L 10 R 1595/22

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
10.
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 26 R 5812/19
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 10 R 1595/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 06.05.2022 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.



Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

Der 1970 geborene Kläger erlernte keinen Beruf. 1991 kam er als Flüchtling aus dem Kosovo nach Deutschland. Von 2007 bis 2010 arbeitete er nach eigenen Angaben als Werkstatthelfer und Hausmeister, von 2010 bis 2016 war er im Autohandel selbstständig tätig mit Bezug von Leistungen der Bundesagentur für Arbeit bzw. Bezug von Arbeitslosengeld II. In seinem Versicherungsverlauf sind seit 01.07.2006 durchgehend Zeiten mit Sozialleistungsbezug bzw. Pflichtbeiträgen wegen Beschäftigung vermerkt (vgl. Versicherungsverlauf vom 03.07.2022, S. 56 ff. Senatsakte). Ein Grad der Behinderung von 50 v.H. ist anerkannt.

Vom 28.02. bis 21.03.2013 absolvierte der Kläger eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme in der Reha-Klinik T1, aus der er mit den Diagnosen Diabetes mellitus Typ 2 mit Polyneuropathie, Retinopathie, Verdacht auf (V.a.) Nephropathie sowie Adipositas, arterielle Hypertonie, erhebliche kombinierte Dyslipidämie, depressives Syndrom und Schmerzsyndrom arbeitsunfähig und der Einschätzung entlassen wurde, dass leichte bis mittelschwere Arbeiten sechs Stunden und mehr verrichtet werden könnten (S. 241 ff. eVerwA). Vom 27.10. bis 08.11.2016 wurde der Kläger zur Schmerztherapie stationär in der R1 W1 behandelt (S. 283 ff. eVerwA). Vom 17.05. bis 07.06.2017 nahm er erneut an einer stationären Rehabilitation in der Reha-Klinik T1 wegen seiner Diabetes-Erkrankung teil, aus der er ebenfalls mit einem mindestens sechsstündigen Leistungsvermögen entlassen wurde (S. 253 ff. eVerwA). In einer Stellungnahme nach Aktenlage vom 31.10.2018 ging der ärztliche Dienst der Bundesagentur für Arbeit unter Bezugnahme auf den (nicht genannten) behandelnden Arzt von einem aufgehobenen Leistungsvermögen des Klägers aus (S. 312 eVerwA).

Am 19.11.2018 beantragte der Kläger Rente wegen Erwerbsminderung. Die Beklagte zog u.a. die oben genannten ärztlichen Unterlagen bei und ließ ein sozialmedizinisches Gutachten durch die S1 erstellen (S. 334 ff. eVerwA). Diese stellte nach ambulanter Untersuchung des Klägers vom 05.02.2019 folgende Gesundheitsstörungen fest: Chronische Schmerzen mit somatischen und psychischen Faktoren; Diabetes mellitus mit Folgeerkrankungen an Nerven, Augen und Niere, schlecht eingestellt; rezidivierende depressive Episoden, derzeit leichtgradig. Leichte bis mittelschwere Tätigkeiten ohne Zwangshaltungen der Wirbelsäule, gefahrgeneigte Tätigkeiten, Zeitdruck oder Nachtschicht könne der Kläger noch mindestens sechs Stunden arbeitstäglich verrichten.

Mit Bescheid vom 16.04.2019 lehnte die Beklagte den Antrag auf der Grundlage der medizinischen Ermittlungen und mit der Begründung ab, dass der Kläger noch mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts arbeiten könne, sodass keine Erwerbsminderung vorliege.

Den Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 18.11.2019 zurück. Unter Berücksichtigung der bestehenden Gesundheitsstörungen (chronische Schmerzen mit somatischen und psychischen Faktoren; Diabetes mellitus mit Folgeerkrankungen an Nerven, Augen und Niere, schlecht eingestellt; rezidivierende depressive Episoden, derzeit leichtgradig; Bluthochdruck und Fettstoffwechselstörung, medikamentös behandelt; chronisches degeneratives Wirbelsäulensyndrom mit leichten funktionellen Einschränkungen im Lendenwirbelbereich; Übergewicht; Asthma bronchiale, gut kontrolliert; Syndrom der unruhigen Beine, medikamentös behandelt; rezidivierende Kopfschmerzen; Tinnitus; anamnestisch Schlafapnoe-Syndrom mit CPAP-Gerät behandelt) seien keine Auswirkungen ersichtlich, die das Leistungsvermögen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zeitlich einschränkten.

