B 2 U 3/21 R

Land
Bundesrepublik Deutschland
Sozialgericht
Bundessozialgericht
Sachgebiet
Unfallversicherung
1. Instanz
SG Potsdam (BRB)
Aktenzeichen
S 12 U 1/16
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 3 U 4/17
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 2 U 3/21 R
Datum
Kategorie
Urteil
Leitsätze

1. In der Schülerunfallversicherung scheidet im Rahmen des sachlichen Zusammenhangs die objektivierte Handlungstendenz als Zurechnungsgesichtspunkt aus, weil das Steuerungsvermögen von Schülern in der Regel durch kognitive Defizite, alterstypische Selbstüberschätzung, gruppendynamische Prozesse und die Orientierung am Handeln Gleichaltriger gestört ist.

2. Zurechnungsgesichtspunkte des sachlichen Zusammenhangs sind in der Schülerunfallversicherung vor allem der Schutzzweck der Norm, deren Einbettung in die Gesamtrechtsordnung und die Grundprinzipien der Unfallversicherung.

 

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. Juni 2020 aufgehoben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 18. November 2016 zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers auch im Berufungs- und Revisionsverfahren.


G r ü n d e :

I

1
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger als Schüler einen Wegeunfall erlitten hat.

2
Der 1999 geborene Kläger war Gymnasiast und bestieg am 21.1.2015 nach Schulende den Regionalexpress, um nach Hause zu fahren. Während der Fahrt öffnete er die verschlossene Durchgangstür des letzten Waggons mit einem mitgeführten Vierkantschlüssel und stieg auf die dahinterliegende, den Zug schiebende Lok. Auf dem Dach der Lok wurde er von einem Lichtbogen aus der Starkstrom führenden Oberleitung erfasst und stürzte von der Lok. Er überlebte schwer verletzt und zog sich ua hochgradige Verbrennungen von ca 35 % der Körperoberfläche zu.

3
Die Beklagte lehnte es ab, das Ereignis als Arbeitsunfall anzuerkennen, weil der Kläger den Schulweg mit dem Besteigen der Lok aus eigenwirtschaftlichen Gründen unterbrochen und sich deshalb von der versicherten Tätigkeit gelöst habe (Bescheid vom 12.6.2015; Widerspruchsbescheid vom 27.11.2015). Das SG hat die Bescheide aufgehoben und festgestellt, dass der Unfall ein versicherter Unfall iS des § 8 SGB VII war. Der damals knapp 16jährige Kläger habe seinen Schulfreunden imponieren und eigene Grenzen austesten wollen, sei pubertätsbedingt leichtsinnig und aufgrund der Gruppendynamik übermäßig risikobereit gewesen und habe aufgrund mangelnder Reife, fehlender Einsichtsfähigkeit und Selbstüberschätzung darauf vertraut, die Gefahr kontrollieren zu können (Urteil vom 18.11.2016).

4
Das LSG hat die Klage abgewiesen. Bei Schülern sei Wegeunfallversicherungsschutz zwar auch für spielerische Betätigungen zu bejahen, wenn sich diese unter Berücksichtigung besonderer schülergruppendynamischer Prozesse noch im Rahmen hielten. Im Falle des Klägers sei indes keine besondere Gruppendynamik erkennbar. Der Geschehensablauf lasse vielmehr eine zielgerichtete Zäsur der versicherten Heimfahrt erkennen. Zum Unfallzeitpunkt habe der Kläger auch über die geistige Reife verfügt, die Gefährlichkeit seines Handelns zu erkennen (Urteil vom 11.6.2020).

5
Mit der Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 8 Abs 1 Satz 1 SGB VII. Das LSG stelle auf seine Schulnoten, die angeblich vorhandene Intelligenz und Ratio ab, ohne zugleich sein pubertätsbedingtes besonderes Geltungsbedürfnis und angeberisches Imponiergehabe sowie den kindlichen Spieltrieb zu berücksichtigen. Damit räume es einem intelligenten 15jährigen Schüler fälschlicherweise einen niedrigeren Versicherungsschutz als einem nur durchschnittlich begabten gleichaltrigen Schüler ein. Gerade pubertierende, männliche Jugendliche  auch mit hoher Intelligenz  kämen aufgrund massiver Selbstüberschätzung und mangelnder Lebenserfahrung oft zu fatalen Fehleinschätzungen. Ihm sei nicht klar gewesen, dass er einen Lichtbogen auslösen und einen lebensgefährlichen Stromschlag erleiden könne. Vielmehr habe er aus seiner subjektiven Sicht angenommen, die Gefahr beherrschen zu können, weil er bereits monatelang "gefahrlos" mit der S-Bahn gesurft sei und deshalb nach dem Motto "was bisher gut ging, wird auch weiter gutgehen" gehandelt habe. Zudem beruhe der Unfall auf einer gruppentypischen Gefahrenlage, weil er den übrigen Mitschülern sein Handeln angekündigt habe und sich hiermit in der Gruppe profilieren und in den Vordergrund habe schieben wollen. Die Annahme einer den Wegeunfallversicherungsschutz ausschließenden Zäsur zwischen Heimfahrt und dem Besteigen der Lok sei willkürlich und lebensfremd.

6
Der Kläger beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 11. Juni 2020 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 18. November 2016 zurückzuweisen.

