Sozialgerichtliches Verfahren - Entschädigung eines Beteiligten - Fahrtkostenersatz - Voraussetzungen für die Erstattung von Fahrdienstkosten anlässlich eines Gerichtstermins - "besondere Umstände" im Sinne von § 5 Abs. 3 JVEG - keine Anzeige- oder Mitteilungspflicht)
1. „Besondere Umstände“ im Sinne von § 5 Abs. 3 JVEG können zum Beispiel Eilfälle, ungewöhnlich schlechte Verkehrsverhältnisse, erhebliche körperliche Beeinträchtigungen (Mobilitätseinschränkungen) sein, wobei jedoch immer eine entsprechende Notwendigkeit gegeben sein muss.
2. § 5 Abs 3 JVEG normiert bei einer Verteuerung der Anreise keine Mitteilungspflicht/Anzeigepflicht des Berechtigten. Teilt der Berechtigte die besonderen Umstände, die die Anreise verteuern, nicht mit, trägt er das Risiko, dass das Gericht später bei der Entschädigung solche Umstände nicht anerkennt und er die Kosten endgültig selbst zu tragen hat.
Die Entschädigung der Erinnerungsgegnerin für die Teilnahme am Erörterungstermin am 24. Oktober 2022 wird auf 455,00 Euro festgesetzt.
Eine Beschwerde an das Bundessozialgericht findet nicht statt.
Gründe
Die Entschädigung anlässlich der Teilnahme am Erörterungstermin am 24. Oktober 2022 wird auf 455,00 Euro festgesetzt.
Nach § 191 Halbs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) werden einem Beteiligten, dessen persönliches Erscheinen angeordnet worden ist, auf Antrag bare Auslagen und Zeitverlust wie einem Zeugen vergütet. Zeugen erhalten nach § 19 Abs. 1 Satz 1 JVEG als Entschädigung Fahrtkostenersatz (§ 5 JVEG), Entschädigung für Aufwand (§ 6 JVEG), Entschädigung für sonstige Aufwendungen (§ 7 JVEG), Entschädigung für Zeitversäumnis (§ 20 JVEG), Entschädigung für Nachteile bei der Haushaltsführung (§ 21 JVEG) sowie Entschädigung für Verdienstausfall (§ 22 JVEG). Soweit die Entschädigung nach Stunden zu bemessen ist, wird sie nach § 19 Abs. 2 JVEG für die gesamte Zeit der Heranziehung einschließlich notwendiger Reise- und Wartezeiten, jedoch nicht mehr als zehn Stunden je Tag gewährt (Satz 1); die letzte bereits begonnene Stunde wird voll gerechnet (Satz 2).
Die gerichtliche Festsetzung gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 JVEG stellt keine Überprüfung der von der Kostenbeamtin vorgenommenen Berechnung dar, sondern ist eine davon unabhängige erstmalige Festsetzung. Bei der Entscheidung sind alle für die Bemessung der Vergütung maßgeblichen Umstände zu überprüfen, unabhängig davon, ob sie angegriffen worden sind. Bei der Festsetzung ist das Gericht weder an die Höhe der Einzelansätze noch an den Stundenansatz oder an die Gesamthöhe der Vergütung in der Festsetzung durch den Urkundsbeamten der Geschäftsstelle oder den Antrag der Beteiligten gebunden; es kann nur nicht mehr festsetzen, als beantragt ist (vgl. Senatsbeschluss vom 26. September 2018 – L 1 JVEG 59/18, Rn. 1 m.w.N., zitiert nach juris). Das Verbot der „reformatio in peius“ gilt nicht. Der Senat hat eine vollumfassende Prüfung des Entschädigungsanspruchs vorzunehmen. Die vom Gericht festgesetzte Entschädigung kann daher auch niedriger ausfallen, als sie zuvor von der Kostenbeamtin festgesetzt worden ist.
Danach errechnet sich die Entschädigung wie folgt:
Fahrtkosten sind in Höhe von 455,00 Euro zu erstatten.