Hiergegen hat der Kläger am 13.12.2019 beim Sozialgericht Stuttgart (SG) Klage erhoben. Zur Begründung hat er ausgeführt, dass er nicht mehr in der Lage sei, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mindestens drei Stunden zu arbeiten. Die Beklagte habe die Schwere der chronischen Schmerzen mit somatischen und psychischen Faktoren und des schlecht eingestellten Diabetes mit Folgeerkrankungen verkannt.

Das SG hat die behandelnden Ärzte des Klägers schriftlich als sachverständige Zeugen gehört. Die S2 hat sich hinsichtlich der Diagnosen und der Leistungsbeurteilung den Ausführungen im Widerspruchsbescheid angeschlossen (Auskunft vom 25.08.2020, S. 41 SG-Akte), ebenso der W2 (Auskunft vom 14.09.2020, S. 42 f. SG-Akte). Der W3 hält aufgrund der multilokulären chronisch degenerativen Erkrankung und Funktionseinschränkung des Bewegungsapparats unter Hinweis auf eine weitere Psychosomatisierung leichte Tätigkeiten zwischen drei und sechs Stunden für zumutbar (Auskunft vom 29.09.2020, S. 47 ff. SG-Akte). Der M1 sieht keine Auswirkung der vom Kläger angegebenen Ohrgeräusche auf die berufliche Leistungsfähigkeit (Auskunft vom 07.10.2020, S. 61 SG-Akte). Die G1 geht von einem aufgehobenen Leistungsvermögen aus. Der Kläger sei schmerzgeplagt und durchgehend klagsam, wirke herabgestimmt. Es bestehe eine Polyneuropathie bei Diabetes, chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren und eine Gangstörung (Auskunft vom 06.10.2020, S. 79 SG-Akte). Hierzu hat die Beklagte eine sozialmedizinische Stellungnahme der J1 vom 12.03.2021 vorgelegt, auf deren Inhalt Bezug genommen wird (S. 91 ff. SG-Akte).

Ergänzend hat das SG ein Gutachten bei der O1 eingeholt. Diese hat nach ambulanter Untersuchung am 05.10.2021 beim Kläger folgende Gesundheitsstörungen festgestellt: Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, Zeichen einer peripheren Polyneuropathie im Rahmen eines unzureichend eingestellten Diabetes mellitus und ein Syndrom unruhiger Beine. Eine krankheitswertige depressive Symptomatik habe sich nicht ergeben. Leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt seien mindestens sechs Stunden arbeitstäglich möglich ohne Nachtschicht, Akkord, Absturzgefahr oder Zwangshaltungen der Wirbelsäule. Weitere Einschränkungen ergäben sich daraus, dass der Kläger angegeben habe, nicht lesen und schreiben zu können.

Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 06.05.2022 abgewiesen. Zur Begründung hat es gestützt auf die Gutachten von S1 und O1 sowie die Aussage von S2 im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger sei weder voll noch teilweise erwerbsgemindert, denn ihm sei weiter möglich und zumutbar, einer leidensgerechten Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mindestens sechs Stunden arbeitstäglich nachzukommen.

Gegen den seinen Prozessbevollmächtigten am 19.05.2022 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 31.05.2022 Berufung eingelegt. Er verweist darauf, dass die Leistungseinschätzung seiner behandelnden G1 und W3 überzeugend und nachvollziehbar sei. Es bestehe eine langjährige Schmerz-Krankengeschichte und Multimorbidität, durchgeführte Therapiemaßnahmen seien ohne Erfolg geblieben. Das Gutachten der O1 sei nicht schlüssig. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Berufungsbegründung vom 16.08.2022 (S. 63 ff. Senatsakte) verwiesen. Ergänzend hat der Kläger ärztliche Bescheinigungen zur Vorlage bei Gericht von G2 vom 15.02.2023 (S. 120 Senatsakte) und der G1 vom 18.01.2023 (S. 121 Senatsakte) sowie den Entlassungsbericht der Fachklinik S3 zur durchgeführten Rehabilitation vom 28.09. bis 17.10.2022 vorgelegt (S. 107 ff. Senatsakte).