7
Die Beklagte, die in der mündlichen Verhandlung nicht vertreten war, beantragt schriftsätzlich,
die Revision des Klägers als unzulässig zu verwerfen,
hilfsweise,
als unbegründet zurückzuweisen.


II

8
Die zulässige Revision (dazu nachfolgend A.) ist begründet (dazu nachfolgend B.), sodass der Senat in der Sache selbst zu entscheiden hat (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG).

9
A. Die Revision des Klägers ist zulässig. Die Revisionsbegründung entspricht den gesetzlichen Anforderungen des § 164 Abs 2 Satz 3 SGG. Danach muss die Begründung der Revision einen bestimmten Antrag enthalten, die verletzte Rechtsnorm und, soweit Verfahrensmängel gerügt werden, die Tatsachen bezeichnen, die den Mangel ergeben. Der Kläger hat in der Revisionsbegründung einen Antrag gestellt, der Umfang, Richtung und Ziel des Revisionsangriffs erkennen lässt (vgl dazu BSG Urteile vom 28.6.2022  B 2 U 9/20 R  juris RdNr 11 mwN und vom 27.11.2018  B 2 U 28/17 R  SozR 42700 § 8 Nr 68 RdNr 11) und als verletzte Rechtsnorm § 8 Abs 1 Satz 1 SGB VII bezeichnet. Zudem müssen bei Sachrügen unter Auseinandersetzung mit der Begründung der angefochtenen Entscheidung die Gründe aufgezeigt werden, die die vorinstanzliche Entscheidung als unrichtig erscheinen lassen. Der Revisionsführer muss mithin erkennen lassen, dass er sich mit der angefochtenen Entscheidung befasst hat und inwieweit er bei der Auslegung der angewandten Rechtsvorschriften anderer Auffassung ist, dh angeben, warum das angefochtene Urteil auf der Verletzung der gerügten Vorschrift(en) des Bundesrechts beruht (§ 162 SGG). Diesen Anforderungen genügt die Revisionsschrift des Klägers, wie sie in dem Beschluss des Großen Senats des BSG vom 13.6.2018 (GS 1/17  BSGE 127, 133 = SozR 41500 § 164 Nr 9) konkretisiert worden sind. Die Revisionsbegründung setzt sich mit den Entscheidungsgründen der vorinstanzlichen Entscheidung noch hinreichend auseinander und lässt erkennen, aus welchen Gründen der Kläger die Entscheidung des LSG für unzutreffend hält. Entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten muss in der Revisionsbegründung weder die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt noch eine Rechtsprechungsabweichung bezeichnet werden.

10
B. Die Revision ist auch begründet. Zu Unrecht hat das LSG auf die Berufung der Beklagten das zusprechende Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 Var 1, § 55 Abs 1 Nr 1, § 56 SGG) ist begründet, weil die Ablehnungsentscheidung im Bescheid vom 12.6.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.11.2015 (§ 95 SGG) rechtswidrig ist. Der Kläger hat einen Anspruch auf die gerichtliche Feststellung, dass sein Unfall vom 21.1.2015 ein Arbeitsunfall ist. Denn er ist auf einem gemäß § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII versicherten (Heim)Weg von dem Ort der Tätigkeit verunglückt.

11
Arbeitsunfälle sind nach § 8 Abs 1 Satz 1 SGB VII Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Versicherte Tätigkeit ist auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Wegs nach und von dem Ort der Tätigkeit (§ 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen (§ 8 Abs 1 Satz 2 SGB VII). Ein Arbeitsunfall setzt mithin voraus, dass die Verrichtung zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer oder sachlicher Zusammenhang), sie zu dem zeitlich begrenzten, von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis  dem Unfallereignis  geführt (Unfallkausalität) und dass das Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten objektiv und rechtlich wesentlich verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität; stRspr, zuletzt zB BSG Urteile vom 28.6.2022  B 2 U 16/20 R  BSGE 134, 203 = SozR 4-2700 § 8 Nr 82 <vorgesehen> = juris RdNr 11 sowie B 2 U 8/20 R  SozR 42700 § 2 Nr 58 <vorgesehen> = juris RdNr 12, vom 31.3.2022  B 2 U 5/20 R  SozR 42700 § 8 Nr 79 <vorgesehen> = juris RdNr 13, vom 30.1.2020  B 2 U 20/18 R  SozR 42700 § 8 Nr 74 RdNr 9 und B 2 U 2/18 R  BSGE 130, 1 = SozR 42700 § 8 Nr 70, RdNr 20, jeweils mwN). Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Der Kläger hat als "Versicherter" (dazu 1.) einen "Unfall" (dazu 2.) "infolge" eines versicherten Heimwegs erlitten, weil er sich im Unfallzeitpunkt mit der (objektivierten) Handlungstendenz von der Schule nach Hause fortbewegte (dazu 3.) und die unfallbringende Verrichtung dem Zurücklegen des Heimwegs noch zuzurechnen ist (dazu 4.).

12
1. Als Schüler eines allgemeinbildenden Gymnasiums war der Kläger gemäß § 2 Abs 1 Nr 8 Buchst b Var 1 SGB VII "Versicherter" in der gesetzlichen Schülerunfallversicherung.

