L 10 KR 642/21

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
10
1. Instanz
SG Köln (NRW)
Aktenzeichen
S 14 KR 2064/16
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 10 KR 642/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 20.11.2019 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

Tatbestand:

 

Die Beteiligten streiten über den Eintritt einer obligatorischen freiwilligen Anschlussversicherung.

 

Die Klägerin (* 00.00.1950) bezog vom 13.05.2015 bis 31.03.2016 Arbeitslosengeld II und war hierüber bei der beklagten Krankenkasse pflichtversichert. Für die Zeit ab 01.04.2016 bewilligte der beigeladene Sozialhilfeträger ihr Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (Bescheid vom 30.05.2016).

 

Unter dem 18.05.2016 zeigte die Klägerin der Beklagten an, dass sie nicht aus der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung austrete; sie wolle weiterhin bei der Beklagten versichert sein. Die Beklagte teilte ihr hierauf mit, dass sie als Empfängerin laufender Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) nicht der Versicherungspflicht unterliege (Bescheid vom 23.06.2016) und dass für sie nicht die Möglichkeit einer freiwilligen Weiterversicherung bestehe, da sie nach den ihr vorliegenden Unterlagen die erforderliche Vorversicherungszeit nicht erfülle; die Beklagte bitte um Verständnis, dass dem Antrag auf eine freiwillige Mitgliedschaft nicht entsprochen werden könne (weiteres Schreiben vom 23.06.2016).

 

Zur Begründung ihres hiergegen erhobenen Widerspruchs machte die Klägerin geltend, dass, wenn trotz objektiven Bestehens eines anderweitigen Krankenversicherungsschutzes eine Austrittserklärung bewusst nicht abgegeben und/oder der Nachweis einer solchen bewusst nicht geführt werde, die freiwillige Weiterversicherung entstehe. Die Beklagte wies diesen Widerspruch zurück (Widerspruchsbescheid vom 01.09.2016). Aufgrund der anderweitigen Absicherung im Krankheitsfall als Empfängerin laufender Sozialhilfeleistungen sei die Durchführung einer freiwilligen obligatorischen Anschlussversicherung bei der Klägerin nicht möglich. Die Klägerin könne der freiwilligen Versicherung wegen fehlender Vorversicherungszeiten auch nicht beitreten.

 

Die Klägerin hat hiergegen am 19.09.2016 Klage zum Sozialgericht (SG) Köln erhoben und geltend gemacht, der tatsächliche Bezug von Grundsicherungsleistungen führe in ihrem Fall nicht zum Ausschluss der freiwilligen Anschlussversicherung, da sie weder eine Austrittserklärung abgegeben noch einen anderweitigen Schutz bei Krankheit innerhalb der vorgesehenen Frist nachgewiesen habe. Insoweit hätte sie den Nachweis innerhalb eines Monats nach Ende der Pflichtversicherung führen müssen (§ 19 Abs 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch <SGB V>), tatsächlich habe sie den Bewilligungsbescheid der Beigeladenen aber frühestens mit ihrer Erklärung vom 18.05.2016 beigebracht. Versicherte hätten es in der Hand, über ihren Krankenversicherungsschutz als freiwilliges Mitglied selbst zu bestimmen, wenn auch mit der Folge der Beitragspflicht für die freiwillige Mitgliedschaft. Die Beklagte könne die obligatorische freiwillige Weiterversicherung nicht ablehnen, selbst wenn ihr eine anderweitige Absicherung im Krankheitsfall bekannt sei, solange keine Austrittserklärung erfolge.

 

Die Klägerin hat schriftsätzlich beantragt,

 

  1. den Bescheid der beklagten Partei vom 23.06.2016 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 01.09.2016 aufzuheben,
  2. festzustellen, dass sie seit dem 01.04.2016 als freiwilliges Mitglied im Rahmen der obligatorischen Anschlussversicherung bei der beklagten Partei versichert sei.

 

Die Beklagte hat beantragt,

 

die Klage abzuweisen.

 

Sie hat den angefochtenen Bescheid verteidigt.