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 06.05.2022 sowie den Bescheid der Beklagten vom 16.04.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.11.2019 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 01.11.2018 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und verweist auf ihr Vorbringen in erster Instanz sowie die Stellungnahme ihres ärztlichen Dienstes vom 26.01.2023 (J1, S. 115 Senatsakte).

Der Senat hat eine ergänzende Stellungnahme bei der O1 angefordert. Auf deren Ausführungen vom 28.11.2022 (S. 97 ff. Senatsakte) wird Bezug genommen.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten der Beklagten sowie der Akten beider Rechtszüge Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

Die gemäß § 151 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) form- und fristgerecht eingelegte und gemäß §§ 143, 144 SGG statthafte Berufung des Klägers ist zulässig, jedoch unbegründet.

Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 16.04.2019 in der Gestalt (§ 95 SGG) des Widerspruchsbescheids vom 18.11.2019 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, denn er ist weder voll noch teilweise erwerbsgemindert, weswegen ihm Rente wegen voller Erwerbsminderung nicht zusteht.

Rechtsgrundlage für die hier begehrte Rente wegen Erwerbsminderung ist § 43 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI). Danach haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser (Abs. 1 Satz 1 der Regelung) bzw. voller (Abs. 2 Satz 1 der Regelung) Erwerbsminderung, wenn sie - u.a. - teilweise bzw. voll erwerbsgemindert sind.

Nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI sind teilweise erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI sind voll erwerbsgemindert Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Ein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung besteht über die Regelung des § 43 Abs. 2 SGB VI hinaus nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (Großer Senat 10.12.1976, u.a. GS 2/75, zitiert - wie alle nachfolgenden Entscheidungen - nach juris) bei regelmäßig bejahter Verschlossenheit des Arbeitsmarktes auch dann, wenn eine zeitliche Leistungseinschränkung von drei bis unter sechs Stunden vorliegt. Nach § 43 Abs. 3 SGB VI ist nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Der Kläger ist zur Überzeugung des Senats noch in der Lage, leichte Tätigkeiten in wechselnder Körperhaltung mindestens sechs Stunden arbeitstäglich zu verrichten. Nicht mehr zumutbar sind Akkordarbeit, Nachtschichten, Arbeiten mit Zwangshaltungen der Wirbelsäule oder mit Absturzgefahr. Der Senat stützt sich insoweit maßgeblich auf das gerichtliche Sachverständigengutachten der O1 sowie das im Verwaltungsverfahren eingeholte Gutachten von S1, das im Wege des Urkundsbeweises verwertet wird.