13
2. Er hat auch einen "Unfall" erlitten, als er nach den bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) am 21.1.2015 auf dem Nachhauseweg von dem Lichtbogen aus der Starkstrom führenden Oberleitung erfasst wurde, von der fahrenden Lokomotive stürzte und sich dabei lebensgefährliche Verletzungen zuzog. Die Unfallkausalität zwischen der Verrichtung des Klägers zum Unfallzeitpunkt, dem Besteigen der ELok während der Heimfahrt, und dem Unfallereignis, dem lichtbogenbedingten Sturz von der ELok, liegt vor. Sie entfällt nicht deshalb, weil der Kläger die Gefahr selbst geschaffen hat.

14
Die Unfallkausalität liegt stets vor, wenn die Gefahrerhöhung unternehmensdienlich war oder aus der Perspektive des Verletzten unternehmensdienlich sein sollte (zur Unfallkausalität vgl BSG Urteil vom 9.5.2006  B 2 U 1/05 R  BSGE 96, 196 = SozR 42700 § 8 Nr 17, RdNr 10). Es existiert kein Rechtssatz, wonach der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung endet, wenn sich der Verletzte bewusst einer höheren Gefahr aussetzt und dadurch zu Schaden kommt (BSG Urteil vom 12.4.2005  B 2 U 11/04 R  BSGE 94, 262 = SozR 42700 § 8 Nr 14, RdNr 15), zumal nach § 7 Abs 2 SGB VII selbst verbotswidriges Verhalten den Versicherungsschutz nicht ausschließt. Daher sind auch selbstverschuldete Unfälle grundsätzlich (Ausnahme: § 101 Abs 2 Satz 1 SGB VII) zu entschädigen. Dass sich der Kläger zumindest ordnungswidrig (§ 64b Abs 1 Nr 2 und 3, Abs 2 Nr 1 Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung iVm § 28 Abs 1 Nr 9 Allgemeines Eisenbahngesetz) verhielt, hat hier keine Auswirkung.

15
Die selbstgeschaffene Gefahr ist somit erst, aber auch immer dann bedeutsam, wenn ihr  wie hier  auch versicherungsfremde Motive zugrunde liegen (BSG Urteile vom 12.4.2005  B 2 U 11/04 R  BSGE 94, 262 = SozR 42700 § 8 Nr 14, RdNr 15 mwN und vom 4.6.2002  B 2 U 11/01 R  SozR 32700 § 8 Nr 10 S 43 f). In dieser Situation sind die versicherungsbezogenen und fremden Motive bei der Beurteilung der Unfallkausalität als versicherte und nichtversicherte Ursachen unter und gegeneinander abzuwägen (BSG Urteil vom 5.9.2006  B 2 U 24/05 R  BSGE 97, 54 = SozR 42700 § 8 Nr 18, RdNr 19). Für den Ursachenzusammenhang gilt die Theorie der wesentlichen Bedingung, die zunächst auf der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie beruht. Danach ist Ursache eines Erfolgs jede Bedingung, die nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg in seiner konkreten Gestalt entfiele (conditio-sine-qua-non). Erst wenn auf dieser sog ersten (rein tatsächlichen) Stufe feststeht, dass eine bestimmte Bedingung eine naturwissenschaftlich-philosophische Ursache des Erfolgs ist, stellt sich auf der sog zweiten (Wertungs)Stufe die Frage, ob der versicherten Ursache ein hinreichend gewichtiger Verursachungsanteil zugerechnet werden kann oder ob die private, unversicherte Ursache von überragender Bedeutung ist (BSG Urteil vom 30.3.2017  B 2 U 6/15 R  BSGE 123, 24 = SozR 45671 Anl 1 Nr 1103 Nr 1, RdNr 16).

16
Vorliegend war sowohl die versicherte als auch die unversicherte Verrichtung für den Unglücksfall ursächlich: Hätte der Kläger den unmittelbaren (Heim)Weg von der Schule nach Hause mit der E-Lok nicht zurückgelegt und wäre er nicht auf die fahrende Lok geklettert, wäre es weder zur Auslösung des Lichtbogens noch zu dem Absturz von der Lok gekommen. Dabei war das Zurücklegen des unmittelbaren Wegs von dem Ort der Tätigkeit bei wertender Betrachtung noch rechtlich wesentlich, weil das Besteigen der ELok für den Schadenseintritt zwar erhebliche, aber jedenfalls hier in der Schülerunfallversicherung (noch) keine überragende Bedeutung hatte. Ob die versicherte Ursache rechtlich wesentlich war, muss nach der Auffassung des praktischen Lebens über die besondere Beziehung der Ursachen zum Eintritt des Erfolgs vom Rechtsanwender wertend entschieden werden (BSG Urteile vom 6.10.2020  B 2 U 10/19 R  SozR 42700 § 73 Nr 2 RdNr 32, vom 30.3.2017  B 2 U 6/15 R  BSGE 123, 24 = SozR 45671 Anl 1 Nr 1103 Nr 1, RdNr 23, vom 17.2.2009  B 2 U 18/07 R  SozR 42700 § 8 Nr 31 RdNr 12 und grundlegend vom 9.5.2006  B 2 U 1/05 R  BSGE 96, 196 = SozR 42700 § 8 Nr 17). Die Wesentlichkeit einer (Mit)Ursache ist eine reine Rechtsfrage, die sich nach dem Schutzzweck der Norm beantwortet (BSG Urteil vom 6.10.2020  B 2 U 10/19 R  SozR 42700 § 73 Nr 2 RdNr 32). Sie ist zu bejahen, wenn die versicherte Ursache rechtlich unter Würdigung auch aller festgestellten mitwirkenden unversicherten Ursachen die Realisierung einer in den Schutzbereich des jeweils erfüllten Versicherungstatbestandes fallenden Gefahr ist. Eine Rechtsvermutung dafür, dass die versicherte Bedingung wegen ihrer objektiven Mitverursachung auch rechtlich wesentlich war, besteht nicht. Die Wesentlichkeit ist vielmehr zusätzlich und eigenständig nach Maßgabe des Schutzzwecks der jeweils begründeten Versicherung zu beurteilen (BSG Urteile vom 30.3.2017  B 2 U 6/15 R  BSGE 123, 24 = SozR 45671 Anl 1 Nr 1103 Nr 1, RdNr 23, vom 13.11.2012  B 2 U 19/11 R  BSGE 112, 177 = SozR 42700 § 8 Nr 46, RdNr 37 und vom 30.1.2007  B 2 U 15/05 R  SozR 45671 Anl 1 Nr 4104 Nr 2 RdNr 23).