 

Die Beigeladene hat vorgetragen, der Krankenversicherungsschutz der Klägerin sei seinerzeit über quartalsweise ausgegebene Krankenscheine sichergestellt worden. Sie habe insoweit Erstattungsansprüche gegenüber der Beklagten geltend gemacht.

 

Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 20.11.2019). Für eine freiwillige Mitgliedschaft nach § 9 SGB V fehlten der Klägerin die erforderlichen Vorversicherungszeiten. In Betracht komme daher nur die obligatorische freiwillige Anschlussversicherung nach § 188 Abs 4 SGB V. Diese scheitere jedoch daran, dass die Klägerin durch den Sozialhilfebezug einen anderweitigen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall habe. Das Gesetz schließe im Falle des Bestehens eines solchen anderweitigen Anspruchs die Anwendung des § 188 Abs 4 S 1 SGB V aus. Wenn dieser nicht mehr gelte, komme es auch nicht darauf an, ob das frühere Mitglied seinen Austritt erklärt habe oder nicht; maßgeblich sei allein, ob es nun eine anderweitige Absicherung im Krankheitsfall besitze. Die Klägerin habe kein Wahlrecht, ob sie Leistungen der Krankenhilfe nach dem SGB XII in Anspruch nehme oder Mitglied in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) bleibe. Der Gesetzgeber könne auch Sozialhilfeempfängern die Möglichkeit eröffnen, in der GKV zu bleiben, die jetzige Regelung sehe dies aber nicht vor.

 

Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer am 23.12.2019 eingelegten Berufung. Mit der Berufung verfolgt sie ihr Begehren aus dem Klageverfahren weiter.

 

Die Klägerin beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 20.11.2019 zu ändern und den Bescheid der Beklagten vom 23.06.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.09.2016 aufzuheben und festzustellen, dass sie seit dem 01.04.2016 freiwilliges Mitglied der Beklagten ist.

 

Die Beklagte beantragt,

 

die Berufung zurückzuweisen.

 

Sie hält das angegriffene Urteil für zutreffend.

 

Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.

 

Sie trägt vor, eine anderweitige Absicherung habe frühestens Ende Mai 2016 nach Ergehen ihres Bewilligungsbescheides über Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nachgewiesen werden können.

 

Eine ursprünglich auch von ihr eingelegte Berufung hat sie zurückgenommen.

 

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichts- sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten und der Beigeladenen Bezug genommen. Diese sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

 

 

Entscheidungsgründe:

 

Die Berufung hat keinen Erfolg. Die zunächst ebenfalls eingelegte Berufung der Beigeladenen ist durch Rücknahme erledigt (§ 156 Abs 1 S 1, Abs 3 S 1 Sozialgerichtsgesetz <SGG>). Die Berufung der Klägerin ist zulässig, aber unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen.

 

1. Klagegegenstand (§ 95 SGG) ist nur der Bescheid der Beklagten über die freiwillige Versicherung der Klägerin vom 23.06.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.09.2016. Zwar hat die Beklagte unter dem 23.06.2016 zwei Bescheide erlassen (zur Verwaltungsaktqualität sogleich unter 2), von denen einer feststellt, dass die Klägerin nicht der Versicherungspflicht unterliege, während der andere schon seiner Betreffzeile nach den „Antrag [der Klägerin] auf eine freiwillige Mitgliedschaft“ betrifft. Weil die Klägerin vorliegend aber allein die Feststellung einer freiwilligen Mitgliedschaft begehrt, ist nur letztgenannter Bescheid Klagegegenstand.

 

