L 9 SO 259/21

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
9
1. Instanz
SG Köln (NRW)
Aktenzeichen
S 27 SO 297/19
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 9 SO 259/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 09.04.2021 wird zurückgewiesen.

Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

 

Tatbestand

 

Der Kläger begehrt die Erstattung von Kosten seines Aufenthalts im R. Reha-Center in Namibia.

 

Bei dem 1997 geborenen Kläger bestehen eine Drogenabhängigkeit und eine paranoide Schizophrenie mit Realitätsverlust und Stimmenhören. 2015 stach er sich bedingt durch die Psychose mit einem Messer in die Brust. Nach Verlegung von der Intensivstation wurde er zunächst in der psychiatrischen Klinik der Uniklinik C. behandelt. Anschließend wurde er in den Haushalt seiner Eltern entlassen. Der Kläger besuchte eine Tagesklinik in C. und wurde von August 2016 bis November 2016 im Klinikum W. (Baden-Württemberg) behandelt. Nach dem Abschlussbericht war die Belastbarkeit weiter stark eingeschränkt. Die Ärzte empfahlen die Durchführung einer Reha-Maßnahme. Da eine solche kurzfristig nicht zur Verfügung stand, lebte der Kläger zunächst wieder bei seinen Eltern. Im April 2017 und Mai 2017 wurde er wieder stationär in der Uniklinik C. behandelt. Anschließend wurde er in einem betreuten Wohnheim aufgenommen. Den Platz verlor er aufgrund fehlender Mitarbeit und Therapiemotivation. Im Juli 2017 wurde er wieder in der Uniklinik C. behandelt. Am 28.07.2017 verließ der Kläger ohne Absprache die Klinik und lebte auf der Straße. Während dieser Zeit konsumiert er wieder Cannabis. Im September 2017 nahmen die Eltern ihn in verwahrlostem Zustand bei sich auf. Es folgte eine weitere Behandlung in der Uniklinik C. vom 21.11.2017 bis zum 26.07.2018. Der Kläger wurde zur Aufnahme in der stationären Einrichtung „Y.“ in C. angemeldet. Ab dem 26.07.2018 wurde der Kläger in der Klinik X. in F. (Rheinland-Pfalz) behandelt. Da er auch dort an der Therapie nicht mitwirkte, wurde er am 13.09.2018 auf ärztliche Veranlassung vorzeitig entlassen. Nach dem Abschlussbericht benötigte er weiterhin einen stationären Behandlungsrahmen mit einer vorgegebenen Tagesstruktur und Möglichkeiten der Reaktivierung. Die Uniklinik C. lehnte eine erneute Aufnahme ab, da die Krankenkasse eine Kostenübernahme abgelehnt habe. Die Eltern nahmen den Kläger wieder bei sich auf und bemühten sich um einen Platz in einer stationären Einrichtung. Der Kläger beantragte am 28.08.2018 die Kostenübernahme für den Aufenthalt im „Y.“ bei der DRV. Diese leitete den Antrag am 10.09.2018 an den Beklagten weiter Die Mutter fuhr mit dem Kläger am 13.10.2018 in ein Hotel im Sauerland, um die Kontakte zur Drogenszene zu unterbinden und seiner erneuten Obdachlosigkeit vorzubeugen. Am 22.10.2018 teilte die Betreuerin dem Beklagten mit, der Kläger bevorzuge eine Aufnahme ins „Haus J.“ in V., das „Y.“ sei zweite Wahl.

 

Ende Oktober 2018 trafen sich die Eltern des Klägers mit der Projektleiterin des „R. Reha-Center“. Hierbei handelt es sich um eine abgelegene Farm in Namibia, in der drogenabhängige junge Menschen aus Europa therapiert werden. Das Reha-Center verfügt über ausgebildete Therapeuten und gibt den Bewohnern u.a. einen strukturierten Tages- und Wochenablauf vor. Am 28.10.2018 schlossen die Eltern mit dem Reha-Center einen Vertrag über die therapeutische Betreuung des Klägers über zwölf Monate mit der Möglichkeit einer Verlängerung ab. Als Tagessatz wurde ein Betrag von 185 € vereinbart.

