen vor, bei der die Anerkennung einer BK nach Nr. 2108 der BKV abzulehnen sei. Ergänzend weise er darauf hin, dass bei dem Kläger bandscheibenbedingte Veränderungen im Bereich der Halswirbelsäule vorliegen, die zumindest unter röntgenologischen Gesichtspunkten deutlich stärker ausgeprägt seien als diejenigen im Bereich der Lendenwirbelsäule. Diesbezüglich werde vom Kläger angegeben, dass jenseits des 30. Lebensjahres auch Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule aufgetreten seien. Wenn sich aber solche Befunde einer bandscheibenbedingten Erkrankung auch in Wirbelsäulenabschnitten fänden, die keiner beruflichen Belastung ausgesetzt waren, dann spreche dies insgesamt nicht für eine Verursachung durch berufliche Belastung, sondern für eine Entstehung aus innerer Ursache heraus. Ferner sei darauf hinzuweisen, dass der Kläger im Jahre 2002 42 Jahre alt gewesen sei. Da das Gros der bandscheibenbedingten Veränderungen im Bereich der Lendenwirbelsäule auch in einer beruflich nicht exponierten Normalpopulation auftrete, sei insofern eine vorauseilende Entwicklung nicht zu konstatieren. Es spreche aus seiner Sicht daher mehr dagegen als dafür, dass die Veränderungen im Bereich der Lendenwirbelsäule des Klägers durch berufliche Belastung verursacht worden seien.

Hierauf hat der Kläger unter dem 23.08.2021 nochmals Stellung genommen und daran festgehalten, dass die Wirbelsäulenschädigung ausschließlich auf die berufsbedingte Exposition zurückzuführen sei. Die bloße Benennung von ab und an aufgetretenen Beschwerden im Bereich der Wirbelsäule lasse keine Rückschlüsse darauf zu, dass zu diesem Zeitpunkt bereits eine gesicherte bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule vorgelegen habe. Er hat den Operationsbericht der R-M-K S vom 28.07.2021 vorgelegt, wo im Rahmen eines stationären Aufenthaltes wegen der Spinalkanalstenose lumbal am 14.07.2021 eine dorsale Dekompressionsspondylodese L3-S1 und dorsolaterale Spondylodese mehrsegmental mit Re-Dekompression und Laminektomie von LWK 4 am 19.07.2021 durchgeführt wurde.

Die Beklagte hält das Gutachten für richtig und weist darauf hin, dass selbst dann, wenn man erst den Juli 2012 als Erkrankungsbeginn heranziehe, man auf eine deutlich geringere Expositionshöhe komme, welche nicht nur geringfügig unter dem hälftigen Orientierungswert von 12,5 x 106 Nh liege.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie auf die beigezogenen Akten der Beklagten verwiesen.


Entscheidungsgründe

Die fristgerecht erhobene und auch ansonsten zulässige Berufung (§§ 141, 142, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG) ist unbegründet.

Das SG hat die Klage gegen die verfahrensgegenständlichen Bescheide der Beklagten, die der Kläger zulässigerweise mit der Anfechtungs- und Verpflichtungsklage angegriffen hat, zu Recht abgewiesen. Die Bescheide sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die begehrte Anerkennung einer BK 2108.

Rechtsgrundlage für die Anerkennung der begehrten BK ist § 9 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) i.V.m. Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKV. BKen sind gem. § 9 Abs. 1 SGB VII nur diejenigen Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als BKen bezeichnet (Listen-BK) und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Nach § 9 Abs.1 Satz 1 SGB VII sind von dem Verordnungsgeber in der BKV solche Krankheiten als Berufskrankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind. In der Anlage 1 zur BKV in der Fassung vom 12. Juni 2020 ist unter Nr. 2108 die Berufskrankheit wie folgt gefasst worden: Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zu chronischen oder chronisch-rezidivierenden Beschwerden und Funktionseinschränkungen (der LWS) geführt haben.

Die Anerkennung setzt demnach voraus, dass der Versicherte auf Grund von Verrichtungen bei einer versicherten Tätigkeit langjährig schwer gehoben und getragen bzw. in extremer Rumpfbeugehaltung gearbeitet hat und hierdurch eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule entstanden ist und noch besteht. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist ein Ursachenzusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und den Verrichtungen (sachlicher Zusammenhang), diesen Verrichtungen und den schädigenden Einwirkungen (Einwirkungskausalität) und den Einwirkungen und der Erkrankung (haftungsbegründende Kausalität) erforderlich. Dass die berufsbedingte Erkrankung ggf. den Leistungsfall auslösende Folgen nach sich zieht (haftungsausfüllende Kausalität), ist hingegen keine Voraussetzung für die Anerkennung der BK, sondern lediglich für einen etwaigen, auf dieser BK beruhenden Leistungsanspruch (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 04.07.2013 - B 2 U 11/12 R -, juris).