17
Der Wegeunfallschutz (§ 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII) speziell in der Schülerunfallversicherung (§ 2 Abs 1 Nr 8 Buchst b SGB VII) hat den Zweck, Kinder und Jugendliche (§ 7 Abs 1 Nr 1 und 2 SGB VIII) gerade vor Risiken, (Wege)Gefahren und Rechtsgutsverletzungen der konkret eingetretenen Art zu bewahren. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass Schüler verpflichtet sind, Schulwege zurückzulegen, um ihre Schulbesuchspflicht zu erfüllen, dass auf diesen Wegen keine Aufsicht gewährleistet ist, gerade Verkehrsunfälle häufig zu schweren oder gar tödlichen Verletzungen führen, sich Kinder und Jugendliche im Verkehrsraum häufig fehlverhalten, deshalb statistisch besonders gefährdet (vgl dazu Statistisches Bundesamt, Kinderunfälle im Straßenverkehr 2019, S 10 f) und entsprechend schutzbedürftig sind (Karmanski, SozSich 2020, 351, 352). Damit korrespondiert ein besonders hohes Schutzniveau auf Schulwegen, die das größte Versicherungswagnis in der Schülerunfallversicherung darstellen (Bruno in Schlaeger/Linder/Bruno, Unfallversicherung für Kinder in Tagesbetreuung, Schüler und Studierende, 2. Aufl 2020, § 7 RdNr 28). Auch wenn bei Schülern  anders als bei Kindern in Tagesbetreuung (§ 2 Abs 1 Nr 8 Buchst a SGB VII)  bereits eigenwirtschaftliche, den Versicherungsschutz ausschließende Tätigkeiten vorkommen (können) und das Schutzniveau deshalb mit steigendem Alter und zunehmender (geistiger) Reife tendenziell abnimmt, sind Schüler gleichwohl aufgrund ihres jugendlichen Alters sowie ihres Spiel- und Nachahmungstriebs in aller Regel vor dem Verdikt des Unversicherten geschützt (Schlaeger in Schlaeger/Linder/Bruno, Unfallversicherung für Kinder in Tagesbetreuung, Schüler und Studierende, 2. Aufl 2020, § 1 RdNr 20). Dabei wird berücksichtigt, dass Jugendliche per se risikobereiter als Erwachsene sind und gerade die Pubertät eine gefährliche Lebensphase ist. Hinzu kommt, dass der Begriff "selbstgeschaffene Gefahr" nach ständiger Senatsrechtsprechung eng auszulegen und seit jeher  selbst in der Unfallversicherung Erwachsener  nur mit größter Zurückhaltung angewendet wird (BSG Urteile vom 12.4.2005  B 2 U 11/04 R  BSGE 94, 262 = SozR 42700 § 8 Nr 14, RdNr 8, vom 4.6.2002  B 2 U 11/01 R  SozR 32700 § 8 Nr 10 S 43, vom 4.11.1981  2 RU 51/80  SozR 2200 § 550 Nr 48, vom 5.8.1976  2 RU 231/74  BSGE 42, 129 = SozR 2200 § 548 Nr 22 und grundlegend vom 10.12.1957  2 RU 270/55  BSGE 6, 164, 169).