 

Am 05.11.2018 flog der Kläger nach Namibia und wurde in das Reha-Center aufgenommen. Die Eltern informierten zunächst weder den Beklagten noch die rechtliche Betreuerin darüber. Der Kläger blieb bis zum 19.03.2021 in dem Reha-Center, seither lebt er in der Hofgemeinschaft „M.“ in Schleswig-Holstein. Die durch den Aufenthalt in Namibia entstandenen Kosten belaufen sich insgesamt auf 101.487,95 €, davon entfallen 88.302,09 € auf den Aufenthalt und die Behandlung, 3.427,62 € auf Flugkosten, 997,15 € auf Kosten für eine Krankenversicherung und 8.761,09 € auf sonstige Kosten (Arzt- und Laborkosten, Medikamente, Einzelbetreuung). Die Kosten sind von den Eltern finanziert worden. Der Kläger selbst verfügte in dem streitigen Zeitraum nicht über Einkommen oder anzurechnendes Vermögen.

 

Nachdem die Betreuerin von den Eltern über die Aufnahme informiert worden war, beantragte sie am 26.11.2018 bei der Stadt C. die Übernahme der Kosten für den Aufenthalt des Klägers im R. Reha-Center. Die Eltern hätten mehrere Einrichtungen in Deutschland angefragt, aber nur Absagen erhalten. Daher hätten sie sich für die Einrichtung in Namibia entschieden. Die Stadt C. leitete den Antrag am 29.11.2018 an den Beklagten weiter, da der Kläger mittlerweile über 21 Jahre alt und das Jugendamt daher nicht mehr zuständig sei.

 

Der Beklagte lehnte den Antrag mit Bescheid vom 12.12.2018 ab. Es handele sich nicht um eine soziale Teilhabeleistung, da die Maßnahme in einer Einrichtung in Namibia und nicht in der Wohnung und/oder dem Sozialraum des Klägers stattfinde. Darüber hinaus bestehe mit dem R. Reha-Center keine Leistungs- und Vergütungsvereinbarung. Es gebe in Deutschland zahlreiche Hilfsangebote, die für den Kläger in Betracht kämen. Der Kläger legte gegen den Bescheid am 08.01.2019 Widerspruch ein. In Deutschland habe sich keine Einrichtung gefunden, so dass nur die Möglichkeit bestanden habe, ihn in der Maßnahme in Namibia unterzubringen. Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 26.06.2019 unter Beteiligung sozialerfahrener Personen zurück. Leistungen der Eingliederungshilfe seien grundsätzlich in Deutschland zu erbringen. Nach § 23 der Eingliederungshilfe-VO könnten sie nur ausnahmsweise im Ausland erbracht werden. Die Voraussetzungen hierfür lägen nicht vor. In Deutschland stünden ausreichende Therapieangebote zur Verfügung und es sei nicht plausibel, dass mit einer Maßnahme in Namibia das Ziel der Eingliederung in die Gesellschaft besser erreicht werden. Die Maßnahme dauere wesentlich länger als in Deutschland und verursache unverhältnismäßige Mehrkosten.

 

Der Kläger hat am 11.07.2019 Klage erhoben. Die Aufnahme bei R. in Namibia sei die einzige Möglichkeit gewesen, um ihn vor einer Verschlimmerung seiner psychischen Erkrankung zu bewahren. Es habe akute Gefahr für Leib und Leben bestanden.

 

Der Kläger hat beantragt,

 

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 12.12.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.06.2019 zu verurteilen, die Kosten für seine Betreuung im Rahmen der Eingliederungshilfe in angemessener Höhe zu übernehmen für die Zeit ab dem 06.11.2018 bis zum 19.03.2021.

 

Der Beklagte hat beantragt,

 

die Klage abzuweisen.