Einen Anspruch auf volle Erstattung von Taxi- oder Fahrdienstkosten haben Verfahrensbeteiligte grundsätzlich nicht. Es ist Verfahrensbeteiligten, die kein eigenes oder ihnen zur unentgeltlichen Nutzung überlassenes Kraftfahrzeug verwenden, grundsätzlich zuzumuten, für notwendige Fahrten zum Gerichtsort regelmäßig verkehrende öffentliche Verkehrsmittel (Bus, U-Bahn, Stadtbahn, Straßenbahn) zu nutzen; die hierfür aufgewendeten Kosten sind nach § 5 Abs.1 JVEG zu ersetzen. Höhere als die in § 5 Abs. 1 oder Absatz 2 JVEG bezeichneten Fahrkosten werden nur dann ersetzt, soweit dadurch Mehrbeträge an Vergütung oder Entschädigung erspart werden oder höhere Fahrtkosten wegen besonderer Umstände notwendig sind (§ 5 Abs. 3 JVEG). „Besondere Umstände“ in diesem Sinne können zum Beispiel Eilfälle, ungewöhnlich schlechte Verkehrsverhältnisse, erhebliche körperliche Beeinträchtigungen (Mobilitätseinschränkungen) sein, wobei jedoch immer eine entsprechende Notwendigkeit gegeben sein muss (vgl. OLG Koblenz, Beschluss vom 2. April 2019 – 2 Ws 220/19 –, juris). Der Senat geht insoweit davon aus, dass aufgrund besonderer Umstände im Sinne von § 5 Abs. 3 JVEG höhere Fahrtkosten, hier Fahrdienstkosten, notwendig gewesen sind. In diesem Zusammenhang ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Anreise mit dem Fahrdienst aus Vertrauensschutzgründen nicht zu übernehmen ist. Das setzt einen Vertrauenstatbestand in dem Sinne voraus, dass das Gericht oder eine ihm zurechenbare Person bei der Erinnerungsgegnerin/Klägerin ein entsprechendes Vertrauen geschaffen hat. In Betracht kommt hier insbesondere die vor der Reise ausgesprochene Zustimmung durch den in der Hauptsache zuständigen Richter. In einem solchen Fall ist für den Berechtigten ein Vertrauenstatbestand geschaffen, der ihn unabhängig von der objektiven Erforderlichkeit oder Wirtschaftlichkeit zur Benutzung eines Fahrdienstes auf Staatskosten berechtigt. Da die Erinnerungsgegnerin/Klägerin es trotz Hinweises in dem Merkblatt unterlassen hat, eine solche vorherige Entscheidung durch das Gericht herbeizuführen, scheidet eine Übernahme der Kosten unter Vertrauensschutzgesichtspunkten aus.
Es steht zur Überzeugung des Gerichts aber fest, dass der Erinnerungsgegnerin/Klägerin eine Reise mit einem in § 5 Abs. 1 und 2 JVEG genannten Verkehrsmittel (öffentliches, regelmäßig verkehrendes Verkehrsmittel oder eigenes bzw. zur Nutzung überlassenes Kraftfahrzeug) überhaupt nicht möglich oder zumutbar war, sodass sie ohne Reise mit einem Fahrdienst den gerichtlichen angeordneten Termin nicht hätte wahrnehmen können. Ausschlaggebend hierfür ist, dass die Klägerin nicht nur über einen Schwerbehindertenausweis mit einem GdB von 100 mit Merkzeichen „G“ und „B“ verfügt, sondern dass sie auf einen Elektrorollstuhl angewiesen ist. Insoweit ist bereits unklar, wie die Klägerin/Erinnerungsgegnerin im Rahmen der Anreise von K nach E den Bahnhof in J mit einem öffentlichen Verkehrsmittel hätte erreichen sollen. Darüber hinaus ergibt sich aus den im erstinstanzlichen Verfahren S 4 KR 512/19 eingeholten Sachverständigengutachten von M vom 27. Februar 2020, dass die Klägerin unter einer Vielzahl von Erkrankungen leidet. Insbesondere besteht bei der Klägerin laut dem vorläufigen Entlassungsbericht der Klinik B vom 11. Mai 2022 ein inkomplettes deutlich linksbetontes Cauda-Syndrom (= Querschnittssyndrom, bei dem Nervenwurzeln im Lendenwirbelsäulenbereich eingeengt sind) ab L2 nach Reoperation im Januar 2016 verbunden mit einer neurogenen Blasen- und Darmentleerungsstörung. Daher war eine Anreise mit den in § 5 Abs. 1 und 2 JVEG genannten Verkehrsmitteln weder möglich noch zumutbar. Die zuständige Berichterstatterin hat mit Schreiben vom 6. Juni 2023 darüber hinaus mitgeteilt, dass die Anordnung des persönlichen Erscheinens der Klägerin zum Erörterungstermin am 24. Oktober 2022 auch in Kenntnis der Notwendigkeit einer Anreise mit einem Fahrdienst erfolgt wäre. Damit ist es ausgeschlossen, dass bei einer vorherigen Kontaktaufnahme mit dem Gericht der Termin abgeladen bzw. die Anordnung des persönlichen Erscheinens aufgehoben worden wäre.