Im Vordergrund der Beschwerden steht die Schmerzerkrankung in Form einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, wie sich übereinstimmend aus sämtlichen ärztlichen Unterlagen entnehmen lässt. Diese Erkrankung ist nach den ausführlichen, schlüssigen und überzeugenden Darlegungen der gerichtlichen O1 indes nicht so stark ausgeprägt, dass sich hieraus eine Einschränkung des beruflichen Leistungsvermögens in zeitlicher Hinsicht ableiten ließe. Belegt wird dies durch den unauffälligen psychischen Befund (wach, orientiert, mit erhaltener Mnestik und Aufmerksamkeit, ungestörte Auffassungsgabe, durchschnittliche Intelligenz, keine formalen Denkstörungen oder pathologischen Denkinhalte, Wahrnehmung und Ichbewusstsein ungestört, in Antrieb und Motorik lebhaft, affektiv freundlich zugewandt, verschmitzt auftretend, sich unwissend gebend mit erhaltender Schwingungsfähigkeit und Verdeutlichungsverhalten) und die erhaltenen Alltagsaktivitäten des Klägers gemäß seinen Angaben gegenüber der Sachverständigen mit regelmäßigen Kontakten insbesondere zu den im gleichen Haus lebenden Kindern und Enkelkindern sowie der geschiedenen Frau, Autofahren und Fahrradfahren. Gegenüber S1 hatte der Kläger zusätzlich angegeben, einmal im Jahr zur Badekur nach Montenegro zu fahren. Das vom Kläger selbst geschilderte Ausmaß der Schmerzerkrankung lässt sich hingegen nicht objektivieren, im Gegenteil finden sich in den vorliegenden ärztlichen Unterlagen nahezu durchgehend Hinweise für ein zielgerichtetes Verdeutlichungsverhalten mit Rentenbegehren. Bereits im Entlassungsbericht der 2013 durchgeführten Rehabilitation wird ausgeführt: „Durchgängig ausgesprochene Klagsamkeit über Schmerzen, welche ihm allerdings in seinem sonstigen Verhalten nicht im geklagten Ausmaß anzumerken waren“ (S. 247 eVerwA); „Aus unserer Sicht war hierbei (bei ´schlechter Arbeit` und bestehendem Rentenbegehren) eine demonstrative Komponente nicht auszuschließen, zumal er imstande war, das gesamte Therapieprogramm regelmäßig umzusetzen und auch von sich aus angab, z.B. angeblich 8 km am Tag spazieren zu gehen“ (S. 249 eVerwA). Auch im Entlassungsbericht der nachfolgenden Reha-Maßnahme von 2017 werden entsprechende Beobachtungen festgehalten: „Eine gewisse Diskrepanz sahen wir zwischen den berichteten Beschwerden und dem Leidensdruck bei Visiten und außerhalb hiervon beobachteter Aktivitäten. Trotz der medikamentösen Polytherapie erschien der Patient wach und agil, eine psychomotorische Verlangsamung als mögliche Nebenwirkung konnte erfreulicherweise nicht beobachtet werden“ (S. 267 eVerwA). Die R1 lehnte mit Arztbrief vom 27.04.2018 gegenüber dem behandelnden W3 nach vorheriger stationärer Behandlung des Klägers im Jahr 2016 eine erneute Aufnahme ab, da eine Diskrepanz zwischen Beschwerdeschilderung und objektivierbarem Befund erkennbar gewesen sei, vom Patienten depressive Symptome geschildert worden seien, die in der klinischen Beobachtung nicht nachvollziehbar gewesen seien, der Verlauf durch eine eingeschränkte Therapiemotivation und Erwartung nach passiven Therapiemethoden geprägt gewesen sei, Diskrepanzen von berichteten Beschwerden und dem Leidensdruck bei Visiten und außerhalb beobachteter Aktivitäten erkennbar gewesen seien und von einem erneuten Aufenthalt daher keine Besserung zu erwarten sei (S. 302 eVerwA). Auch S1 stellte im Rahmen ihrer Begutachtung im Verwaltungsverfahren Diskrepanzen zwischen Beschwerdeangaben und Befund fest. So fanden sich nur leichte funktionelle Einschränkungen im Bereich der Lendenwirbelsäule, alle Gelenke waren aktiv und passiv frei beweglich, das An- und Auskleiden war flüssig möglich, teilweise auf einem Bein stehend und ohne Angabe von Schmerzen. Nur kurze Zeit später anlässlich einer stationären Behandlung zur multimodalen Schmerztherapie im Klinikum T2 vom 25.02. bis 10.03.2019 ergab sich ein ähnliches Bild: „Der Patient beschwerte sich über die Reduktion der Coanalgetika. Unbeobachtet war der Patient sichtlich entspannt, was sich jedoch änderte, wenn ein Therapeut wahrnehmbar in die Nähe kam. …..Es besteht ein Beharren auf ein somatisches Krankheitsgeschehen mit Persistenz des Bezuges zu passiven Therapien bei V.a. Rentenbegehren. Eine deutliche Diskrepanz zwischen Befund und Befinden besteht. Daher macht weiterführende schmerztherapeutische Behandlung m.E. weder stationär noch ambulant Sinn…“ (Arztbrief vom 15.03.2019, S. 56 ff. SG-Akte). Damit wird die Einschätzung der gerichtlichen Sachverständigen, auf die sich der Senat stützt, eindrucksvoll bestätigt. Eine relevante depressive Symptomatik liegt nach alledem ohnehin nicht vor.