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Auf dieser Grundlage kommt der selbstgeschaffenen Gefahr, die der damals fast 16jährige Kläger mit dem Besteigen der fahrenden ELok heraufbeschworen hat, in Abwägung mit dem versicherten Zurücklegen des unmittelbaren Heimwegs zwar erhebliche, aber (noch) keine überragende Bedeutung zu. Gegen die Annahme des LSG, das eigenmächtige Öffnen der versperrten Waggontür und das Besteigen der ELok stellten eine versicherungsschädliche Zäsur dar und hätten für den Unfall überragende Bedeutung, spricht entscheidend, dass der Wegebezug gleichwohl erhalten blieb: Der Kläger bewegte sich  zwangsläufig mit dem Zug  objektiv auf der zur elterlichen Wohnung führenden direkten Route, die ihren Ausgangspunkt an der Schule als dem Ort der versicherten Tätigkeit hatte. Er befand sich somit auf dem unmittelbaren Weg zwischen dem Ort der Tätigkeit und der Wohnung, was bei wertender Betrachtung der Verursachungsanteile nicht in den Hintergrund tritt. So hat auch der 8. Senat des BSG (Urteil vom 20.5.1976  8 RU 98/75  BSGE 42, 42, 47 = SozR 2200 § 550 Nr 14) dem LSG im Fall eines 17jährigen Schulpendlers aufgegeben zu ermitteln, ob er sich auf dem versicherten Weg oder einem unversicherten Umweg befand, als er beim einstündigen Warten auf den Zug, der ihn nach Hause bringen sollte, mit Sprengkörpern hantierte und sich verletzte. Obwohl die private Verrichtung (Spiel mit Sprengkörpern) hervorstach, ist Unfallversicherungsschutz nicht deshalb verneint worden, weil die selbstgeschaffene Gefahr überragende Bedeutung gehabt hätte und für den Unfall allein wesentlich gewesen sei. Denn das BSG hat im Rahmen der Abwägung versicherungsfremder mit versicherungsbezogenen Verursachungsanteilen schon immer betont, dass dabei "wesentlich" nicht gleichzusetzen ist mit "gleichwertig" oder "annähernd gleichwertig". Auch eine nicht annähernd gleichwertige, sondern lebenspraktisch verhältnismäßig niedriger zu bewertende Ursache kann für den Erfolg rechtlich wesentlich sein, solange die andere Ursache  wie hier  unter Berücksichtigung aller Einzelfallumstände keine überragende Bedeutung hat (BSG Urteile vom 6.10.2020  B 2 U 10/19 R  SozR 42700 § 73 Nr 2 RdNr 33, vom 30.3.2017  B 2 U 6/15 R  BSGE 123, 24 = SozR 45671 Anl 1 Nr 1103 Nr 1, RdNr 23 und vom 30.1.2007  B 2 U 15/05 R  SozR 45671 Anl 1 Nr 4104 Nr 2 RdNr 22). Dabei ist das "Mitverschulden" des vorsätzlich handelnden Klägers "gegen sich selbst" irrelevant (zu diesem Gesichtspunkt BSG Urteil vom 23.6.2020  B 2 U 5/19 R  BSGE 130, 226 = SozR 4-2700 § 202 Nr 1, RdNr 30), weil die Einstandspflicht des Unfallversicherungsträgers von Fragen der persönlichen Vorwerfbarkeit nicht abhängt. Folglich kommt es weder entscheidend auf die geistige Reife oder die Einsichtsfähigkeit des Klägers zum Unfallzeitpunkt noch auf das Maß der Unvernunft an, wie das LSG unter Berufung auf die nichttragenden Ausführungen des 8. Senats in dem bereits erwähnten Urteil vom 20.5.1976 (8 RU 98/75  BSGE 42, 42, 47 = SozR 2200 § 550 Nr 14) angenommen hat.

19
3. Der Kläger legte im Unfallzeitpunkt den unmittelbaren (Heim)Weg von der Schule als dem Ort der Tätigkeit objektiv zurück (dazu a) und seine Handlungstendenz war darauf auch subjektiv ausgerichtet (dazu b).

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a) "Weg" ist die Strecke zwischen einem Start- und einem Zielpunkt. Bei allen (Rück)Wegen setzt § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII nur den Ort der versicherten Tätigkeit als Startpunkt fest ("von"), lässt aber das Ziel offen. Daher ist in jedem Einzelfall festzustellen, welches individuelle Ziel der Versicherte ansteuerte, als er verunglückte. Zwischen dem gesetzlich festgelegten Startpunkt und dem ermittelten Zielpunkt ist nicht der Weg an sich, sondern dessen Zurücklegen versichert, also das "Sichfortbewegen" bzw "Unterwegssein" auf der Strecke zwischen beiden Punkten mit der Handlungstendenz, den  typischerweise im Privatbereich gelegenen  Zielort zu erreichen (BSG Urteil vom 28.6.2022  B 2 U 16/20 R  BSGE 134, 203 = SozR 4-2700 § 8 Nr 82 <vorgesehen> = juris RdNr 12 mwN). Im Unfallzeitpunkt war Ziel des Wegs hier die elterliche Wohnung. Als der Kläger von dem Lichtbogen erfasst wurde und von der fahrenden Lokomotive stürzte, bewegte er sich mit dem Zug objektiv auf der zur Wohnung führenden direkten Route, die ihren Ausgangspunkt an der Schule als dem Ort der versicherten Tätigkeit hatte. Er befand sich somit auf dem unmittelbaren Weg zwischen dem Ort der Tätigkeit und der angesteuerten Wohnung, wie auch das LSG angenommen hat.