2. Hiergegen wendet sich die Klägerin zu Recht mit der kombinierten Anfechtungs- und Feststellungsklage (vgl Vossen in Krauskopf, SozKV <Stand: IV/2022>, § 9 Rn 42). Insbesondere ist gegen das Schreiben vom 23.06.2016 betr den Antrag auf freiwillige Mitgliedschaft die Anfechtungsklage statthaft (§ 54 Abs 1 S 1 SGG), weil es sich um einen Verwaltungsakt handelt. Hieran ändert auch der Umstand nichts, dass die Beklagte diesem – anders als dem anderen Bescheid vom selben Tage – keine Rechtsbehelfsbelehrung beigefügt hat. Eine Rechtsbehelfsbelehrung ist keine Tatbestandsvoraussetzung für die Annahme eines Verwaltungsaktes (arg ex § 67 Abs 2 SGG). Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 31 S 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) erfüllt das Schreiben vom 23.06.2016 dagegen. Insbesondere hat die Beklagte mit dem Schreiben eine Regelung iSd § 31 S 1 SGB X treffen wollen, denn sie behandelt darin schon nach der Betreffzeile den „Antrag auf eine freiwillige Mitgliedschaft“ und lehnt diesen sodann ab („Wir bitten um Ihr Verständnis, dass dem Antrag nicht entsprochen werden kann“). Auch die Feststellungsklage ist zulässig, weil es sich beim Bestehen oder Nichtbestehen einer freiwilligen Versicherung um ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis iSd § 55 Nr 1 SGG handelt (vgl BSG, Urteil vom 19.12.1974 – 3 RK 58/74, juris Rn 14).

 

3. Die Klage ist aber unbegründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig und die Klägerin nicht beschwert (§ 54 Abs 1 S 2 SGG). Die Klägerin ist nicht seit 01.04.2016 freiwillig versichertes Mitglied der Beklagten.

 

a) Die Klägerin war nicht berechtigt, zur freiwilligen Versicherung beizutreten, weil sie die in § 9 Abs 1 S 1 Nr 1 SGB V verlangten Vorversicherungszeiten nicht erfüllte. Die Klägerin war vom 13.05.2015 bis 31.03.2016 über den Bezug von Arbeitslosengeld II bei der Beklagten pflichtversichert (§ 5 Abs 1 Nr 2a Zweites Buch Sozialgesetzbuch <SGB II>). Damit betrug die Vorversicherungszeit weniger als zwölf Monate. Dies ist auch zwischen den Beteiligten nicht umstritten. Weitere Vorversicherungszeiten innerhalb der letzten fünf Jahre vor dem Ausscheiden aus der Pflichtversicherung sind nicht ersichtlich. Auch die Klägerin hat hierzu nichts vorgetragen.

 

b) Die Versicherung der Klägerin bestand auch nicht gemäß § 188 Abs 4 S 1 SGB V als freiwillige Versicherung fort. Danach setzt sich für Personen, deren Versicherungspflicht endet, die Versicherung mit dem Tag nach dem Ausscheiden aus der Versicherungspflicht als freiwillige Mitgliedschaft fort, es sei denn, das Mitglied erklärt innerhalb von zwei Wochen nach Hinweis der Krankenkasse über die Austrittsmöglichkeiten seinen Austritt.

 

Zwar ist der Klägerin zuzugeben, dass sie vorliegend zu keinem Zeitpunkt ihren Austritt erklärt hat. Dies ist insbesondere aus dem vorgelegten Verwaltungsvorgang der Beklagten ersichtlich. Danach hat die Klägerin mit dem Erklärungsformular vom 18.05.2016 der Beklagten sogar ausdrücklich mitgeteilt, dass sie nicht aus der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung austrete, sondern weiterhin bei der Beklagten versichert sein wolle. Auf den Hinweis der Beklagten, dass die Klägerin dabei keinen ihrer Vordrucke benutzt habe, sondern den einer anderen Krankenkasse, hat die Klägerin auf einem Formular der Beklagten unter dem 16.06.2016 nochmals bekräftigt, sie wolle „ab 01.04.2016 freiwilliges Mitglied [der Beklagten] werden (§ 9 oder § 188 Abs 4 SGB V)“.

 

Der obligatorischen Anschlussversicherung steht vorliegend aber § 188 Abs 4 S 3 SGB V entgegen. Danach gilt § 188 Abs 4 S 1 SGB V nicht für Personen, deren Versicherungspflicht endet, wenn die übrigen Voraussetzungen für eine Familienversicherung erfüllt sind (Var 1) oder ein Anspruch auf Leistungen nach § 19 Abs 2 SGB V besteht, sofern im Anschluss daran das Bestehen eines anderweitigen Anspruchs auf Absicherung im Krankheitsfall nachgewiesen wird (Var 2).