Daneben leidet der Kläger an einem Diabetes mellitus Typ 2 mit Folgeerkrankungen (diabetische Polyneuropathie, Retinopathie und Nephropathie). Hieraus resultieren jedoch keine weitergehenden Einschränkungen der beruflichen Leistungsfähigkeit über die bereits genannten qualitativen Einschränkungen hinaus. Der Senat stützt sich insoweit auf die Entlassungsberichte der Rehabilitationsmaßnahmen von 2013, 2017 und zuletzt 2022. Aus dem Entlassungsbericht der Fachklinik S3 vom 14.10.2022 lässt sich entnehmen, dass der Insulinplan angepasst wurde und die Insulindosis auf ein Minimum reduziert werden konnte bei gleichzeitiger Erhöhung der körperlichen Belastbarkeit. Soweit in dem Entlassungsbericht Müdigkeit, Kraftlosigkeit und ein herabgesetztes Leistungsvermögen genannt werden, handelt es sich um die Wiedergabe anamnestischer Angaben; eine erwähnte „Verschlimmerung“ und „schwere Einschränkungen“ werden nicht erläutert, lassen sich aus den Diagnosen nicht ableiten und aus dem dargestellten Befund nicht nachvollziehen. Insoweit stützt sich der Senat auf die Ausführungen der J1 vom 26.01.2023, die er als qualifiziertes Beteiligtenvorbringen würdigt. Auch die behandelnde S2 und der W2 haben hinsichtlich des Diabetes bzw. der Folgeerkrankungen ein erhaltenes berufliches Leistungsvermögen bestätigt. Die Auswirkungen der Polyneuropathie hat zudem die gerichtliche O1 ausführlich und nachvollziehbar dargelegt und gewürdigt. Insbesondere im Hinblick auf fehlende motorische Störungen und die beschriebene kräftige Bemuskelung der Oberschenkel lassen sich weitere Einschränkungen hieraus nicht herleiten, auch keine relevante Einschränkung der Gehfähigkeit.

Auf orthopädischem Gebiet liegen degenerative Veränderungen insbesondere der Wirbelsäule vor, wie sich dem Entlassungsbericht der R1 von 2016, der Aussage des W4 CT-Untersuchungen der Lendenwirbelsäule vom 05.03.2018 (S. 60 SG-Akte) und der Halswirbelsäule vom 27.09.2013 (S. 59 SG-Akte) entnehmen lässt. Einschränkungen des Leistungsvermögens in zeitlicher Hinsicht lassen sich hieraus nicht ableiten, wie sich aus der nachvollziehbaren Stellungnahme der J1 vom 12.03.2021 entnehmen lässt, die der Senat ebenfalls als qualifiziertes Beteiligtenvorbringen berücksichtigt. Aus den weiteren Erkrankungen des Klägers folgen ebenfalls keine weitergehenden Einschränkungen. Für den Tinnitus ergibt sich dies aus der Aussage des M1 Weitere Erkrankungen wie Hypertonie, Asthma bronchiale oder Syndrom der unruhigen Beine werden medikamentös behandelt und auch von den behandelnden Ärzten nicht als relevant für das berufliche Leistungsvermögen angesehen. Anderes hat auch der Kläger selbst nicht geltend gemacht.

Soweit die behandelnden G1 und W3 von einem aufgehobenen bzw. zeitlich eingeschränkten Leistungsvermögen ausgehen, überzeugt dies den Senat nicht. Beide schildern keine Befunde oder Funktionseinschränkungen, die eine Minderung des quantitativen Leistungsvermögens begründen. Zudem misst der Senat generell der Einschätzung gerichtlicher Sachverständiger ein höheres Gewicht zu, denn diese haben die Beschwerdeangaben kritisch zu hinterfragen und eine Konsistenzprüfung durchzuführen. Insbesondere bei Hinweisen auf nicht authentische Beschwerdeschilderung und Verdeutlichungsverhalten - wie hier - kann eine allein auf die subjektiven Angaben des eigenen Patienten gestützte Leistungseinschätzung nicht überzeugen. Dies gilt auch für die im Berufungsverfahren vorgelegten Bescheinigungen G2 und G1, die ohnehin lediglich ihre bisherigen Ausführungen wiederholt.