 

Ein Anspruch auf Erstattung der Kosten für das „R. Reha-Center“ bestehe nicht.

 

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 09.04.2021, dem Kläger zugestellt am 20.05.2021, abgewiesen. Der Kläger sei durch die Leistung in Namibia nicht in die deutsche Gesellschaft eingegliedert worden und es seien unvertretbare Mehrkosten entstanden.

 

Der Kläger hat am 10.06.2021 Berufung eingelegt. Er macht geltend, es habe in Deutschland keine erfolgversprechende Maßnahme gegeben. Die streitgegenständliche Behandlung sei die einzig verbliebene Möglichkeit gewesen, ihn zu therapieren. Alle anderen Behandlungsversuche in Deutschland seine gescheitert. Alternativen hätten nicht zur Verfügung gestanden, er hätte im November 2018 sofort nach Namibia gebracht werden müssen, da andernfalls Lebensgefahr bestanden habe. Sein Reha-Bedarf sei dem Beklagten schon vor dessen Information über die Aufnahme im R. Reha-Center bekannt gewesen. Jedenfalls seien die fiktiven Kosten zu erstatten, die durch die Betreuung in einer stationären Einrichtung in Deutschland entstanden wären.

 

Der Kläger beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 09.04.2021 zu ändern und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 12.12.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.06.2019 zu verurteilen, die Kosten für seine Betreuung im Rahmen der Eingliederungshilfe in angemessener Höhe zu übernehmen für die Zeit ab dem 06.11.2018 bis zum 19.03.2021.

 

Der Beklagte beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Der Beklagte hält das Urteil des Sozialgerichts für zutreffend. Einem Kostenerstattungsanspruch stehe entgegen, dass die Eltern den Vertrag abgeschlossen hätten, ohne den Sozialhilfeträger zuvor in Kenntnis zu setzen. Es habe kein unaufschiebbarer Eilfall vorgelegen. Wenn aufgrund der psychischen Erkrankung Gefahr für Leib oder Leben des Klägers bestanden hätte, wäre die Aufnahme in einer psychiatrischen Akutklinik indiziert gewesen.  Zudem liege eine zivilrechtliche Verpflichtung des Klägers gegenüber dem Reha-Center, der die Beklagte beitreten könnte, nicht vor, denn der Vertrag sei von den Eltern abgeschlossen worden.

 

Der Senat hat Beweis erhoben durch die uneidliche Vernehmung der Mutter des Klägers als Zeugin. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte des Beklagten, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

 

 

Entscheidungsgründe

 

I. Die gemäß §§ 143, 144 SGG statthafte und auch sonst zulässige Berufung ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat die Klage zurecht abgewiesen. Der Bescheid vom 12.12.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.06.2019 ist rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Erstattung der Kosten für seinen Aufenthalt im R. Reha-Center.

 

II. Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 12.12.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26.06.2019. Der Ablehnungsbescheid ist weiter wirksam. Er hat sich nicht durch die mit Wirkung vom 01.01.2020 erfolgte Herauslösung der Eingliederungshilfe aus dem Fürsorgerecht des SGB XII und dessen Überführung in das SGB IX und die Zuständigkeitsregelung in § 6 Abs. 1 Nr. 7 SGB IX, wonach für die Leistung nunmehr die Träger der Eingliederungshilfe und nicht mehr die Träger der Sozialhilfe, die auch keine Rehabilitationsträger mehr sind, zuständig sind (vgl. dazu BSG Beschluss vom 25.06.2020 – B 8 SO 36/20 B), erledigt iSd § 39 Abs. 2 SGB X. Hinsichtlich des Zeitraums bis zum 31.12.2019 tritt eine Erledigung schon nicht ein, weil es sich um einen vor dem Inkrafttreten des neuen Rechts bestehenden Bedarf handelt, der von dem Kläger mit Hilfe seiner Eltern gedeckt wurde, woraus sich eine Kostenerstattungspflicht ergeben kann. Eine bei Rechtswidrigkeit der Ablehnung vor dem 01.01.2020 bestehende Verpflichtung des Leistungsträgers wird durch die Neukonzipierung des Eingliederungshilferechts und eine damit evtl. einhergehende neue Trägerschaft ab Januar 2020 nicht berührt (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. Urteile vom 12.08.2021 – L 9 SO 116/20, vom 14.06.2021 – L 9 SO 27/19 und vom 17.05.2021 – L 9 SO 271/19). Eine Erledigung ist aber auch hinsichtlich des Zeitraums ab dem 01.01.2020 nicht eingetreten. Zwar sind Leistungen der ab dem 01.01.2020 geltenden Eingliederungshilfe nach dem SGB IX nicht zulässiger Streitgegenstand eines Rechtsstreits, wenn sich der Regelungsgegenstand des angegriffenen Verwaltungsakts auf Eingliederungshilfe als Leistung der Sozialhilfe nach dem bis 31.12.2019 geltenden Recht beschränkt (BSG Beschluss vom 24.06.2021 – B 8 SO 19/20 B). Im vorliegenden Verfahren ist jedoch bis zum Ende der Maßnahme noch das bis zum 31.12.2019 geltende Recht anzuwenden. Dies folgt aus einer analogen Anwendung der § 66 Abs. 1 Nr. 1 SGB II und § 422 Abs. 1 Nr. 1 SGB III. Die Vorschriften sind hier entsprechend anzuwenden. Die Voraussetzungen für eine Analogie liegen vor, wenn eine (anfängliche oder nachträgliche) Gesetzeslücke besteht, der nicht geregelte Tatbestand dem gesetzlich festgelegten ähnlich ist und beide Tatbestände wegen ihrer Ähnlichkeit gleich zu bewerten sind (BSG Urteil vom 18.09.2012 – B 2 U 11/11 R mwN). Die Neukonzipierung der Eingliederungshilfe enthält trotz eines entsprechenden Regelungsbedarfs keine Übergangsregelung für vor Inkrafttreten der Neuregelung begonnene Maßnahmen, weshalb eine planwidrige Regelungslücke (hierzu jüngst auch BSG Beschluss vom 13.04.2022 – B 5 R 291/21 B) vorliegt. Eine entsprechende Anwendung der genannten Normen ist geboten (so angedeutet für Eingliederungshilfemaßnahmen, die über Rechtsänderungen hinaus andauern, bereits bei BSG Urteil vom 25.09.2014 – B 8 SO 7/13 R), weil diese eine vergleichbare Fallgestaltung (Rechtsänderung während einer laufenden Maßnahme) betreffen und eine entsprechende Anwendung notwendig ist, um auch im Recht der Eingliederungshilfe zu vermeiden, dass bei einer einheitlichen Maßnahme unterschiedliches Recht zur Geltung kommt und dadurch den Vertrauensschutz der Teilnehmer zu gewährleisten (hierzu Stölting/Greiser, SGb 2015, 135) sowie Rechtssicherheit herzustellen.

 

Der Kläger verfolgt seinen Anspruch zutreffend mit der Anfechtungs- und Leistungsklage. Die Beiladung des Leistungserbringers ist bei der Geltendmachung eines Kostenerstattungsanspruchs nicht erforderlich (BSG Urteil vom 22.03.2012 – B 8 SO 30/10 R).

 

III. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Erstattung der geltend gemachten Kosten.

 

1) Als Anspruchsgrundlage für das Begehren des Klägers kommt nur § 18 Abs. 6 Satz 1 SGB IX in der ab 01.01.2018 gF in Betracht. Nach dieser Vorschrift sind die Kosten für eine selbstbeschaffte Leistung vom Rehabilitationsträger in der entstandenen Höhe zu erstatten, wenn der Rehabilitationsträger eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte oder er eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat, soweit die Leistung notwendig war.