 

Die Voraussetzungen des § 188 Abs 4 S 3 Var 2 SGB V sind erfüllt. Es bestand für die Klägerin im Anschluss an das Ende ihrer Pflichtversicherung zunächst ein nachgehender Leistungsanspruch nach § 19 Abs 2 SGB V (dazu aa). Für die Anschlusszeit bestand ein anderweitiger Anspruchs auf Absicherung im Krankheitsfall (dazu bb); dies konnte seinerzeit bereits sicher prognostiziert werden (dazu cc). Dass die Klägerin den Nachweis der anderweitigen Absicherung frühestens Ende Mai 2016 nach Ergehen des Bescheides der Beigeladenen über die Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung führen konnte, ist ohne Belang (dazu dd).

 

aa) Nach Ende der Pflichtversicherung über den Bezug von Arbeitslosengeld II hatte die Klägerin zunächst einen nachgehenden Leistungsanspruch aus § 19 Abs 2 S 1 SGB V. Anhaltspunkte für eine Familienversicherung, die einen solchen hätte ausschließen können (§ 19 Abs 2 S 2 SGB V), sind weder vorgetragen noch anderweitig ersichtlich. Auch der Leistungsbezug nach dem SGB XII stand einem nachgehenden Leistungsanspruch nicht entgegen. Laufende Leistungen nach dem Dritten, Vierten, Sechsten und Siebten Kapitel des SGB XII schließen wegen der dadurch bedingten anderweitigen Absicherung im Krankheitsfall (vgl § 264 Abs 2 SGB V SGB XII) zwar das Entstehen der Auffangversicherungspflicht (§ 5 Abs 8a S 2 bis 4 SGB V) und auch der obligatorischen Anschlussversicherung aus (§ 188 Abs 4 S 1 SGB V; näher dazu bb), verhindern aber nicht nachgehende Leistungsansprüche aus einem beendeten Versicherungspflichtverhältnis. Insoweit bleibt es vielmehr beim Nachrang der Sozialhilfe (zum Ganzen ausf BSG, Urteile vom 29.06.2021 – B 12 KR 33/19 R, amtl Rn 16; – B 12 KR 35/19 R, amtl Rn 13).

 

bb) Weiter bestand mit dem Bezug von Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung auch Anspruch auf eine anderweitige Absicherung im Krankheitsfall iSd § 188 Abs 4 S 3 SGB V. Entsprechende Leistungen hat die Beigeladene der Klägerin mit Bescheid vom 30.05.2016 rückwirkend ab 01.04.2016 bewilligt. Dass der Bezug von Leistungen nach dem Dritten, Vierten, Sechsten und Sieben Kapitel des SGB XII eine anderweitige Absicherung im Gesetzessinne darstellt, folgt aus der Parallele zu § 5 Abs 8a S 2 SGB V, der das Entstehen einer Auffangversicherungspflicht nach § 5 Abs 1 Nr 13 SGB V ua für Empfänger derartiger Leistungen ausdrücklich ausschließt. Die Auffangpflichtversicherung nach § 5 Abs 1 Nr 13, Abs 8a SGB V auf der einen und die obligatorische Anschlussversicherung nach § 188 Abs 4 S 1 SGB V greifen insoweit gesetzessystematisch und nach ihrem Sinn und Zweck ineinander (zum Ganzen ausf wiederum BSG, Urteile vom 29.06.2021, aaO Rn 17 ff bzw 14 ff).

 

