L 14 KR 89/23 B

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
14
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 143 KR 1771/22
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 14 KR 89/23 B
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

1. Eine Verweisung des Rechtsstreits ist nur dann geboten und zulässig, wenn der beschrittene Rechtsweg schlechthin, d.h. für den Klageanspruch mit allen in Betracht kommenden Klagegründen, nicht eröffnet ist.

2. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist auch von dem Ausspruch einer teilweisen Unzulässigkeit des Rechtsweges und einer teilweisen Verweisung des Rechtsstreits an die für Amtshaftungsansprüche zuständigen ordentlichen Gerichte abzusehen, wenn daneben auch ein sozialrechtlicher Anspruch geltend gemacht wird.

3. Im Beschwerdeverfahren sind alle bis zur letzten Tatsachenverhandlung eintretenden Umstände, welche die zunächst bestehende Unzulässigkeit des Rechtswegs beseitigen, zu berücksichtigen.

 

Auf die Beschwerde des Klägers wird der Verweisungsbeschluss des Sozialgerichts Berlin vom 6. Februar 2023 aufgehoben. Für das Verfahren ist der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit gegeben.

 

Kosten des Beschwerdeverfahrens haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

 

Gründe

I.

 

Der Kläger und Beschwerdeführer (nachfolgend nur Kläger) wendet sich gegen eine Verweisung seines Klageverfahrens an das Landgericht Berlin.

 

Der Kläger kaufte sich am 17. November 2021 und am 23. November 2021 jeweils gegen Vorlage eines Privatrezepts in der Apotheke das potenzsteigernde Arzneimittel Caverject. Er bezahlte hierfür 42,65 € bzw. 168,85 €. Mit Bescheid vom 29. November 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Juli 2022 lehnte die Beklagte und Beschwerdegegnerin (nachfolgend nur Beklagte) seinen nachfolgenden Antrag auf Erstattung dieser Kosten mit der Begründung ab, dass Caverject als sog. Lifestyle-Arzneimittel gemäß § 34 Abs. 1 Satz 7 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) von der Leistungspflicht der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ausgeschlossen sei und der Kläger den Beschaffungsweg nicht eingehalten habe. Nachdem der Widerspruchsbescheid von der Post an die Beklagte zurückgeschickt worden war mit dem Hinweis, dass der Empfänger unter der angegebenen Anschrift nicht zu ermitteln sei, wurde er am 4. Oktober 2022 per Einwurf-Einschreiben erneut an den Kläger übersandt und dem Kläger nach dessen Angaben am 8. Oktober 2022 zugestellt.

 

Mit seiner am 31. Oktober 2022 beim Sozialgericht Berlin eingegangenen Klage hat der Kläger zunächst wörtlich beantragt, „die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger aus vorsätzlich begangener, unerlaubter Handlung 1.000,-- € nebst Zinsen in Höhe von 5 % über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen“. Er hat ausgeführt, die Beklagte verletze sein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung im Sinne des § 253 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Somit sei die Anspruchsvoraussetzung gegeben, die das Gesetz vorsehe, um immaterielle Schäden zu ersetzen. In Verbindung mit dem Generalschadenersatzparagraf § 823 BGB habe die Beklagte schuldhaft seine psychische Gesundheit verletzt. Ursprünglich, also bis zu dem streitgegenständlichen Schreiben der Beklagten vom 4. Oktober 2022, sei es lediglich um die Kosten des Medikaments Caverject gegangen. Durch die besonders verletzende, erniedrigende Art und Weise der Ablehnungsbegründung der Beklagten, in der diese ihn verleumdet habe, indem sie behaupte, er habe gar keine Krankheit der erektilen Dysfunktion, sondern wolle seine Potenz lediglich noch weiter steigern, verletze die Beklagten vorsätzlich seine Persönlichkeitsrechte, insbesondere sein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. Es gehe um die völlig inakzeptable Begründung der Ablehnung der Kostenübernahme und nicht um die Tatsache der Ablehnung der Kostenübernahme als solches.