 

Mit dem geltend gemachten Anspruch auf Übernahme der Kosten für seinen Aufenthalt im R. Reha-Center macht der Kläger einen Kostenerstattungsanspruch für einen Aufenthalt in einer stationären Einrichtung geltend. Um eine solche handelt es sich bei der Einrichtung in Namibia. Die abgelegene Lage, die bewusst einen Kontakt der Bewohner mit der Außenwelt minimieren soll, der strukturierte Tages- und Wochenplan und die Einbindung in ein therapeutisches Konzept bewirkten, dass dort die Gesamtverantwortung für die tägliche Lebensführung (vgl. dazu BSG Urteil vom 23.07.2015 - B 8 SO 7/14 R; Urteil des Senates vom 02.12.2021 – L 9 SO 8/21) des Klägers übernommen worden ist.

 

Vollstationäre Eingliederungshilfe wird als Sachleistung in der Form der Sachleistungsverschaffung erbracht (grundlegend hierzu BSG Urteil vom 28.10.2008 - B 8 SO 22/07). Die Bewilligung erfolgt in Form eines Schuldbeitritts zu der zivilrechtlichen Schuld des Leistungsberechtigten, verbunden mit einem Anspruch auf Befreiung von der Schuld gegenüber dem jeweiligen Leistungserbringer. Bei der Kostenübernahme für eine stationäre Unterbringung handelt es sich nicht um eine Geldleistung (vgl. BSG Urteile vom 23.08.2013 – B 8 SO 10/12 R und vom 22.03.2012 - B 8 SO 1/11 R). Im Falle der Selbstverschaffung entsteht nur unter den Voraussetzungen des § 18 Abs. 6 SGB IX ein Anspruch auf Kostenerstattung (BSG Urteil vom 27.02.2020 – B 8 SO 18/18 R).

 

2) Als Rechtsgrundlage für einen entsprechenden Sachleistungsanspruch kommt ein Anspruch auf Eingliederungshilfe nach §§ 53, 54 SGB XII aF iVm § 55 Abs. 1 SGB IX aF in Betracht. Bei dem Kläger bestand eine wesentliche Behinderung iSv § 53 Abs. 1 SGB XII aF. Nach § 3 der Eingliederungshilfe-VO in der bis zum 31.12.2019 gF sind seelische Störungen, die eine wesentliche Einschränkung der Teilhabefähigkeit iSd § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII zur Folge haben können, ua körperlich nicht begründbare Psychosen und Suchtkrankheiten. Diese Erkrankungen bestanden bei dem Kläger. Seine Behinderung war wesentlich (hierzu BSG Urteile vom 13.07.2017 – B 8 SO 1/16 R und vom 22.03.2012 – B 8 SO 30/10 R). Der Kläger war auf Grund seiner Erkrankung nicht in der Lage, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Die Leistungen gem. § 54 Abs. 1 SGB XII aF iVm § 55 Abs. 1 SGB IX aF umfassen auch eine stationäre Unterbringung (LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 15.02.2016 – L 20 SO 476/12).

 

3) Der Sachleistungsanspruch, an dessen Stelle der geltend gemachte Kostenerstattungsanspruch treten soll, setzt allerdings weiter voraus, voraus, dass der Kläger selbst zivilrechtlich verpflichtet war, die Kosten für die Maßnahme zu tragen. Hieran bestehen Zweifel, da der Vertrag mit der Einrichtung allein von den Eltern des volljährigen Klägers geschlossen worden ist. Fraglich ist auch, ob die Voraussetzungen des § 23 Eingliederungshilfe-VO vorliegen. Danach können Maßnahmen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen auch im Ausland durchgeführt werden, wenn dies im Interesse der Eingliederung des behinderten Menschen geboten ist, die Dauer der Eingliederungsmaßnahmen durch den Auslandsaufenthalt nicht wesentlich verlängert wird und keine unvertretbaren Mehrkosten entstehen. Fraglich ist schließlich, ob die Aufnahme in die Einrichtung in Namibia notwendig iSv § 4 Abs. 1 SGB IX war. Diese Voraussetzung ist bei jeder Eingliederungsmaßnahme zu prüfen. Sie ist zu bejahen, wenn eine grundsätzlich geeignete Eingliederungsmaßnahme unentbehrlich zum Erreichen der Eingliederungsziele ist, die darin liegen (vgl. § 53 Abs. 3 Satz 1 SGB XII aF), eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und den behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern (vgl. BSG Urteil vom 12.12.2013 – B 8 SO 18/12 R).