In beweisrechtlicher Hinsicht müssen die Tatbestandsmerkmale „versicherte Tätigkeit", „Verrichtung“, „Einwirkungen“ und „Krankheit“ im Sinne des Vollbeweises, also mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit, vorliegen. Hingegen genügt für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge die hinreichende Wahrscheinlichkeit, nicht allerdings die bloße Möglichkeit (vgl. BSG, Urteil vom 23.04.2015 - B 2 U 06/13 R -, juris m.w.N.). Um eine hinreichende Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges zu bejahen, muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden und nach der geltenden ärztlichen wissenschaftlichen Lehrmeinung deutlich mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (vgl. Urteil vom 09.05.2006 - B 2 U 1/05 R -, juris m.w.N.).

Die Beurteilung des Ursachenzusammenhangs zwischen beruflichen Belastungen und Bandscheibenerkrankung hat auf der Grundlage des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zu erfolgen; daher sind neben der Begründung des Verordnungsgebers auch die Merkblätter des zuständigen Bundesministeriums, die wissenschaftliche Begründung des ärztlichen Sachverständigenbeirates sowie die sogenannten Konsensempfehlungen zur Zusammenhangsbegutachtung der auf Anregung des Hauptverbandes der Berufsgenossenschaften (HVBG) eingerichteten interdisziplinären Arbeitsgruppe („Medizinische Beurteilungskriterien zu bandscheibenbedingten Berufskrankheiten der Lendenwirbelsäule“, Bolm-Audorff, et al., Trauma und Berufskrankheit 2005, S. 211 ff.) zu beachten. In seinen Urteilen vom 23.04.2015 hat das BSG bestätigt, dass diese Konsensempfehlungen weiterhin den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand abbilden (vgl. hierzu ausführlich, auch zu den zwischenzeitlich erfolgten Meinungsäußerungen in der medizinischen Wissenschaft, etwa zur Deutschen Wirbelsäulenstudie, BSG, Urteile vom 23.04.2015 - B 2 U 06/13 R -, - B 2 U 10/14 R - und - B 2 U 20/14 R -, vgl. auch Urteil vom 06.09.2018 - B 2 U 13/17 R -, alle juris).

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze liegen die Voraussetzungen für die Anerkennung einer BK 2108 nicht vor. 

Der Kläger war ab 01.08.1976 und bis Februar 2017, dem Eintritt von Arbeitsunfähigkeit, im Rahmen seiner abhängigen Beschäftigung als Radio- und Fernsehtechniker gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII versichert und hat dabei nach den Feststellungen des Präventionsdienstes der Beklagten (vgl. zuletzt die Feststellungen vom 25.03.2019 und 23.09.2019 sowie die Dosisberechnung vom 06.08.2019, Bl. 47ff., 75 ff. und 72ff. der SG-Akten) Tätigkeiten ausgeführt, die mit typischen Hebe- und Tragebelastungen verbunden waren.