cc) Mit dem Eintreten der Grundsicherung und damit einer anderweitigen Absicherung war bei prognostischer Betrachtung auch bereits spätestens am letzten Tag des nachgehenden Monats – vorliegend also Ende April 2016 – sicher zu rechnen (vgl dazu BSG, Urteil vom 10.03.2022 – B 1 KR 30/20 R, amtl Rn 19 mwN; zur prognostischen Betrachtung auch BSG, Urteile vom 29.06.2021, aaO Rn 17 bzw 14). Den entsprechenden Leistungsantrag (§ 44 Abs 1 S 1, Abs 2 S 1 SGB XII) stellte die Schwester der Klägerin für diese am 20.04.2016 telefonisch bei der Beigeladenen. Weiter wechselte die Klägerin nur deshalb aus dem seinerzeit bereits über 22 Monate andauernden Leistungsbezug nach dem SGB II in den nach dem SGB XII, weil sie mit Ablauf des Monats März 2016 nach Vollendung eines Lebensalters von 65 Jahren und vier Monaten die maßgebliche Altersgrenze erreichte (§ 7a S 1 und 2 SGB II, §§ 41 Abs 2 S 3, 44 Abs 3 S 2 SGB XII). Dass sich darüber hinaus noch etwas geändert hätte, insbesondere in ihren wirtschaftlichen Verhältnissen, ist nicht ersichtlich. Auch die Klägerin und Beigeladene haben nicht vorgetragen, dass oder weshalb seinerzeit noch ungewiss gewesen sein soll, ob sie Leistungen nach dem SGB XII erhalten würde. Vielmehr haben Klägerin und Beigeladene auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat lediglich pauschal darauf hingewiesen, dass sich die Vermögensfreigrenzen nach dem SGB II und XII unterschieden. Zwar trifft es zu, dass das SGB II großzügigere Vermögensfreigrenzen vorsieht als das SGB XII (vgl § 12 Abs 2 SGB II einerseits und § 90 Abs 2 SGB XII, ggf iVm der DVO zu § 90 Abs 2 Nr 9 SGB XII, andererseits; s auch BSG, Urteil vom 25.08.2011 – B 8 SO 19/10 R, juris Rn. 24) und Leistungsbezieher nach dem SGB II deshalb nicht zwingend auch leistungsberechtigt nach dem SGB XII sein müssen. Dass die Klägerin tatsächlich über Vermögen verfügt hätte, dass zwar den Vermögensfreigrenzen des § 12 Abs 2 SGB II unterfiel, nach § 90 Abs 1 SGB XII aber einzusetzen gewesen wäre, behaupten aber auch die Klägerin oder die Beigeladene nicht.

 

Es ist vorliegend auch ohne Belang, dass die angesprochenen Unterschiede in den Regelungen über das einzusetzende Vermögen nach dem SGB II und XII im Einzelfall tatsächliche oder rechtliche Unsicherheiten mit sich bringen mögen, die eine Prognose erschweren können. Der Senat braucht nicht zu entscheiden, ob und unter welchen Voraussetzungen derartige tatsächliche oder rechtliche Unsicherheiten die Stellung einer entsprechenden Prognose möglicherweise vereiteln können, weil im vorliegenden Fall – wie ausgeführt – derartige Unsicherheiten nicht bestanden.

 

dd) Keine andere Beurteilung begründet auch, dass die Klägerin der Beklagten den Sozialhilfebescheid vom 30.05.2016 erst nach dessen Erlass vorlegen konnte. Dies gilt auch vor dem Hintergrund, dass § 188 Abs 4 S 3 Var 2 SGB V seinem Wortlaut nach verlangt, dass das Bestehen eines anderweitigen Anspruchs auf Absicherung im Krankheitsfall "nachgewiesen wird." Der Begriff "nachgewiesen" setzt zunächst nichts anderes als das Bestehen einer anderweitigen Absicherung zur Überzeugung der Behörde oder des Gerichts voraus; daher waren auch weitergehende Regelungen, zB zum Zeitpunkt oder zur Frist eines entsprechenden Nachweises, nicht erforderlich (so BSG, Urteile vom 29.06.2021, aaO Rn 20 bzw 17; dem folgend BSG, Urteil vom 10.03.2022, aaO Rn 19).

 

Zwar ist in diesem Zusammenhang höchstrichterlich noch nicht entschieden, ob Betroffene die anderweitige Absicherung im Krankheitsfall ggf aktiv nachzuweisen haben (offengelassen in BSG, Urteile vom 29.06.2021, aaO Rn 25 bzw 22). Dies kann hier indes dahinstehen, denn die Klägerin hat einen solchen Nachweis in jedem Fall geführt, indem sie den Bewilligungsbescheid der Beigeladenen vom 30.05.2016 über Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung bei der Beklagten einreichte (so iErg auch BSG aaO; LSG BW, Urteil vom 22.07.2022 – L 4 KR 1405/20, juris Rn 47). Dies geschah ausweislich des aus dem vorgelegten Verwaltungsvorgang ersichtlichen Eingangsstempels der Beklagten am 07.06.2016.