 

4) Der Senat kann diese Fragen offenlassen, denn die Grundvoraussetzungen für einen an die Stelle des Sachleistungsanspruchs tretenden Kostenerstattungsanspruch liegen nicht vor.

 

a) Bei der Aufnahme des Klägers in dem R. Reha-Center handelt es sich nicht um eine unaufschiebbare Leistung iSd § 18 Abs. 6 Satz 1 Alt. 1 SGB IX. Eine solche liegt nur dann vor, wenn es dem Leistungsberechtigten – aus medizinischen oder anderen Gründen – nicht möglich oder nicht zuzumuten war, vor der Beschaffung den Leistungsträger einzuschalten (BSG Urteil vom 25.09.2000 – B 1 KR 5/99 R). Diese Voraussetzung sind nicht gegeben, denn der Kläger hätte trotz der von seiner Mutter in der mündlichen Verhandlung plausibel dargelegten erheblichen Eilbedürftigkeit ohne Weiteres die Möglichkeit gehabt, einen entsprechenden Antrag bei dem Beklagten zu stellen, nachdem er Ende Oktober 2018 Kontakt mit der Leiterin der Einrichtung aufgenommen und diese sich zur Aufnahme bereit erklärt hatte.

 

b) Der Kostenerstattungsanspruch ergibt sich auch nicht aus § 18 Abs. 6 Satz 1 Alt. 2 SGB IX. Grundvoraussetzung für einen Kostenerstattungsanspruch nach dieser Vorschrift ist ein Kausalzusammenhang zwischen der rechtswidrigen Ablehnung und der Kostenlast des Versicherten. Eine Kostenerstattung scheidet regelmäßig aus, wenn sich der Versicherte die Leistung besorgt hat, ohne den Leistungsträger einzuschalten und seine Entscheidung abzuwarten (Beschaffungsweg). § 18 Abs. 6 Satz 1 Alt. 2 SGB IX begründet einen Erstattungsanspruch für den Ausnahmefall, dass eine notwendige Leistung als Dienst- oder Sachleistung nicht oder nicht in der gebotenen Zeit zur Verfügung gestellt werden konnte. Zwischen einer rechtswidrigen Ablehnung und der Kostenlast des Leistungsberechtigten muss ein Ursachenzusammenhang bestehen. Daran fehlt es, wenn der Leistungsträger vor Durchführung der Maßnahme mit dem Leistungsbegehren gar nicht befasst wurde, obwohl dies möglich gewesen wäre (ständige Rechtsprechung des BSG zu § 13 SGB V, vergl. nur BSG Urteil vom 19.02.2003 – B 1 KR 18/01 R mwN).

 

Diese zum Recht der gesetzlichen Krankenversicherung ergangene Rechtsprechung ist auf den Kostenerstattungsanspruch nach § 18 Abs. 6 Satz 1 Alt. 2 SGB IX zu übertragen. Hierfür spricht der insoweit identische Wortlaut von § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V einerseits und von § 18 Abs. 6 Satz 1 SGB IX andererseits. Der Gesetzgeber hat den Wortlaut der beiden Vorschriften ausdrücklich einander angeglichen (BT-Drs. 18/9522 S. 239). Daher ist anzunehmen, dass der Gesetzgeber beiden Vorschriften auch einen identischen Regelungsgehalt geben wollte.

