L 9 KG 494/22

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Kindergeld-/Erziehungsgeldangelegenheiten
Abteilung
9
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 9 KG 2250/21
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 9 KG 494/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 4. Februar 2022 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über Kindergeld für eine volljährige Vollwaise.

Die 1976 geborene Klägerin beantragte bei der Bundesagentur für Arbeit, Familienkasse, am 20.05.2021 Kindergeld für Vollwaisen. Sie ist als schwerbehinderter Mensch mit einem Grad der Behinderung von 80 anerkannt und erhält Rente wegen voller Erwerbsminderung von der Deutschen Rentenversicherung Bund. Sie trug vor, ihre Eltern seien verstorben, die Mutter 2020, der Vater 2021.

Die Beklagte hatte dem Vater der Klägerin, A1, für die Klägerin unter der KG-Nr. xxxxxxxxx17 für die Zeit von August 2010 bis Mai 2021 Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz (EStG) gezahlt. Grundlage hierfür war u.a. § 32 Abs. 4 Nr. 3 EStG, wonach ein Anspruch auf steuerrechtliches Kindergeld unabhängig vom Alter des Kindes besteht, wenn das Kind wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten und die Behinderung vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist. Der Bewilligung des Kindergelds vorangegangen war ein finanzgerichtliches Verfahren, das mit einem Anerkenntnis durch die Beklagte endete.

Den Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 01.06.2021 ab dem Monat April 2021 ab und führte zur Begründung aus, dass gemäß § 1 Abs. 2 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) alleinstehende Kinder bzw. Waisen im Sinne des § 1 Abs. 2 BKGG, die wegen Behinderung außerstande sind, sich selbst zu unterhalten, längstens bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres berücksichtigt werden könnten. Die Klägerin habe im August 2003 das 27. Lebensjahr vollendet, ein Anspruch auf Kindergeld nach dem BKGG bestehe somit nicht.

Mit dem hiergegen am 08.06.2021 eingegangenen Widerspruch machte die Klägerin geltend, ihr sei bereits lebenslanges Kindergeld seitens des Finanzgerichtes (FG) zugesprochen worden. Fakt sei, dass sie lebenslanges Anrecht auf Kindergeld habe.

Mit Widerspruchsbescheid vom 14.06.2021 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Nach § 1 Abs. 2 BKGG werde alleinstehenden Kindern ein eigenständiger Kindergeldanspruch für sich selbst eingeräumt. Hätten diese Kinder ihr 18. Lebensjahr vollendet, bestehe der Anspruch nur unter den besonderen Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 und 3 BKGG. Im vorliegenden Fall treffe die Vorschrift des § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 zu, wonach ein Kind über 18 Jahre berücksichtigt werde, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande sei, sich selbst zu unterhalten und das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet habe. Abweichend von § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BKGG bestimme § 20 Abs. 4 Satz 2 BKGG eine Altershöchstgrenze von 27 Lebensjahren, wenn die Behinderung u. a. vor dem 01.01.2007 eingetreten sei. Jedoch sei gem. § 1 Abs. 2 Satz 3 BKGG die Berücksichtigung eines behinderten Kindes längstens bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres möglich. Die Klägerin könne kindergeldrechtlich nicht berücksichtigt werden, weil sie bereits im August 2003 das 27. Lebensjahr vollendet und somit die Altershöchstgrenze im Sinne des § 1 Abs. 2 Satz 3 (i. V. m. § 20 Abs. 4) BKGG erreicht habe.

Hiergegen hat die Klägerin am 16.07.2021 Klage zum Sozialgericht Freiburg (SG) erhoben. Zur Begründung hat sie unter Vorlage eines Schreibens des FG Baden-Württemberg (2 K 1427/18) vom 20.04.2020, gerichtet an Herrn A1, geltend gemacht, B1 vom FG Freiburg habe ihr lebenslanges Kindergeld bereits nachweislich zugesprochen. Die Kindergeldstelle habe das Kindergeld zu Unrecht eingestellt.

Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat darauf hingewiesen, dass dem Vater bis einschließlich Mai 2021 steuerrechtliches Kindergeld nach dem EStG ausbezahlt worden sei. Entgegen den Vorschriften für das steuerrechtliche Kindergeld im EStG existiere für das sozialrechtliche Kindergeld für Vollwaisen eine Altersgrenze nach § 1 Abs. 2 Satz 3 BKGG.

Nach einem entsprechenden Hinweis hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 04.02.2022 abgewiesen und sich im Wesentlichen der zutreffenden Begründung in den angefochtenen Bescheiden angeschlossen.

Gegen den ihr am 08.02.2022 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 18.02.2022 über ihre damaligen Bevollmächtigten Berufung einlegen lassen. Unter dem 07.03.2022 haben sich weitere Bevollmächtigte legitimiert. Eine Berufungsbegründung ist durch diese nicht erfolgt. Beide Bevollmächtigte haben angezeigt, dass das Mandat beendet sei.

Die Klägerin hat weitere Schreiben der Beklagten im Verfahren vor dem FG 2 K 1427/18 vorgelegt und daran festgehalten, B1 FG Freiburg, habe ihr lebenslanges Kindergeld zugesprochen. C1 (eine Bedienstete der Beklagten) könne dies bestätigen und sei als Zeugin hierzu zu vernehmen.

Mit den Beteiligten hat der Berichterstatter den Sach- und Streitstand am 12.07.2022 erörtert. Auf die Niederschrift vom selben Tag wird insoweit verwiesen.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 4. Februar 2022 sowie den Bescheid der Beklagten vom 1. Juni 2021 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 14. Juni 2021 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr auf ihren Antrag vom 20. Mai 2021 Kindergeld für sich selbst von April 2021 an bis auf weiteres zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

            die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die Entscheidungen für zutreffend.

Der Senat hat beim FG Freiburg um Aktenübersendung gebeten. Hierauf hat D1, am FG, Freiburg, telefonisch mitgeteilt, dass sie wegen des Steuergeheimnisses ohne Einverständnis des Steuerpflichtigen keine Akten übersenden könne. Da der Vater der Klägerin verstorben sei, müsse zunächst eine Erbenermittlung (die Klägerin hat wohl mehrere Geschwister) durchgeführt werden. In dem Verfahren 2 K 1427/18 sei kein Urteil ergangen, es sei durch Hauptsacheerledigung abgeschlossen worden. Die Beklagte habe ein Anerkenntnis abgegeben, das durch den Kläger angenommen worden sei. Das Verfahren sei dann übereinstimmend für erledigt erklärt worden. In der anschließenden Kostenentscheidung fänden sich keine Ausführungen zur Hauptsache.

Mit Beschluss vom 13.07.2022 hat der Senat die Berufung gemäß § 153 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) dem Berichterstatter übertragen.

Den Antrag der Klägerin, ihr Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren zu gewähren, hat der Senat mit Beschluss vom 17.08.2022 abgelehnt.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die beigezogenen Akten der Beklagten sowie auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung bleibt in der Sache ohne Erfolg.

Das Gericht konnte in o. g. Besetzung entscheiden, nachdem das SG durch Gerichtsbescheid entschieden und der Senat die Berufung nach Anhörung der Beteiligten mit Beschluss vom 13.07.2022 dem Berichterstatter übertragen hat, der zusammen mit den ehrenamtlichen Richtern entscheidet (§ 153 Abs. 5 SGG).

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung von Kindergeld. Sie wird durch die angefochtenen Entscheidungen nicht in ihren Rechten verletzt.