 

Nachdem das Sozialgericht den Kläger mit Schreiben vom 23. Januar 2023 zu der beabsichtigten Verweisung ans Landgericht angehört hatte, worauf der Kläger mitgeteilt hatte, dass er das Kostenrisiko einer Klage zu den ordentlichen Gerichten nicht tragen könne, hat das Sozialgericht mit Beschluss vom 6. Februar 2023 den Rechtsweg zu den Sozialgerichten für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an das Landgericht Berlin verwiesen. Für den vom Kläger gestellten Antrag komme allein ein Schadensersatzanspruch wegen Amtspflichtverletzung aus § 839 BGB in Betracht. Für diesen Anspruch sei nach Art. 34 Abs. 3 Grundgesetz (GG) ausschließlich der Rechtsweg zur ordentlichen Gerichtsbarkeit gegeben (vgl. § 17 Abs. 2 Satz 2 Gerichtsverfassungsgesetz [GVG]). Sachlich und örtlich zuständig sei das Landgericht Berlin (vgl. § 71 Abs. 2 Nr. 2 GVG, § 32 Zivilprozessordnung [ZPO]).

 

Nach Erlass, aber noch vor Zustellung des Beschlusses hat der Kläger mit Schriftsatz vom 27. Februar 2023 zur Klageerwiderung der Beklagten vom 27. Januar 2023 Stellung genommen und ausgeführt, dass es „diese Klage nicht gäbe, wenn die Gegenseite die Kosten meines ärztlich verschriebenen Medikamentes Caverject übernommen hätte“. Somit sei klar, dass die Ablehnung der Übernahme der Kosten eines Medikamentes, welches ausschließlich der Heilung und Therapierung seiner Krankheit diene, die alleinige Ursache seiner Klage sei.

 

Gegen den ihm am 28. Februar 2023 zugestellten Verweisungsbeschluss hat der Kläger mit Schreiben vom 1. März 2023, beim Landessozialgericht eingegangen am 6. März 2023, Beschwerde eingelegt mit der Begründung, dass die Verweisung seiner Klage an das Landgericht Berlin nicht statthaft und nicht von ihm gewollt sei. Mit weiterem Schreiben vom 6. März 2023 führte er aus: Da das Sozialgericht beschlossen habe, seine Klage an das Landgericht Berlin zu verweisen, sei eine Änderung seines Klageantrages notwendig geworden. In der Sache gehe es um die gerichtliche Prüfung der Streitfrage, ob die Beklagte verpflichtet sei, ihm die Kosten seines Medikaments zu bezahlen, wenn hierdurch sein vorzeitiger Tod durch Herzinfarkt vermieden werden könne.

 

In der Hauptsache beantragt der Kläger danach sinngemäß nun,

 

den Bescheid der Beklagten vom 29. November 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Juli 2022 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm die ihm durch die Selbstbeschaffung des Medikaments Caverject entstandenen Kosten in Höhe von insgesamt 211,50 € zu erstatten.

 

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

 

II.

 

Die nach § 17a Abs. 4 Satz 3 GVG i.V.m. §§ 172 Abs. 1, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde des Klägers ist begründet. Der vom Kläger beschrittene Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit ist eröffnet.

 

Gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 2 SGG entscheiden die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit u.a. über öffentlich-rechtliche Streitigkeiten in Angelegenheiten der gesetzlichen Krankenversicherung. Maßgeblicher Anknüpfungspunkt für die Beurteilung der Zulässigkeit des Rechtswegs ist der Streitgegenstand, wie er sich auf der Grundlage des Klagebegehrens, also des geltend gemachten prozessualen Anspruchs, und des Klagegrundes, also des zu seiner Begründung vorgetragenen Sachverhalts, ergibt (st. Rspr.; vgl. nur Bundessozialgericht [BSG], Beschluss vom 25. März 2021 – B 1 SF 1/20 R –, Rn. 10, Rechtsprechung hier und im Folgenden zitiert nach juris). Für die Beurteilung der Zulässigkeit des gewählten Rechtsweges ist somit auf der Grundlage des Klagebegehrens und des zu seiner Begründung vorgetragenen Sachverhalts die wahre Natur des im Sachvortrag des Klägers behaupteten Rechtsverhältnisses, aus dem der Klageanspruch hergeleitet wird, zu ermitteln. Abzustellen ist auf den Streitgegenstand, d.h. den prozessualen Anspruch, der durch den zur Begründung vorgetragenen tatsächlichen Lebenssachverhalt (Klagegrund) näher bestimmt wird. (st. Rspr., z.B. BSG, Beschluss vom 10. Dezember 2015 – B 12 SF 1/14 R –, Rn. 11, m.w.N.).