 

Der Übertragung der zu § 13 Abs. 3 SGB V ergangenen Rechtsprechung auf die Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII aF steht nicht entgegen, dass dort bis zum 31.12.2019 zur Begründung des Anspruchs kein Antrag erforderlich war (abweichend ab dem 01.01.2020 gem. § 108 Abs. 1 Satz 1 SGB IX), sondern auch für die Eingliederungshilfe der Kenntnisgrundsatz nach § 18 Abs. 1 SGB XII galt. Nach dieser Vorschrift setzt die Sozialhilfe, mit Ausnahme der Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, ein, sobald dem Träger der Sozialhilfe oder den von ihm beauftragten Stellen bekannt wird, dass die Voraussetzungen für die Leistung vorliegen. Der Zweck der Vorschrift besteht darin, zum Schutz des Hilfebedürftigen einen niedrigschwelligen Zugang zum Sozialhilfesystem sicherzustellen. Die Kenntnis wird bereits durch die positive Kenntnis vom spezifischen Bedarfsfall vermittelt, nicht erst durch den konkreten finanziellen Bedarf (BSG Urteil vom 28.08.2018 – B 8 SO 9/17 R). Davon ausgehend hätte der Kläger – bei Vorliegen aller weiteren Voraussetzungen – die Kostenübernahme als Sachleistung auch dann verlangen können, wenn er seine Aufnahme in die Einrichtung in Namibia erst nachträglich mitgeteilt hätte, denn der Bedarfsfall, nämlich die Notwendigkeit der stationären Unterbringung, war dem Beklagten bekannt. Ungeachtet dessen hat der Gesetzgeber – wie ausgeführt – noch zur Zeit der Geltung des Eingliederungshilferechts nach dem Sechsten Kapitel des SGB XII den Kostenerstattungsanspruch ausdrücklich an eine rechtswidrige Ablehnungsentscheidung, mithin eine Vorbefassung des Leistungsträgers geknüpft.

 

Die Notwendigkeit einer Vorbefassung des Leistungsträgers ist keine bloß formale Voraussetzung, auf deren Einhaltung zB bei drohender Gefahr für Leib oder Leben ggfs. verzichtet werden könnte. Die Obliegenheit eines Leistungsempfängers, den Beschaffungsweg durch vorherige Einschaltung des Leistungsträger einzuhalten, dient auch der Sicherung von Wirtschaftlichkeit und Qualität der Leistung (BSG Urteil vom 15.04.1997 – 1 BK 31/96) und damit letztendlich den Interessen des Leistungsempfängers selbst. Nur bei Einhaltung des Beschaffungsweges ist der Leistungsträger in der Lage, Alternativangebote zu prüfen und bei deren Fehlen die Erforderlichkeit und Geeignetheit der angestrebten Maßnahme zu prüfen und ggs. durch Verträge mit dem Leistungserbringer zu sichern.

 

Der Kläger hat die streitgegenständliche Leistung nicht vorab bei dem Beklagten beantragt. Dies behauptet er nicht, auch die Mutter hat bei ihrer Vernehmung durch den Senat zugestanden, dass der Beklagte nicht informiert worden ist, bevor der Kläger im R. Reha-Center aufgenommen worden ist. Die vorherige Antragstellung auch nicht dadurch gegeben oder entbehrlich, dass der Kläger bereits im August 2018 eine Kostenübernahme für die stationäre Einrichtung „Y.“ beantragt und die Betreuerin am 22.10.2018 mitgeteilt hatte, dass vorrangig auch noch eine andere Einrichtung in Betracht komme. Dem Leistungsträger muss der konkrete Leistungserbringer benannt werden, damit er prüfen kann, ob die Voraussetzungen für eine Kostenübernahme bei diesem Leistungserbringer vorliegen.