 

Dem Gesetz lässt sich nicht entnehmen, dass die Klägerin den Nachweis bis zu einem bestimmten Stichtag hätte führen müssen. Vielmehr schließt auch eine Bewilligung existenzsichernder Leistungen, die erst nach Ablauf des nachgehenden Versicherungsschutzes ergeht, aber auch diesen Zeitraum rückwirkend erfasst, die obligatorische Anschlussversicherung nachträglich aus (so BSG, Urteil vom 10.03.2022, aaO Rn 25; ebenso wohl auch Gerlach in Hauck/Noftz, SGB V <Stand: IX/2020>, § 188 Rn 33, dort näher zur Rückabwicklung). Dies folgt aus einer Auslegung des § 188 Abs 4 S 3 Var 2 SGB V nach Wortlaut, Systematik sowie Sinn und Zweck.

 

(1) So sieht der Gesetzeswortlaut für den "Nachweis" keinen Stichtag, keine Frist oä vor. Vielmehr schreibt das Gesetz eine Frist (von insoweit zwei Wochen) lediglich für die Austrittserklärung nach § 188 Abs 4 S 1 SGB V vor. Dass sich allein aus dem Wort "nachweisen" nicht nur eine (materielle) Beweislast, sondern darüber hinaus eine (subjektive) Beweisführungslast des Betroffenen ergibt, noch dazu eine an bestimmte Fristen gebundene, kann für das Sozialrecht zudem nicht ohne Weiteres angenommen werden (vgl dazu SG Berlin, Urteil vom 01.10.2015 – S 72 KR 2210/13, juris Rn 30; zu § 159 Abs 1 S 3 SGB III auch BSG, Urteil vom 12.10.2017 – B 11 AL 17/16 R, amtl Rn 19 mwN). Dies gilt für § 188 Abs 4 S 3 Var 2 SGB V umso mehr, als dieser passiv formuliert („nachgewiesen wird“), ohne zu regeln, wer den Nachweis zu führen haben soll.

 

(2) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Gesetzessystematik. Insoweit verfängt namentlich der Hinweis der Klägerin (insoweit unter Verweis auf Klose in Sommer, SGB V <Stand: VII/2018>, § 188 Rn 33) auf § 19 Abs 2 SGB V nicht, denn dieser schreibt lediglich vor, dass der nachgehende Leistungsanspruch für längstens einen Monat (und solange keine Erwerbstätigkeit ausgeübt wird) besteht, trifft aber keine Regelungen für die Zeit nach Ablauf des nachgehenden Leistungsanspruchs. Fristen, innerhalb derer eine anderweitige Absicherungen für die Anschlusszeit nachzuweisen wären, sieht § 19 Abs 2 SGB V dementsprechend nicht vor. In systematischer Hinsicht könnte § 188 Abs 4 S 3 Var 1 SGB V sogar den gegenteiligen Schluss nahelegen. Denn danach tritt die obligatorische Anschlussversicherung auch dann nicht ein, wenn die übrigen Voraussetzungen für eine Familienversicherung erfüllt sind. Nachweisfristen sieht das Gesetz hier nicht vor (vgl dazu § 10 Abs 6 S 1 SGB V), ohne dass ein sachlicher Grund dafür ersichtlich wäre, weshalb eine nachträglich festgestellte Familienversicherung insoweit anders behandelt werden sollte als eine erst nachträglich nachgewiesene anderweitige Absicherung. Nichts anderes gälte auch, wenn davon ausgehen wollte, dass die Formulierung des § 188 Abs 4 S 3 Var 2 SGB V („nachweist“) an die des S 2 („wenn das Mitglied […] nachweist“) anknüpft, denn zu S 2 ist anerkannt, dass der dort geforderte Nachweis nicht an eine Frist gebunden ist (so etwa Senger in Krauskopf, SozKV >Stand: VII/2020>, § 188 Rn 18; Gerlach aaO, § 188 Rn 36).