Als Anspruchsgrundlage auf Gewährung von Kindergeld für die alleinstehende und nicht erwerbstätige, 1976 geborene und damit 46 Jahre alte Klägerin kommt nur § 1 Abs. 2 BKGG in Betracht (vgl. § 25 Abs. 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch). Danach erhält Kindergeld für sich selbst, wer
1. in Deutschland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat,
2. Vollwaise ist oder den Aufenthalt seiner Eltern nicht kennt und
3. nicht bei einer anderen Person als Kind zu berücksichtigen ist.
Diese Voraussetzungen sind zwar erfüllt, nachdem die Klägerin ihren Wohnsitz in Deutschland hat, nach dem Versterben ihrer Eltern (die Mutter 2020, der Vater 2021) Vollwaise ist und auch nicht bei einer anderen Person als Kind zu berücksichtigen ist. Allerdings ist über § 1 Abs. 2 Satz 2 BKGG zu beachten, dass ein solcher Anspruch vom Gesetzgeber nicht „lebenslang“ – wie die Klägerin meint – ausgestaltet wurde. Denn über den Verweis auf den Absatz 2 des § 2 BKGG und wegen § 1 Abs. 2 Satz 3 BKGG können Ansprüche auf sozialrechtliches Kindergeld über die Vollendung des 25. Lebensjahres nicht geltend gemacht werden. Denn gerade in dem von der Klägerin geltend gemachten Fall des § 2 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BKGG einer bestehenden körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung, die dazu führt, dass sich der behinderte Mensch nicht selbst zu unterhalten vermag, gilt aufgrund des § 1 Abs. 2 Satz 3 BKGG, dass Kindergeld längstens bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres gewährt wird. Dieses Alter wird aufgrund des Geburtsjahres der Klägerin 1976 inzwischen (und auch schon zum Zeitpunkt der Antragstellung im Mai 2021) weit überschritten. Insoweit kommt es auch nicht darauf an, ob – wie die Beklagte zunächst ausgeführt hatte – über die Übergangsvorschrift des § 20 Abs. 4 BKGG eine Altersgrenze von 27 Jahren anzunehmen ist.

Soweit die Klägerin den Anspruch unter anderem unter Verweis auf einen Auszug aus dem Merkblatt der Familienkasse („Merkblatt Kindergeld, Informationen und Erklärungen, Rechte und Pflichten, Fragen und Antworten“), den sie auch in der mündlichen Verhandlung nochmals vorgelegt hat, zu begründen versucht, führt dies nicht weiter, da diese Ausführungen im Zusammenhang mit Erläuterungen bezogen auf Ansprüche „für Kinder“ von Berechtigten, im Wesentlichen von Eltern, gemacht werden, zu sehen sind. Für Ansprüche, die Vollwaisen geltend machen können, hält die Familienkasse ein eigenes Merkblatt vor („Merkblatt Kindergeld für Vollwaisen oder Kinder, die den Aufenthaltsort ihrer Eltern nicht kennen“). Dort wird auf den nur zeitlich begrenzten Anspruch (bis zum 25. Lebensjahr) auch hingewiesen. Insoweit sind die gemachten Hinweise weder unzutreffend noch begründen sie einen Anspruch der Klägerin auf (ihr materiellrechtlich nicht zustehendes) Kindergeld.

Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die Klägerin keine Rechte aus dem finanzgerichtlichen Verfahren des Vaters der Klägerin gegen die Beklagte herleiten kann. Die Kindergeldfestsetzung gegenüber dem kindergeldberechtigten Vater als personenbezogener Verwaltungsakt hat infolge des Todes des Vaters entsprechend § 124 Abs. 2 Abgabenordnung (AO) seine Erledigung gefunden (FG Hamburg, Urteil vom 28. Juni 2017 – 5 K 155/16 –, Rn. 21, juris), besteht also nicht zugunsten der Klägerin fort. Die Beklagte hat also das Schreiben der Klägerin zurecht als Antrag auf Gewährung von Kindergeld behandelt. Der Vortrag der Klägerin, in dem Verfahren des Vaters der Klägerin gegen die Beklagte sei ihr „lebenslanges“ Kindergeld zugesprochen worden, beruht insoweit ganz offensichtlich auf einem Missverständnis der Klägerin. Sie verkennt, dass ein Kindergeldanspruch – wie sich aus § 62 Abs. 1 EStG und § 74 Abs. 1 EStG ergibt – nicht gegenüber dem Kind festgesetzt wird, sondern zugunsten eines Elternteils. Sind beide Eltern eines Kindes verstorben besteht materiell-rechtlich kein Kindergeldanspruch nach dem EStG (vgl. Niedersächsisches FG, Urteil vom 13. Januar 2010 – 16 K 337/09 –, Rn. 15f., juris). Der Anspruch des Vaters auf Gewährung von Kindergeld für die Klägerin war – unter Berücksichtigung der in diesem Verfahren anzuwendenden steuerrechtlichen Vorschriften (§§ 62ff. EStG) – nicht auf die Vollendung des 25. Lebensjahres beschränkt, sondern konnte wegen der erfüllten Voraussetzungen in § 32 Abs. 4 Nr. 3 EStG („Ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, wird berücksichtigt, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten; Voraussetzung ist, dass die Behinderung vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist“) über das 25 Lebensjahr hinaus gewährt werden. Er endete, worauf bereits hingewiesen wurde, mit dem Tod des Berechtigten, hier des Vaters der Klägerin. Eine förmliche Entscheidung, ein Urteil oder ein die Hauptsache abschließender Beschluss, ist in diesem Verfahren (auch gegenüber dem Vater) im Übrigen nicht ergangen, was auf telefonische Auskunft des FG Freiburg (D1, deren Angaben im Termin verlesen wurden) bestätigt wurde. Eine von der nicht an diesem Verfahren beteiligten (vgl. § 57 Finanzgerichtsordnung) Klägerin behauptete, lediglich mündlich geäußerte Aussage des dortigen Richters bindet den Senat nicht, auch wenn eine solche Aussage („die Klägerin des vorliegenden Verfahrens hätte Anspruch auf lebenslanges Kindergeld“) als wahr unterstellt würde. Einer Beiziehung von Akten bedurfte es daher nicht und auch die von der Klägerin angeregte Zeugeneinvernahme der C1, die eine solche Aussage bestätigen soll, war zur Klärung des geltend gemachten Anspruches der Klägerin nach dem BKGG nicht erforderlich. Das von der Klägerin vorgelegte vom FG Baden-Württemberg an den Vater, Herrn A1, gerichtete Schreiben bestätigt zudem, dass Ansprüche des Vaters auf Kindergeld für seine Tochter A2 und nicht (auch) Ansprüche der Klägerin Gegenstand dieses Verfahrens waren („Das Gericht stellt in den Raum, dass Kindergeld für A2  gewährt“ wird). Eine darüber hinaus von der Klägerin behauptete nur mündliche Auskunft in diesem Verfahren, die gegenüber dem Vater zutreffend sein mag, gegenüber der Klägerin aber nicht, und die die Klägerin offensichtlich missverstanden hat, vermag einen Anspruch auf Kindergeld nach dem BKGG nicht zu begründen.

In Übereinstimmung mit dem SG vermag der Senat auch eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung und damit einen Verstoß gegen Art. 3 Grundgesetz von Vollwaisen, die zeitlich beschränkt Kindergeld für sich selbst beanspruchen können, und Eltern, die ohne Altersgrenze Kindergeld für behinderte Kinder, die außerstande sind, sich selbst zu unterhalten, nicht festzustellen. Der Senat schließt sich insoweit den Ausführungen des Bundessozialgerichts (BSG) vom 19.02.2009 (B 10 KG 2/07 R) – wie bereits das SG – in vollem Umfang an.

Die Berufung war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, bestehen nicht.



 

Rechtskraft
Aus
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