Unter Zugrundelegung all dessen hat der Senat keine ernsthaften Zweifel, dass der Kläger noch in der Lage ist, jedenfalls leichte Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter Beachtung der oben festgestellten qualitativen Einschränkungen mindestens sechs Stunden täglich zu verrichten, sodass er weder voll noch teilweise erwerbsgemindert ist (§ 43 Abs. 3 Halbsatz 1 SGB VI). Dabei ist es unerheblich, ob ein dem Leistungsvermögen entsprechender Arbeitsplatz vermittelt werden kann, weil nach § 43 Abs. 3 Halbsatz 2 SGB VI die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen ist.

Die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit ist vorliegend nicht erforderlich (vgl. BSG 14.09.1995, 5 RJ 50/94, auch zum Nachfolgenden). Denn nach der Rechtsprechung des BSG steht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eine so große Anzahl von Tätigkeitsarten zur Verfügung, dass das Vorhandensein einer geeigneten Verweisungstätigkeit offensichtlich ist. Nur ausnahmsweise ist für einen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbaren Versicherten wie den Kläger mit zumindest sechsstündigem Leistungsvermögen für leichte Arbeiten die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit erforderlich, wenn die Erwerbsfähigkeit durch mehrere schwerwiegende gesundheitliche Einschränkungen oder eine besonders einschneidende Behinderung gemindert ist. In der Rechtsprechung des BSG sind bestimmte Fälle anerkannt (z.B. Einarmigkeit, vgl. BSG, a.a.O., m.w.N.), zu denen der vorliegende Fall aber nicht gehört. Vielmehr braucht eine Verweisungstätigkeit erst benannt zu werden, wenn die gesundheitliche Fähigkeit zur Verrichtung selbst leichter Tätigkeiten in vielfältiger, außergewöhnlicher Weise eingeschränkt ist. Dies ist jedenfalls dann nicht der Fall, wenn ein Versicherter noch vollschichtig körperlich leichte Arbeiten ohne Heben und Tragen von Gegenständen über 5 kg, ohne überwiegendes Stehen und Gehen oder ständiges Sitzen, nicht in Nässe, Kälte oder Zugluft, ohne häufiges Bücken, ohne Zwangshaltungen, ohne besondere Anforderungen an die Fingerfertigkeit und nicht unter besonderen Unfallgefahren zu verrichten vermag (BSG a.a.O.; BSG 27.04.1982, 1 RJ 132/80). Denn ein Teil dieser Einschränkungen stimmt bereits mit den Tätigkeitsmerkmalen einer körperlich leichten Arbeit überein; dies gilt insbesondere für die geminderte Fähigkeit, Lasten zu bewältigen und die geringe Belastbarkeit der Wirbelsäule (BSG a.a.O.) mit den hierauf beruhenden Einschränkungen. Diese zur früheren Rechtslage entwickelten Grundsätze sind auch für Ansprüche auf Renten wegen Erwerbsminderung nach dem ab dem 01.01.2001 geltenden Recht weiter anzuwenden (vgl. zuletzt BSG 11.12.2019, B 13 R 7/18 R). Nicht anders liegt der Fall des Klägers. Auch bei ihm wird den qualitativen Einschränkungen (s.o.) im Wesentlichen bereits dadurch Rechnung getragen, dass ihm nur noch leichte Arbeiten zugemutet werden. Daran ändert auch der (vom Kläger erstmals gegenüber der gerichtlichen O1 angegebene) Analphabetismus nichts (vgl. Kamprad in Hauck/Noftz, SGB VI, § 43 Rn. 42a; Freudenberg in jurisPK-SGB VI, Stand 01.04.2021, § 43 Rn. 110, jeweils m.w.N. zur Rspr.). Der Kläger hatte gegenüber der Sachverständigen angegeben, nur drei Jahre eine Schule besucht zu haben (S. 118 SG-Akte), in der Reha-Klinik T1 hatte er vier Jahre angegeben (S. 246 eVerwA); in der Gutachtenssituation hat die Sachverständige zumindest ein Wortverständnis des Klägers feststellen können, in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat der Kläger aus den mitgebrachten Unterlagen zielgerichtet Dokumente herausgesucht. Davon abgesehen hat den Kläger diese behauptete Einschränkung weder von früherer beruflicher Tätigkeit, auch im Rahmen einer Selbstständigkeit, noch vom Erwerb des Führerscheins ausgeschlossen, so dass auch nunmehr eine entsprechende Auswirkung hinsichtlich der Einsetzbarkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht ersichtlich ist.