 

Das Vorbringen der Klägerin, in Fällen wie dem vorliegenden drohten zeitliche Lücken in der Absicherung gegen Krankheit, verfängt nicht. Dies gilt bereits deshalb, weil § 188 Abs 4 S 3 Var 2 SGB V schon nach seinem Wortlaut ausdrücklich nur greift, wenn ein anderweitiger Anspruch auf Absicherung besteht. Etwas anderes gilt auch nicht, wenn die anderweitige Absicherung rückwirkend festgestellt wird, eben weil gerade durch die rückwirkende Feststellung eine im Ergebnis lückenlose Absicherung besteht. Soweit eine solche rückwirkende Feststellung in tatsächlicher Hinsicht zu spät zu kommen droht – etwa wenn Betroffene vor Ergehen der rückwirkenden Feststellung erkranken –, ist dem im Verhältnis zum Träger der anderweitigen Absicherung ggf vorläufig Rechnung zu tragen. Dass derartige Unwägbarkeiten zu Lasten der Krankenkassen gingen, die auf das Verfahren der anderen Träger ggf gar keinen Einfluss haben, lässt sich dem Gesetz dagegen nicht entnehmen. Dies gilt umso mehr, wenn und soweit die freiwillige Anschlussversicherung die anderweitige Absicherung ansonsten dauerhaft verdrängen würde (vgl § 32 SGB XII).

 

(3) Sinn und Zweck des Gesetzes gebieten ebenfalls keine andere Auslegung. Zwar soll § 188 Abs 4 SGB V den Vorrang der freiwilligen vor der Auffangversicherung stärken und dies gerade auch dann, wenn die Auffangversicherung ansonsten nur deshalb einträte, weil die Betroffenen sich auch auf Aufforderung der Krankenkassen, den weiteren Versicherungsschutz zu klären, nicht bei dieser melden (dazu BT-Drs 17/13947, 27). Diese Rechtsfolge entspräche im vorliegenden Fall auch der Interessenlage der Klägerin, die erklärtermaßen freiwillig (weiter-)versichert sein möchte. Vorliegend geht es aber nicht um die Auslegung der Regel (§ 188 Abs 4 S 1 SGB V), sondern um die der Ausnahme (§ 188 Abs 4 S 3 Var 2 SGB V). Insoweit ist der Ausgangspunkt ein anderer. Denn während § 188 Abs 4 S 1 SGB V das Verhältnis der freiwilligen zur Auffangversicherung regelt, betrifft § 188 Abs 4 S 3 Var 2 SGB V das Verhältnis der freiwilligen Versicherung zu anderweitigen Absicherungen und begründet insoweit einen Vorrang letzterer (vgl BT-Drs 17/13947, 28). Dafür, dass der Gesetzgeber das Wirksamwerden dieses Vorrangs davon abhängig machen wollte, ob die Betroffenen – sei es aus Nachlässigkeit oder wie im Fall der Klägerin mit Bedacht – die anderweitige Absicherung innerhalb einer bestimmten Frist nachweisen oder nicht, enthalten die Gesetzesmaterialien keinen Anhaltspunkt (vgl sogar BT-Drs 17/13947, 28: „[…] sofern im Anschluss daran eine anderweitige Absicherung im Krankheitsfall nachgewiesen werden kann [!].“).

 

3. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Abs 1 SGG.

 

4. Gründe, gemäß § 160 Abs 2 SGG die Revision zuzulassen, bestehen nicht. Insbesondere kommt der Sache keine grundsätzliche Bedeutung zu. Ob vorliegend der Eintritt des Leistungsbezuges nach dem Vierten Kap SGB XII hinreichend sicher prognostiziert werden konnte, ist eine Tatfrage. Welche Anforderungen an den "Nachweis" iRd § 188 Abs 4 S 3 SGB V zu stellen sind, ist zwar eine Rechtsfrage, jedenfalls für die vorliegende Fallgestaltung aber höchstrichterlich geklärt (vgl BSG, Urteil vom 10.03.2022, aaO Rn 25).

 

Rechtskraft
Aus
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