21
b) Der Kläger war im Unfallzeitpunkt  jedenfalls auch  mit der Handlungstendenz unterwegs, die Wohnung zu erreichen. Denn er wollte mit dem Zug den Zielbahnhof erreichen. Keinesfalls wollte er sein Leben mit dem Besteigen der Lok beenden; einen Suizidversuch hat er in der bundespolizeilichen Vernehmung vom 31.3.2015 ausdrücklich verneint. Vielmehr hat er gegenüber zwei Mitarbeiterinnen der Beklagten am 15.4.2015 angegeben, er habe weder "daran gedacht, dass etwas passiert" noch mit einem Unfall gerechnet, sondern darauf vertraut, das Verlassen des Waggons und den Aufenthalt auf der ELok unbeschadet zu überstehen und wohlbehalten am Zielbahnhof anzukommen. Damit war das objektiv beobachtbare Verhalten (Besteigen der Lok) subjektiv  zumindest auch  auf die Erfüllung des Tatbestands der versicherten Tätigkeit (Zurücklegen des Heimwegs iS des § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII) gerichtet (vgl dazu BSG Urteile vom 28.6.2022  B 2 U 16/20 R  BSGE 134, 203 = SozR 4-2700 § 8 Nr 82 <vorgesehen> = juris RdNr 13 und vom 10.8.2021  B 2 U 2/20 R  NZS 2022, 778 = juris RdNr 18). Denn als der Kläger den Fahrgastraum verließ und auf die Lokomotive kletterte, bewegte er sich sowohl nach seiner Vorstellung als auch aus der Sicht eines objektiven Beobachters auf dem unmittelbaren Heimweg.

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4. Die konkret-individuelle Verrichtung zur Zeit des Unfalls, das Klettern auf das Dach der fahrenden Lokomotive, ist dem abstrakt-generell versicherten Zurücklegen des Heimwegs jedenfalls in der Schülerunfallversicherung noch zuzurechnen. Ob dieser innere bzw sachliche Zusammenhang zwischen der Verrichtung einer grundsätzlich versicherten Person zur Zeit des Unfalls und der versicherten Tätigkeit besteht, muss wertend entschieden werden (zuletzt BSG Urteile vom 31.3.2022  B 2 U 5/20 R  SozR 42700 § 8 Nr 79 <vorgesehen> = juris RdNr 17 und vom 27.11.2018  B 2 U 7/17 R  SozR 42700 § 8 Nr 66 RdNr 11). Es ist daher zu untersuchen, ob die Verrichtung innerhalb der Grenze liegt, bis zu welcher Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung reicht (BSG Urteile vom 27.11.2018  B 2 U 7/17 R  SozR 42700 § 8 Nr 66 RdNr 11, vom 4.7.2013  B 2 U 5/12 R  SozR 42200 § 1150 Nr 2 RdNr 18, vom 12.4.2005  B 2 U 5/04 R  SozR 42700 § 2 Nr 4 RdNr 5, vom 28.4.2004  B 2 U 26/03 R  SozR 42700 § 8 Nr 5 RdNr 5, vom 6.5.2003  B 2 U 33/02 R  juris RdNr 14 und vom 7.11.2000  B 2 U 39/99 R  SozR 32700 § 8 Nr 3 S 15).

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Während der (wegerechtliche) Zielort, den der Verletzte im Unfallzeitpunkt objektiv und subjektiv ansteuert, grundsätzlich anhand der objektivierten Handlungstendenz festzustellen ist (dazu 3.), scheidet dieses Kriterium als Zurechnungsgesichtspunkt für den sachlichen Zusammenhang in der Schülerunfallversicherung weitgehend aus (BSG Urteil vom 31.3.2022  B 2 U 5/20 R  SozR 42700 § 8 Nr 79 <vorgesehen> = juris RdNr 17). Denn das Kriterium der objektivierten Handlungstendenz setzt voraus, dass der Versicherte den Erfolg seines Tuns sowie den intendierten Kausalverlauf in seinen wesentlichen Grundzügen voraussehen und sein Verhalten dieser Zielsetzung entsprechend zweckorientiert anpassen kann. Typischerweise verfügen Kinder und Jugendliche und vielfach auch junge Erwachsene aber weder über das Steuerungsvermögen Beschäftigter mit entsprechender Impulskontrolle noch können sie die Folgen ihrer Handlungen zuverlässig einschätzen. Da sich bei ihnen aus einem anfänglichen Gefahrempfinden erst allmählich ein vorausschauendes, mit zunehmender Reife auch ein vorbeugendes Gefahrbewusstsein mit Verständnis für Präventionsmaßnahmen entwickelt, sind sie latent gefährdet und entsprechend schutzbedürftig (vgl zu alledem BSG Urteil vom 31.3.2022  B 2 U 5/20 R  SozR 42700 § 8 Nr 79 <vorgesehen> = juris RdNr 17; Karmanski, SozSich 2020, 351, 352). Hinzu kommt, dass in der Pubertät insbesondere Jugendliche dazu neigen, das eigene Wissen und die eigenen Fähigkeiten zu überschätzen, dh sie glauben, bestimmte Situationen, Risiken und Herausforderungen stärker zu beherrschen, als dies tatsächlich der Fall ist. Unterstützung erfährt diese Selbstüberschätzung durch die Bereitschaft, Erfolge den eigenen Fähigkeiten zuzuschreiben. Damit verstärken Erfolge (zB beim Bahnsurfen) die alterstypische Selbstüberschätzung, was zu einer erlernten Sorglosigkeit führen kann. Die Erfolgsserie entwöhnt den Jugendlichen von Misserfolgen und steigert damit seine Risikobereitschaft im Rahmen positiver Rückkopplung. Dazu kommt, dass Menschen bei ihrer individuellen Risikoanalyse spontan auf kognitiv verfügbare Informationen in ihrem Gedächtnis zurückgreifen, Jugendliche aber aufgrund ihres Alters noch nicht über die einschlägigen (Lebens)Erfahrungen verfügen (können), sondern Gefahren nur anhand der Beispiele bewerten, die sich ihnen zu einem bestimmten Sachverhalt aufdrängen. In Gruppen Gleichaltriger (Peergroups) verstärken sich diese toxischen Faktoren und schädlichen Effekte. Folglich beruht die erhöhte Risikobereitschaft Pubertierender im Kern auf kognitiven Defiziten und der Orientierung am Verhalten Gleichaltriger mit erheblichen Risiko-Ansteckungseffekten aufgrund gruppendynamischer Prozesse. Daher hat der Senat schon immer betont, dass Schüler und andere Lernende während der beruflichen Aus- und Fortbildung (§ 2 Abs 1 Nr 2 und Nr 8 Buchst b SGB VII) auch bei spielerischen Betätigungen, insbesondere im Rahmen gruppendynamischer Prozesse, umfassenden Versicherungsschutz genießen (BSG Urteile vom 6.10.2020  B 2 U 13/19 R  SozR 4-2700 § 8 Nr 76 RdNr 18, vom 23.1.2018  B 2 U 8/16 R  BSGE 125, 129 = SozR 4-2700 § 2 Nr 38, RdNr 22, vom 26.10.2004  B 2 U 41/03 R  SozR 4-2700 § 8 Nr 7 RdNr 9 f, vom 7.11.2000  B 2 U 40/99 R  NJW 2001, 2909 = juris RdNr 17, vom 5.10.1995  2 RU 44/94  SozR 3-2200 § 539 Nr 34 S 129 und vom 25.1.1977  2 RU 23/76  BSGE 43, 113, 115 f = SozR 2200 § 550 Nr 26; vgl ferner zu Lehrlingen BSG Urteile vom 29.8.1974  2 RU 65/74  USK 74112 = juris RdNr 17 und vom 30.9.1970  2 RU 150/68  USK 70163 = juris RdNr 15).