Unerheblich ist, dass beim Kläger die Schwerbehinderteneigenschaft anerkannt ist. Denn der Schwerbehinderteneigenschaft eines Versicherten kommt hinsichtlich seiner zumutbaren beruflichen Einsetzbarkeit keinerlei Aussagekraft zu (BSG 19.09.2015, B 13 R 290/15 B). Ebenso unmaßgeblich für den erhobenen Anspruch ist, ob der Kläger weiterhin wegen Krankheit oder Behinderung behandlungsbedürftig oder arbeitsunfähig ist (vgl. nur BSG 31.10.2002, B 13 R 107/12 B).

Abschließend stellt der Senat noch fest, dass bei dem Kläger auch keine schwere spezifische Leistungsbehinderung in Gestalt einer Einschränkung seiner Wegefähigkeit (vgl. dazu nur BSG 12.12.2011, B 13 R 79/11 R, Rn. 20 m.w.N. und BSG 28.08.2002, B 5 RJ 12/02 R, m.w.N.) vorliegt. Eine Tätigkeit zum Zweck des Gelderwerbs ist in der Regel nur außerhalb der Wohnung möglich, weshalb das Vorhandensein eines Minimums an Mobilität deshalb Teil des in der gesetzlichen Rentenversicherung versicherten Risikos ist; das Defizit führt zur vollen Erwerbsminderung. Hat der Versicherte keinen Arbeitsplatz und wird ihm ein solcher auch nicht konkret angeboten, bemessen sich die Wegstrecken, deren Zurücklegung ihm - auch in Anbetracht der Zumutbarkeit eines Umzugs - möglich sein muss, nach dem generalisierenden Maßstab, der zugleich den Bedürfnissen einer Massenverwaltung Rechnung trägt. Dabei wird angenommen, dass ein Versicherter für den Weg zur Arbeitsstelle öffentliche Verkehrsmittel benutzen und von seiner Wohnung zum Verkehrsmittel und vom Verkehrsmittel zur Arbeitsstelle und zurück Fußwege zurücklegen muss. Erwerbsfähigkeit setzt danach grundsätzlich die Fähigkeit des Versicherten voraus, viermal am Tag Wegstrecken von mehr als 500 Metern mit zumutbarem Zeitaufwand (weniger als 20 Minuten) zu Fuß bewältigen und zweimal täglich während der Hauptverkehrszeit mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren zu können. Bei der Beurteilung der Mobilität des Versicherten sind alle ihm tatsächlich zur Verfügung stehenden Hilfsmittel (z.B. Gehstützen, Rollator) und Beförderungsmöglichkeiten (insbes. die zumutbare Benutzung eines vorhandenen Kfz) zu berücksichtigen.

Der Kläger ist in seiner Mobilität nicht in diesem Sinne eingeschränkt. Dies ergibt sich überzeugend und nachvollziehbar aus den Ausführungen der O1, die ausdrücklich dargelegt hat, dass die Polyneuropathie bislang zu keiner wesentlichen Einschränkung des Gangbilds geführt hat und daher die Wegefähigkeit im oben dargelegten Sinn erhalten ist. Abgesehen davon hat der Kläger nach seinen eigenen Angaben gegenüber der Gutachterin S1 und der O1 einen Führerschein und verfügt über einen Pkw, auf den er zur Erreichung eines Arbeitsplatzes verwiesen werden kann.

Der entscheidungserhebliche medizinische Sachverhalt ist damit geklärt. Die aktenkundigen ärztlichen Unterlagen, namentlich das Sachverständigengutachten der O1 und das im Verwaltungsverfahren eingeholte, urkundsbeweislich verwertete Gutachten von S1 haben dem Senat die erforderlichen Grundlagen für seine Überzeugungsbildung vermittelt. Für eine weitere Beweiserhebung ist regelmäßig kein Raum, wenn das Gericht sich im Rahmen der Beweiswürdigung mit einander widersprechenden Gutachtensergebnissen auseinandersetzt und eines von mehreren Gutachten für überzeugend hält (vgl. BSG 01.04.2014, B 9 V 54/13 B). Erst recht gilt dies bei abweichenden Einschätzungen behandelnder Ärzte, wie hier G1 und W5

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.




 

Rechtskraft
Aus
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