Das Fehlen einer vorherigen Mitteilung der Klägerin/Erinnerungsgegnerin an das Gericht, dass sie mit einem Fahrdienst zum gerichtlich angeordneten Termin zu reisen beabsichtige, steht einer Kostenerstattung nicht grundsätzlich entgegen. Hierin ist nur die Verletzung einer Nebenpflicht (Obliegenheit), das Gericht vorher über die Möglichkeit des Entstehens höherer Kosten zu informieren, zu sehen. Dem JVEG lässt sich eine Rechtsgrundlage für einen Anspruchsverlust bei Verletzung dieser Nebenpflicht nicht entnehmen. § 5 Abs. 3 JVEG enthält gerade keine Mitteilungspflicht für den Fall, dass die Anreise nicht mit einem öffentlichen, regelmäßig verkehrenden Verkehrsmittel oder dem eigenen Kfz erfolgt. Auch im Rahmen des § 5 Abs. 5 JVEG bleibt das Unterlassen der unverzüglichen Mitteilung folgenlos, wenn feststeht, dass das Gericht auch in Kenntnis der neuen Umstände an der Ladung festgehalten hätte. Sinn der Anzeigeobliegenheit ist es, dem Gericht im Fall des § 5 Abs. 5 JVEG die Abladung zu ermöglichen. Kann diese nicht mehr rechtzeitig erfolgen, trägt der Berechtigte das Risiko einer geringeren Fahrtkostenerstattung für den Fall, dass das Gericht abgeladen hätte. Entsprechendes müsste im vorliegenden Fall gelten, wenn eine Anzeigeobliegenheit in entsprechender Anwendung des Rechtsgedankens des § 5 Abs. 5 JVEG anzunehmen wäre. Diese wäre dann darauf gerichtet, dem Gericht eine Abladung (wenn die Mobilitätseinschränkung beispielsweise nur vorübergehend besteht) bzw. eine Prüfung einer kostengünstigeren Möglichkeit der Anreise zu ermöglichen.
Zwar empfiehlt sich eine vorherige Anzeige des beabsichtigten (teureren) „Beförderungsmittels“ schon deshalb, damit der Berechtigte vorab die Haltung des Gerichts zu seiner Einschätzung der besonderen Umstände im Sinne des § 5 Abs. 3 JVEG erfährt und auf diesem Weg späteren Streitigkeiten bei der Entschädigung vorgebeugt werden kann. Sanktionen werden aber durch den Gesetzgeber an eine nicht erfolgte Mitteilung nicht geknüpft. Konsequenz einer nicht vorher getätigten Mitteilung ist daher nur, dass der Berechtigte das Risiko tragen muss, dass das Gericht die erhöhten Kosten bei der Entschädigung nach Prüfung in der Sache nicht berücksichtigt (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 9. Dezember 2011, L 2 SF 319/11 B).
An der Angemessenheit der vom Fahrdienst der Klägerin geltend gemachten Kosten bestehen nach Vorlage der Auflistung vom 6. Juni 2023 keine Bedenken. Die Preise wurden in Anlehnung an die A-Preise in Thüringen ermittelt.
Da die Erinnerungsgegnerin/Klägerin über die Fahrtkosten von 455,00 Euro hinaus keine weitere Entschädigung begehrt, hat der Senat nicht zu prüfen, ob weitere Entschädigungstatbestände eingreifen.
Das Verfahren ist gebührenfrei; Kosten werden nicht erstattet (§ 4 Abs. 8 JVEG).
Eine Beschwerde an das Bundessozialgericht findet nicht statt (§ 4 Abs. 4 Satz 3 JVEG).