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Dass es vorliegend zu derartigen gruppendynamischen Prozessen und kognitiven Verzerrungen des knapp 16jährigen Klägers gekommen ist, belegen seine Angaben vor dem SG und die Zeugenaussage des Mitschülers E in dessen bundespolizeilicher Vernehmung vom 27.1.2015, wie sie das LSG im angefochtenen Urteil festgestellt hat. Danach hätten Mitschülerinnen und Mitschüler noch versucht, dem Kläger das Bahnsurfen auszureden, worauf dieser in völliger Selbstüberschätzung "nur geantwortet habe, sie sollten sich keine Sorgen machen, er sei nicht so blöd wie die anderen, die solche Unfälle erlitten." Gegenüber dem SG hat der Kläger nach den Feststellungen des LSG glaubhaft eingeräumt, "sich vor dem Unfall verstärkt im Internet Filme angeschaut zu haben, in denen Jugendliche auf Zügen mitgefahren seien. Über diese Filme habe er sich mit seinen Schulfreunden intensiv ausgetauscht" und sei "gemeinsam mit diesen Freunden im Zeitraum vor dem Unfall bereits an SBahnzügen gesurft. (...) Es sei der Gruppe damals darum gegangen, cool zu sein. Auf der Grundlage der im Internet gefundenen Videos sei er davon ausgegangen, dass nichts passieren würde" und "es schon gut gehen werde". Schließlich hätten "die russischen Jugendlichen im Youtube Video 'sogar den Stromabnehmer angefasst'", und "denen ist nichts passiert". Standen dem jugendlichen Kläger damit nur gelungene eigene Surfaktionen seiner Gruppe und von Akteuren in den sozialen Medien vor Augen, führte dies offenkundig (§ 291 ZPO iVm § 202 Satz 1 SGG) zu einer erlernten bzw erworbenen Sorglosigkeit mit massiver Selbstüberschätzung und damit einhergehender Kontrollillusion. Entgegen der Ansicht der Vorinstanz bieten gute Schulzeugnisse auch bei hohem Risiko keinen Schutz vor alterstypischer Selbstüberschätzung, wobei hier zusätzlich zu berücksichtigen ist, dass die Lebensgefahr, die von Bahnstromleitungen aufgrund der Hochspannung bereits in einer Entfernung von 1,5 m ausgeht, weder sichtbar noch sonst mit den Sinnen erfassbar ist.

25
Soweit das LSG eine "Steigerung des äußeren Geschehens" durch eine Gruppendynamik schon deshalb verneint hat, weil "beim Zusammentreffen von lediglich 2 Schülern nicht bereits von einer Gruppe und einem gruppendynamischen Prozess ausgegangen werden" könne, pflichtet der Senat dem so nicht bei. Denn die räumliche Entfernung zu den anderen Schülern in dem anderen Bahnwaggon ließ die Gruppendynamik nicht entfallen, weil die soziale Interaktion im schulischen Umfeld erhalten blieb. Zudem kann eine "Gruppe" im hier gegenständlichen Kontext der Schülerunfallversicherung, anders als das LSG meint, auch aus lediglich zwei Personen bestehen. Denn gruppendynamische Prozesse können auch in Zweier-Beziehungen auftreten, zB um Anerkennung oder Bewunderung des anderen zu erwerben, ihm zu imponieren oder ihm durch (Über)Mut, Furchtlosigkeit ("Coolness" im Angesicht höchster Gefahr), Selbstsicherheit, Risikobeherrschung und bewährung bzw Kompetenz und Können "etwas zu beweisen", wie es der Kläger in seiner bundespolizeilichen Anhörung vom 31.3.2015 selbst angegeben hat.