 

Im Beschwerdeverfahren sind alle bis zur letzten Tatsachenverhandlung eintretenden Umstände, welche die zunächst bestehende Unzulässigkeit des Rechtswegs beseitigen, zu berücksichtigen. Denn gemäß § 17b Abs. 1 Satz 1 GVG wird der Rechtsstreit erst nach Eintritt der Rechtskraft des Verweisungsbeschlusses bei dem im Beschluss bezeichneten Gericht anhängig. Sofern ein Beteiligter während des Beschwerdeverfahrens Anträge stellt, z.B. die Klage ändern, erweitern oder zurücknehmen, Widerklage erheben oder Prozesskostenhilfe beantragen will, ist der Antrag noch beim verweisenden Gericht zu stellen, und die nachträglichen Veränderungen sind im Beschwerdeverfahren zu berücksichtigen (Sächsisches Landessozialgericht, Beschluss vom 21. September 2022 – L 4 AS 551/20 B –, Rn. 21).

 

In Fällen, in denen der Klageanspruch bei identischem Streitgegenstand auf mehrere (auch tatsächlich und rechtlich selbstständige Anspruchsgrundlagen) gestützt wird, ist das angerufene Gericht nach § 17 Abs. 2 Satz 1 GVG zur Entscheidung über sämtliche Klagegründe verpflichtet, auch wenn diese verschiedenen Rechtswegen zugeordnet sind, sofern nur der Rechtsweg für einen von ihnen gegeben ist (BSG, Beschluss vom 25. Oktober 2017 – B 7 SF 1/16 R –, Rn. 8; Sächsisches Landessozialgericht, Beschluss vom 21. September 2022 – L 4 AS 551/20 B –, Rn. 28). Damit nimmt der Gesetzgeber durchaus gewisse Zufälligkeiten hin, die sich aus dem Vortrag des Klägers und weiteren Besonderheiten des Einzelfalls ergeben (BSG, a.a.O.). Eine Verweisung des Rechtsstreits ist daher nur dann geboten und zulässig, wenn der beschrittene Rechtsweg schlechthin, d.h. für den Klageanspruch mit allen in Betracht kommenden Klagegründen, nicht eröffnet ist (BSG, Beschluss vom 10. Dezember 2015 – B 12 SF 1/14 R –, Rn. 9). Wenn das angerufene Gericht hingegen zumindest für einen Teil der einschlägigen materiellen Ansprüche zuständig ist, kommt eine Verweisung nicht in Betracht (BSG, Beschluss vom 30. Juli 2014 – B 14 AS 8/14 B –, Rn. 5; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 2. Juni 2020 – L 9 AL 5/20 B –, Rn. 3). Nach ständiger Rechtsprechung des BSG darf ein Gericht der Sozialgerichtsbarkeit auch keine Teilverweisung an das Zivilgericht vornehmen, weil das GVG keine Teilverweisung kennt. In diesem Fall ist auch von dem Ausspruch einer teilweisen Unzulässigkeit des Rechtsweges und einer teilweisen Verweisung des Rechtsstreits an die für Amtshaftungsansprüche zuständigen ordentlichen Gerichte gemäß § 17a Abs. 2 GVG abzusehen (st. Rspr., z.B. BSG, Beschlüsse vom 31. Oktober 2012 - B 13 R 437/11 B – Rn. 10, und vom 30. Juli 2014 - B 14 AS 8/14 B -, Rn. 5; Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 2. Juni 2020 – L 9 AL 5/20 B –, Rn. 3). Dies gilt auch für den Fall der objektiven Klagehäufung (vgl. BSG, Beschluss vom 31. Oktober 2012 – B 13 R 437/11 B –).