 

Der Kläger kann auch keine Kostenübernahme für die Kosten, die ab Antragstellung bei der Stadt C. (26.11.2018) oder der Weiterleitung an den Beklagten (29.11.2018) oder dem Ablehnungsbescheid (12.12.2018) entstanden sind, verlangen. Bei laufenden oder sich über einen längeren Zeitraum erstreckenden Leistungen wird allerdings die ablehnende Entscheidung des Leistungsträgers im Allgemeinen als Zäsur gesehen und die Kostenerstattung nur für diejenigen Leistungen ausgeschlossen, die bis zum Zeitpunkt der Entscheidung auf eigene Rechnung beschafft wurden; für spätere Leistungen wird der erforderliche Kausalzusammenhang dagegen bejaht. Das gilt indes nur, wenn die nachträglich getroffene Entscheidung des Leistungsträgers noch geeignet war, das weitere Leistungsgeschehen zu beeinflussen. War mit dem eigenmächtigen Beginn der Behandlung das weitere Vorgehen bereits endgültig festgelegt, fehlt der erforderliche Ursachenzusammenhang zwischen der Ablehnung des Leistungsträgers und der Kostenbelastung des Leistungsempfängers auch für den Teil der Behandlung, der zeitlich nach dem ablehnenden Bescheid liegt (BSG Urteile vom Urteil vom 22.03.2005 – B 1 KR 3/04 R, vom 19.06.2001 – B 1 KR 23/00 R und vom 24.02.2000 – B 2 U 12/99 R). Dies ist vorliegend der Fall. Der Kläger hatte zum Zeitpunkt der Antragstellung bei dem Beklagten bereits einen Vertrag über die Unterbringung von mindestens einem Jahr abgeschlossen. Auch nach dem Vorbringen der Mutter anlässlich ihrer Vernehmung durch den Senat war die Teilnahme des Klägers an der Maßnahme von Beginn an „auf ein Jahr angelegt“. Alternativen hat der Kläger auch nach dem Ablehnungsbescheid nicht mehr in Betracht gezogen, sondern die Maßnahme in Namibia als die einzige erfolgsversprechende Behandlung angesehen.

 

Das Erfordernis, den Beschaffungsweg einhalten zu müssen, entfällt schließlich nicht dadurch, dass der Beklagte seine Beratungs- und Unterstützungspflichten verletzt hat. Der Beklagte muss die Leistungsberechtigten gem. § 11 Abs. 1 SGB XII beraten und, soweit erforderlich, unterstützen, dazu gehört auch die Pflicht, einen geeigneten Leistungserbringer zu vermitteln (nunmehr ausdrücklich geregelt in § 106 Abs. 2 Nr. 5 und Abs. 3 Nr. 7 und 8 SGB IX). Zwar bestand zunächst kein Beratungsanlass, da der Beklagte vom Kläger nicht über dessen Probleme, eine geeignete Einrichtung zu finden, informiert worden war. Das änderte sich jedoch, als die Betreuerin die Übernahme der Kosten für das R. Reha-Center beantragte. Aus ihrem Schreiben geht hervor, dass mehrere Einrichtungen die Aufnahme des Klägers abgelehnt hatten. Dies hätte der Beklagte zum Anlass nehmen müssen, dem Kläger eine geeignete Einrichtung in Deutschland zu benennen. Dieser Pflicht ist der Beklagte nicht nachgekommen. Die in § 18 Abs. 6 Satz 1 SGB IX geregelten Ansprüche auf Kostenerstattung stellen sich – ebenso wie der Anspruch aus § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V – jedoch als abschließende gesetzliche Regelung der auf dem Herstellungsgedanken beruhenden Kostenerstattungsansprüche dar; für einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch ist daneben kein Raum (BSG Urteil vom 02.11.2007 – B 1 KR 14/07 R).

 

Soweit der Kläger meint, er könne jedenfalls die fiktiven Kosten erstattet verlangen, die bei einer Betreuung in einer stationären Einrichtung in Deutschland entstanden wären, besteht ein Anspruch von vorneherein nicht. Der Kläger kann nur die Übernahme solcher Kosten verlangen, die er selbst dem Träger der Einrichtung schuldet (BSG Urteil vom 02.02.2010 – B 8 SO 20/08 R) und nur darauf kann sich ein Kostenerstattungsanspruch beziehen. Die Erstattung fiktiver Kosten ist gesetzlich nicht vorgesehen.

 

IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

V. Die Revision war gem. § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.

 

 

 

Rechtskraft
Aus
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