Zur Bestimmung der für eine Krankheitsverursachung erforderlichen Belastungsdosis zieht der Senat in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BSG das Mainz-Dortmunder-Dosismodell (MDD) heran, welches seit 2003 (vgl. BSG, Urteil vom 18.03.2003 - B 2 U 13/02 R - und Urteile vom 23.04.2015, a.a.O.) eine geeignete Grundlage zur Konkretisierung der im Text der BK 2108 mit den unbestimmten Rechtsbegriffen „langjähriges“ Heben und Tragen „schwerer Lasten“ oder „langjährige“ Tätigkeit in „extremer Rumpfbeugehaltung“ nur ungenau und allenfalls nur richtungsweisend umschriebenen Einwirkungen ist. Die aufgrund einer retrospektiven Belastungsermittlung für risikobehaftete Tätigkeitsfelder ermittelten Werte, insbesondere die Richtwerte für die Gesamtbelastungsdosis des MDD, sind nicht als Grenzwerte, sondern als Orientierungswerte oder -vorschläge zu verstehen (BSG, Urteil vom 18.11.2008 - B 2 U 14/07 R -, juris). Für Männer legt das MDD als Gesamtbelastungsdosis den Wert von 25 x 106 Nh fest. Das MDD bedarf jedoch im Hinblick auf die an seinen wissenschaftlichen Grundlagen und seinem Berechnungsmodus geäußerte Kritik der weiteren Überprüfung. Neuere wissenschaftliche Erkenntnisse deuten nämlich darauf hin, dass auch unterhalb der Orientierungswerte nach dem MDD liegende Werte ein erhöhtes Risiko für Bandscheibenerkrankungen auslösen können. Auf eine Mindesttagesdosis ist daher entsprechend dem Ergebnis der Deutschen Wirbelsäulenstudie zu verzichten. Der untere Grenzwert, bei dessen Unterschreitung nach gegenwärtigem Wissensstand ein Kausalzusammenhang zwischen beruflichen Einwirkungen und bandscheibenbedingter Erkrankung der Lendenwirbelsäule ausgeschlossen und deshalb auf einzelfallbezogene medizinische Ermittlungen verzichtet werden kann, ist auf die Hälfte des im MDD vorgeschlagenen Orientierungswertes die Gesamtbelastungsdosis von 25 x 106 Nh bei Männern herabzusetzen (vgl. BSG, Urteil vom 23.04.2015 - B 2 U 10/14 R -, juris, Rn. 14).

Ausgehend hiervon stellt der Senat zunächst fest, dass er in Übereinstimmung mit C davon ausgeht, dass der hälftige Orientierungswert im Jahr 2015 erreicht worden ist. Da auf die einzelnen Jahre bezogen zeitlich unterschiedlich hohe Belastungen während der Beschäftigung bei der Fa. H1 ab 01.03.1984 nicht ersichtlich sind und im Berechnungszeitraum bis 31.10.2016 9,6 x 106 Nh errechnet wurden, ist davon auszugehen, dass auf der Grundlage von 32 Jahren und 8 Monaten wirbelsäulenbelastender Tätigkeiten in einer Dosis von 0,3 x 106 Nh (9,6 : 392 Monate x 12) pro Jahr zu berücksichtigen waren. Der Orientierungswert von 12,5 x 106 Nh wäre damit – ausgehend von der festgestellten Gesamtbelastungsdosis von 12,8 x 106 Nh (Stellung des Präventionsdienstes vom 23.09.2019) – im Oktober 2015 erreicht worden. Unter Berücksichtigung dessen ist auch nicht zweifelhaft, dass eine wirbelsäulenbelastende Tätigkeit regelmäßig und vor allem „langjährig“ ausgeübt wurde. Der Senat folgt im Übrigen der Berechnung des Präventionsdienstes und hat keinen Zweifel, dass diese den tatsächlichen Belastungen des Klägers gerecht wird. So ist darauf hinzuweisen, dass die vom Kläger im Verfahren geltend gemachten Belastungen stets zu dessen Gunsten berücksichtigt wurden. Die vorgelegte Berechnung vom 06.08.2019 (zur Stellungnahme von D2 vom 23.09.2019) beruhte auf Besprechungen des Klägers am 20.09.2017, 23.10.2017 und 02.08.2018 mit dem Präventionsdienst der Beklagten, zuletzt auch in Anwesenheit des Bevollmächtigten, wobei etwa Tragevorgänge von Fernsehern von 18 auf 20 pro Woche und Hebevorgänge für Fernseher um 104 pro Woche ergänzt wurden. Soweit der Kläger behauptet, der Präventionsdienst habe nach dem letzten Gespräch von einer Verdopplung der Belastungsdosis gesprochen, vermag dies angesichts der nachvollziehbaren Einlassungen des D2, dass sich dies allenfalls auf die Erhöhung einzelner Hebe- und Tragevorgänge bezogen haben könne, niemals aber im Sinne einer Verdopplung der erst zu berechnenden Dosis, nicht zu überzeugen. Angesichts der im Bericht des Präventionsdienstes in Abhängigkeit vom jeweiligen Beschäftigungsabschnitt plausibel aufgeschlüsselten Tätigkeiten vermag die pauschale Behauptung, öfter und schwerer getragen zu haben, ohne nachvollziehbare Erläuterung zu dem Grund einer späteren Änderung des gemachten Vortrages und ohne Beweisangebot nicht zu überzeugen.