 

Aus diesem Grund scheidet im vorliegenden Fall eine Verweisung des Rechtsstreits an das Landgericht jedenfalls jetzt – nach der Erklärung des Klägers im Schriftsatz vom 27. Februar 2023 - aus, obwohl das Sozialgericht zutreffend dargelegt hat, dass für Schadensersatzansprüche aus Amtspflichtverletzung gemäß § 839 BGB grds. die Zuständigkeit der Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit gegeben und der Rechtsweg zu den Sozialgerichten nicht eröffnet ist. Bei sachgerechter Auslegung des Vortrags des Klägers im Beschwerdeverfahren ist sein Begehren aber jedenfalls jetzt zumindest auch auf einen Kostenerstattungsanspruch gemäß § 13 Abs. 3 SGB V gerichtet. Streitgegenstand ist somit jedenfalls jetzt (auch) eine Angelegenheit der gesetzlichen Krankenversicherung, für die gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 2 SGG der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit eröffnet ist.

 

Der Rechtsweg steht allerdings nicht vollständig zur Disposition der Beteiligten. Deshalb haben Anspruchsgrundlagen, die offensichtlich nicht gegeben sind bzw. erkennbar vom Rechtsuchenden nur mit dem Ziel geltend gemacht werden, einen bestimmten Rechtsweg beschreiten zu können, bei der Prüfung des Rechtswegs außer Betracht zu bleiben (BSG, Beschluss vom 30. September 2014 – B 8 SF 1/14 R –, Rn. 10).

 

Im vorliegenden Fall spricht zwar einiges dafür, dass der Kläger die mit Schriftsatz vom 6. März 2023 erklärte Klageänderung nur deshalb vorgenommen hat, um eine Verweisung an die ordentliche Gerichtsbarkeit zu verhindern. Denn in seiner Klageschrift hatte er noch ausdrücklich erklärt, dass es ihm „um die völlig inakzeptable Begründung der Ablehnung der Kostenübernahme und nicht um die Tatsache der Ablehnung der Kostenübernahme als solches“ gehe, und erst mit seiner Beschwerde hat er eine Klageänderung erklärt, weil „das Sozialgericht beschlossen habe, seine Klage an das Landgericht Berlin zu verweisen“.

 

Der Senat hat jedoch zu seinen Gunsten berücksichtigt, dass er in Reaktion auf die Klageerwiderung der Beklagten bereits mit Schriftsatz vom 27. Februar 2023 angegeben hat, dass die Ablehnung der Übernahme der Kosten für das Medikament Caverject die „alleinige Ursache“ seiner Klage sei. Da die Klage immerhin in zeitlichem Zusammenhang und unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das „Schreiben vom 4. Oktober 2022“, also das Schreiben, mit dem der Widerspruchsbescheid zum Kostenübernahme-Ablehnungsbescheid übersandt worden ist, erhoben worden ist, erscheint diese Begründung nicht als völlig haltlos und rechtsmissbräuchlich.

 

Ob der Kläger allerdings mit diesem Begehren Erfolg haben kann, ist eine Frage der Zulässigkeit und der (materiellen) Begründetheit seiner Klage, nicht des Rechtswegs (vgl. BSG, Beschluss vom 25. März 2021 – B 1 SF 1/20 R, Rn. 8). Im Beschwerdeverfahren war daher insbesondere auch nicht zu prüfen, ob die Klageänderung aus vom Rechtsweg unabhängigen Gründen, z.B. wegen Verfristung, unzulässig ist.

 

Die - im Verfahren über eine Rechtswegbeschwerde grundsätzlich erforderliche (BSG, Beschluss vom 25. Oktober 2017 – B 7 SF 1/16 R, Rn. 11) - Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG, denn der Kläger ist Versicherter i.S.d. § 183 Satz 1 SGG (vgl. auch BSG, Beschluss vom 25. September 2013 – B 8 SF 1/13 R – Rn. 12). Eine Kostenentscheidung zugunsten des Klägers kam nicht in Betracht, da er mit seinem Vorbringen in der Klageschrift die Ursache für den erstinstanzlichen Verweisungsbeschluss gesetzt hat, der bis zur erst danach erfolgten Klageänderung mit Schriftsatz vom 27. Februar 2023 (Eingang beim Gericht am 1.  März 2023) durchaus der Rechtslage entsprach.

 

Die weitere Beschwerde zum Bundessozialgericht wird nicht zugelassen, da hierfür keine Gründe vorliegen (§ 17a Abs. 4 Satz 5 GVG).

 

Rechtskraft
Aus
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