26
Ist somit das Kriterium der objektivierten Handlungstendenz jedenfalls in der Schülerunfallversicherung untauglich, verbleiben als Wertungsfaktoren und wichtige Zurechnungsgesichtspunkte des sachlichen Zusammenhangs vor allem der Schutzzweck der Norm (BSG Urteile vom 31.3.2022  B 2 U 5/20 R  SozR 42700 § 8 Nr 79 <vorgesehen> = juris RdNr 18 und vom 23.1.2018  B 2 U 8/16 R  BSGE 125, 129 = SozR 42700 § 2 Nr 38, RdNr 10 und 22), deren Einbettung in die Gesamtrechtsordnung (BSG Urteil vom 23.1.2018  B 2 U 8/16 R  BSGE 125, 129 = SozR 42700 § 2 Nr 38, RdNr 20 f) sowie die Grundprinzipien der Unfallversicherung (dazu BSG Urteil vom 31.3.2022  B 2 U 5/20 R  SozR 42700 § 8 Nr 79 <vorgesehen> = juris RdNr 18). Darüber hinaus können in die Wertung auch kausale Kriterien (BTDrucks 13/2204 S 77: "ursächlicher innerer Zusammenhang"; BSG Urteil vom 6.10.2020  B 2 U 13/19 R  SozR 42700 § 8 Nr 76 RdNr 19; Spellbrink/Karmanski, SGb 2021, 461, 468) sowie gesellschaftliche (Keller in Hauck/Noftz, SGB VII, K § 8 RdNr 3: "gesellschaftlich akzeptierte sozialpolitische Leitlinien") und gesellschaftspolitische Aspekte einfließen (Bereiter-Hahn/Mehrtens, GUV, ErgLfg 1/22, § 8 SGB VII Anm 6; Wagner in jurisPK-SGB VII, Stand 15.1.2022, § 8 RdNr 30). Dabei liegt es in der Natur jeder Wertentscheidung, dass sie immer nur unter Berücksichtigung aller besonderen Umstände des Einzelfalls sachgerecht getroffen werden kann (zum Ganzen grundlegend BSG Urteil vom 31.3.2022  B 2 U 5/20 R  SozR 42700 § 8 Nr 79 <vorgesehen> = juris RdNr 18; vgl auch Köhler, Kausalität, Finalität und Beweis, 2001, S 149).

27
Der Unfall des Klägers ist  wie dargelegt  vom Zweck des Wegeunfallschutzes (§ 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII) in der Schülerunfallversicherung (§ 2 Abs 1 Nr 8 Buchst b SGB VII) erfasst. Mangels wirksamer Aufsicht sind Kinder und Jugendliche gerade auf Schulwegen sich selbst überlassen und deshalb besonders schutzbedürftig. Sie legen diese Wege zumindest auch im Interesse der Allgemeinheit zurück, die ihrerseits mittelbar Nutzen aus der Erziehung und Bildung nachkommender Generationen zieht (Karmanski, SozSich 2020, 351, 352). Vor diesem Hintergrund erscheint es aus gesellschaftspolitischer Sicht gerechtfertigt, die Allgemeinheit mit den Kosten für die Entschädigung derartiger Wegeunfälle durch Finanzierung der Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand zu belasten. Schließlich war die versicherte Verrichtung auch unter kausalen Kriterien für den Unglücksfall (mit-)ursächlich, wie ebenfalls bereits (dazu unter 2.) erörtert worden ist: Hätte der Kläger den (Heim-)Weg von der Schule nach Hause nicht mit der Bahn zurücklegen müssen, wäre er nicht auf die fahrende ELok geklettert, hätte keinen Lichtbogen ausgelöst und wäre nicht verletzt worden. Nicht zuletzt ist auch das VG Potsdam in seinem Urteil vom 10.7.2019 (VG 1 K 4163/16) im Rahmen der Kostenübernahme für den Einsatz des Rettungshubschraubers zu vergleichbaren Wertungen wie der Senat gekommen.

28
Mit dem äußerst riskanten Verlassen des Waggons und dem lebensgefährlichen Besteigen der fahrenden ELok hat der Kläger den erforderlichen Zusammenhang zwischen dem Nachhauseweg und der versicherten Schülertätigkeit somit weder unterbrochen noch sonst gelöst. Denn er hat den eingeschlagenen Weg nicht verlassen, um an anderer Stelle einer privaten Verrichtung nachzugehen und erst danach wieder auf den ursprünglichen Weg zurückzukehren (vgl zum Begriff der Unterbrechung BSG Urteile vom 28.6.2022  B 2 U 16/20 R  BSGE 134, 203 = SozR 42700 § 8 Nr 82 <vorgesehen> = juris RdNr 22, vom 23.1.2018  B 2 U 3/16 R  SozR 42700 § 8 Nr 64 RdNr 15, vom 31.8.2017  B 2 U 11/16 R  SozR 42700 § 8 Nr 62 RdNr 15 und B 2 U 1/16 R  NJW 2018, 1203 RdNr 15; Spellbrink/Karmanski, SGb 2021, 543, 544).

29
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.

 

Rechtskraft
Aus
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