Der Senat geht ferner davon aus, dass beim Kläger eine chronische oder chronisch-rezidivierende bandscheibenbedingte Erkrankung der Wirbelsäule vorliegt. Eine solche setzt neben einem objektivierten Bandscheibenschaden auch ein korrespondierendes klinisches Beschwerdebild mit Funktionseinschränkungen voraus. Mit C sieht der Senat eine bandscheibenbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule in den Segmenten L4/5 und L5/S1 mit vorangeschrittenen degenerativen Veränderungen der unteren Lendenwirbelsäule, insbesondere L4/L5 und L5/S1 (u.a. massive Verschmälerung des Bandscheibenfaches L4/5 und weitgehender Aufbruch des Bandscheibenfaches L5/S1 mit degenerativen Veränderungen der Wirbelbogengelenke), mit Bewegungseinschränkung, Belastungsminderung und Hinweisen auf eine sensible und motorische Nervenwurzelreizung L5 links als nachgewiesen an. Dies steht in Übereinstimmung mit den Befunden der S-Klinik und der R-M-Kliniken vom 16.03.2017 („…segmentale Instabilität bei Osteochondrose L4/L5 mit Spinalkanalstenose und Neuroforaminalstenosen, Wurzelirritation des Wurzelabganges der L5-Wurzel links“). Nach seiner Untersuchung und unter Berücksichtigung des beigezogenen bildgebenden Befundes (Röntgen, CT und MRT aus 2017 und 2019) sowie der von ihm angefertigten Röntgenbilder während der gutachterlichen Untersuchung bestand zuletzt neben einer Chondrose Grad I im Segment L1/2 eine Chondrose Grad III im Bereich L4/5 und L5/S1 mit Einschränkung der Beweglichkeit hinsichtlich der Seitneigung und Seitdrehung. Klinisch äußert sich diese insbesondere durch eine Schmerzangabe an der Rückseite des linken Oberschenkels bei Rückneigung, ferner in einer herabgesetzten Gefühlsempfindlichkeit an der Außenseite des linken Beines sowie einer angedeuteten Großzehenheberschwäche links, die dem Versorgungsgebiet des 5. Lendennerven zugeordnet werden können. Insgesamt besteht daher kein Zweifel, dass der erhobene klinische Befund mit den erhobenen röntgenologischen Befunden übereinstimmt (vgl. Gutachten von C Seite 17).

Auch wenn deswegen zunächst von einer dem Versicherungsschutz unterliegenden Erkrankung und einer geeigneten Einwirkung auszugehen ist, kommt eine Anerkennung der BK 2108 nicht in Betracht, weil sich die haftungsbegründende Kausalität, also eine Verursachung der Erkrankung durch die beruflichen Einwirkungen, nicht hinreichend wahrscheinlich machen lässt. Denn auch bei Annahme erfüllter Tatbestandsvoraussetzungen „schädigende Einwirkung“ und „Erkrankungsbild“ ergibt sich nicht ohne Weiteres die Wertung einer hinreichend wahrscheinlichen Verursachung. Aus dem Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen kann angesichts der multifaktoriellen Entstehung von bandscheibenbedingten Erkrankungen der Lendenwirbelsäule nicht automatisch auf das Bestehen der Anspruchsvoraussetzungen der BK 2108 geschlossen werden; vielmehr müssen medizinische Kriterien hinzukommen (st. Rspr. des BSG, vgl. Urteile vom 23.04.2015, a.a.O. und m.w.N.). So kommt vorliegend unter Berücksichtigung des nach dem Gutachten von C festgestellten Befundes eine nach den Konsensempfehlungen mit dem Buchstaben „B“ beginnende Konstellation (Lokalisation: Die bandscheibenbedingte Erkrankung betrifft L5/S1 und/oder L4/L5, Ausprägung des Bandscheibenschadens: Chondrose Grad II oder höher und/oder Vorfall) in Betracht, da hier eine gesicherte bandscheibenbedingte Erkrankung vorliegt, die beiden unteren Lendenwirbelsäule-Segmente betroffen sind (was Konstellation C ausschließt) und weil nicht nur lediglich ein Ausprägungsgrad in Form einer Protrusion (Konstellation D) bzw. Chondrose Grad I (Konstellation E) vorliegt.

Die mit dem Buchstaben B beginnenden Konstellationen sind aber vorliegend schon deshalb nicht einschlägig, weil diese neben einer bandscheibenbedingten Erkrankung in einem altersuntypischen Ausmaß und dem Nachweis einer ausreichenden beruflichen Belastung zusätzlich voraussetzen, dass die bandscheibenbedingte Erkrankung und die ausreichende berufliche Belastung eine plausible zeitliche Korrelation aufweisen. Der Erkrankung muss daher insbesondere eine ausreichende Exposition vorausgehen.

Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt, was der Senat dem Gutachten von C entnimmt. Denn die einen Bandscheibenschaden (u.a.) kennzeichnende Höhenminderung (vgl. 1.3 der Konsensempfehlungen) ist bereits vor Erreichen des Orientierungswertes von 12,5 x 106 Nh in einem altersuntypischen Ausmaß erreicht gewesen. So hat C unter Auswertung der Röntgenbilder der Lendenwirbelsäule vom 08.07.2012 bereits eine Chondrose Grad II für das Bandscheibenfach L 4/5 und eine Chondrose Grad III für das Bandscheibenfach L5/S1 festgestellt, die damit schon 2012 über das alterstypische Ausmaß hinausging (vgl. hierzu Konsensempfehlungen unter 1.2A) und einen Bandscheibenschaden in einem Ausprägungsgrad, der nach der Konstellation B vorausgesetzt wird, nämlich mindestens Grad II oder höher (und/oder Vorfall), erfüllte. Die Beurteilung des Röntgenbildes vom 08.07.2012 bestätigt zudem neben der erheblichen Verschmälerung des Bandscheibenfaches L5/S1 auch degenerative Veränderungen in der Form von nach vorne weisenden knöchernen Randwülsten (Spondylose) an den zugehörigen Grund- und Deckplatten sowie linksbetonte degenerative Veränderungen der Wirbelbogengelenke L5/S1. Diese Veränderungen haben auch bereits zu Beschwerden geführt und – etwa im Januar 2014 und im November 2015 (wenn auch nur für jeweils kurze Zeit) – zu Arbeitsunfähigkeitszeiten. Ferner hat der Kläger bei der Untersuchung durch C angegeben, seit dem Beginn seines Arbeitslebens immer wieder Beschwerden im Bereich der Lendenwirbelsäule gehabt zu haben, welche auch entsprechend in Kuren behandelt worden waren, die er wegen des Asthmas angetreten hat. Damit ist neben einem im Oktober 2016 erst und nur knapp erfüllten Orientierungswert (12,8 x 106 Nh) in die Kausalitätsbeurteilung einzustellen, dass bereits deutlich vor Erreichen dieses Orientierungswertes erhebliche Veränderungen an den unteren beiden Bandscheibenfächern bestanden haben, die zur Begründung von – anerkennungsfähigen – Konstellationen nach Buchstabe B der Konsensempfehlungen ausgereicht hätten.

Mit C spricht gegen die Anerkennung der BK 2108 unter Berücksichtigung des im Oktober 2016 nur geringfügig überschrittenen Orientierungswertes zudem auch, dass bandscheibenbedingte Veränderungen an der beruflich nicht belasteten Halswirbelsäule vorliegen, die nach Auswertung der bildgebenden Befunde durch C unter röntgenologischen Gesichtspunkten deutlich stärker ausgeprägt sind als diejenigen im Bereich der Lendenwirbelsäule. Seine Schlussfolgerung, dass der Umstand einer erheblichen bandscheibenbedingten Erkrankung in Wirbelsäulenabschnitten, die keiner beruflichen Belastung ausgesetzt gewesen sind, gegen eine berufliche Verursachung im Bereich der Lendenwirbelsäule spricht, sondern für eine Entstehung aus innerer Ursache heraus, wird durch die vorliegenden Konsensempfehlungen bestätigt. Denn selbst für nach den Konstellationen B1 und B2 anerkennungsfähige Erkrankungsbilder wird das Argument einer Schädigung der beruflich nicht betroffenen Halswirbelsäule, die stärker ausgeprägt ist als an der Lendenwirbelsäule und mit einer klinischen Symptomatik einhergeht, als Argument gegen eine berufliche Verursachung einer bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule gewertet (Konstellation B5 bzw. B7). Nachdem der Kläger gegenüber C auch bestätigt hat, dass „jenseits des 30. Lebensjahres“ auch Beschwerden im Bereich der
Halswirbelsäule aufgetreten sind, kommt es letztlich nicht darauf an, dass für einen wahrscheinlich ursächlichen Zusammenhang bei einem Bandscheibenschaden an Halswirbelsäule ohne klinische Symptomatik und auch bei einer Feststellung von nur schwächer ausgeprägten Veränderungen an der Halswirbelsäule im Vergleich zur Lendenwirbelsäule kein Konsens bestand.

Die Berufung war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt das Unterliegen des Klägers auch in der Berufungsinstanz.

Gründe, die Revision zuzulassen, liegen nicht vor.

Rechtskraft
Aus
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