L 2 AS 128/23 B ER

Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Instanz
SG Halle (Saale) (SAN)
Aktenzeichen
S 29 AS 31/23 ER
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 2 AS 128/23 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze

1. Eine zeitlich unbegrenzte Versagungsentscheidung erledigt sich noch nicht durch die Stellung eines neuen Leistungsantrages, sondern erst durch eine Entscheidung in der Sache über diesen Antrag.

2. Der nicht ausgeschüttete Gewinn einer GmbH kann dem Alleingesellschafter und Geschäftsführer nicht gem § 11 SGB II als Einkommen zugerechnet werden, wenn das Stammkapital nicht gesichert ist. Es fehlt die Verfügungsbefugnis des selbständig Tätigen über den Gewinn, weil gem § 30 GmbHG das zur Erhaltung des Stammkapitals erforderliche Vermögen der Gesellschaft nicht an die Gesellschafter ausgezahlt werden darf.

 

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.

 

Der Antragsgegner hat den Antragstellern die außergerichtlichen Kosten für das Beschwerdeverfahren zu erstatten.

 

 

Gründe:

 

I.

 

Die Beteiligten streiten über die Leistungsgewährung im einstweiligen Rechtschutz noch für den Zeitraum vom 23. Januar bis zum 30. Juni 2023.

 

Der Antragsteller zu 2) ist Alleingesellschafter und Geschäftsführer der A GmbH (nachfolgend: GmbH). Hieraus erzielt er ein Geschäftsführergehalt in Höhe von 500 € monatlich; hinzu kommen 360 € geldwerter Vorteil für die private Nutzung eines betrieblichen Kraftfahrzeuges (Kfz). Streitig ist zwischen den Beteiligten, inwieweit auch der Gewinn der GmbH als Einkommen des Antragstellers zu 2) anzurechnen ist.

 

Der Antragsteller zu 2) lebt mit seiner Partnerin [der Antragstellerin zu 1)] und den fünf gemeinsamen Kindern, wovon die Antragsteller zu 3) und 4) inzwischen volljährig sind, und einem Pflegekind (sowie ab dem 1. März 2023 einem weiteren Bereitschaftspflegekind) zusammen in einer 115 qm großen Wohnung in H.. Die Miete beträgt monatlich 577 €, die Vorauszahlung für Nebenkosten 150 € und die Heizkosten betragen (ab Januar 2023) 329 €. Die Antragsteller stehen seit 2008 im Leistungsbezug bei dem Antragsgegner. Für die Bewilligungsabschnitte 1. Juli 2021 bis 30. Juni 2022 forderte der Antragsgegner die vorläufig bewilligten Leistungen im Rahmen der endgültigen Festsetzung von den Antragstellern zurück. Gegen die Durchsetzung der Forderungen gegen ihn wendet sich der Antragsteller zu 2) im einstweiligen Rechtsschutzverfahren (anhängig beim Senat: L 2 AS 136/23 B ER).

 

Mit Bescheid vom 9. September 2022 versagte der Antragsgegner den Antragstellern die Leistungen ab dem 1. Juli 2022 wegen fehlender Mitwirkung. Trotz Aufforderung seien folgende Unterlagen bisher nicht eingereicht worden:

 

letzte Steuererklärung der GmbH

 

letzte Steuererklärung (privat)

 

letzte Gewinn- und Verlustrechnung der GmbH

 

Hiergegen legten die Antragsteller am 13. September 2022 Widerspruch ein, weil sie bereits alle relevanten Unterlagen vorgelegt hätten. Ihr Steuerberater habe bestätigt, dass sie keine private Steuererklärung abgeben müssten. Der Widerspruch der Antragsteller blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 22. Dezember 2022). Hiergegen haben die Antragsteller am 23. Januar 2023 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Halle erhoben (S 29 AS 35/23) und beantragt, den Beklagten zu verpflichten, ihnen unter Aufhebung des Versagungsbescheides Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Bürgergeld, Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) für den Bewilligungszeitraum vom 1. Juli bis zum 31. Dezember 2022 zu gewähren.

 

Mit dem gleichen Schriftsatz haben die Antragsteller im Wege der einstweiligen Anordnung beantragt, den Antragsgegner zu verpflichten, ihnen beginnend ab dem 1. Juli 2022 vorläufig Leistungen nach dem SGB II zu gewähren. Sie befänden sich in einer Notlage.

 

Bereits am 11. Dezember 2022 hatten die Antragsteller einen neuen Leistungsantrag für Leistungen ab dem 1. Januar 2023 gestellt (Konkretisierung des Leistungsbeginns mit Schreiben vom 4. Januar 2023). Sie gaben an, neben dem bekannten Geschäftsführergehalt des Antragstellers zu 2) und dem Bezug von Kindergeld kein weiteres Einkommen zu erzielen. Es würden keine Gewinnausschüttungen aus der GmbH vorgenommen. Sie legten die vollständigen Kontoauszüge des Privatkontos der Antragstellerin zu 1) vor, aus denen sich auch der Zufluss des Geschäftsführergehaltes (250 €, weitere 250 € wurden zur Schuldentilgung an die Bank gezahlt) und die Zahlungen an Vermieter und Versorger ergab.

 

Der Antragsgegner forderte die Antragsteller zur Vorlage einer vorläufigen oder abschließenden Erklärung zum Einkommen aus selbständiger Tätigkeit, Gewerbebetrieb oder Land- und Forstwirtschaft (Anlage EKS) sowie der vollständigen Kontoauszüge für die letzten drei Monate auf.

 

Mit einer Antragserweiterung, die am 20. Februar 2023 bei Gericht eingegangen ist, haben die Antragsteller ergänzend beantragt, ihnen vorläufig Leistungen beginnend ab 1. Januar 2023, hilfsweise ab dem 23. Januar 2023, zu gewähren. Bisher (vom 11. August bis zum 23. Dezember 2022) habe Frau S. mit einem Privatkredit mit Einzelzahlungen zwischen 500 € und 1000 € und in einer Gesamthöhe von 6.100 € ausgeholfen. Die Darlehensbeträge seien jedoch zum 31. März 2023 zurück zu zahlen.

 

Der Antragsgegner hat darauf hingewiesen, dass der Antragsteller zu 2) vor 20 Jahren die GmbH erworben und das Geschäftsführergehalt von 1.000 € monatlich auf 500 € monatlich abgesenkt habe. Er bzw. die Bedarfsgemeinschaft (nach Einzug des Antragstellers zu 2) im Jahr 2008) stehe durchgehend im Leistungsbezug seit 2005. Die Bilanz für das Jahr 2020 sei bereits im Mai 2022 im Bundesanzeiger veröffentlicht worden, könne also vorgelegt werden. Es gebe auch Anhaltspunkte für hohe nachzuprüfende sonstige Verbindlichkeiten der GmbH. So sei 2017 festgestellt worden, dass sonstige Verbindlichkeiten von 71.590,17 € die Bilanz belasteten. Diese hätten sich aus einem Darlehen von 32.000 € an den früheren Geschäftsführer, Reisekosten von Herrn B. über 1.138,90 € und Verbindlichkeiten aus Lohn in Höhe von 32.862,10 € ergeben. Daher sei auch jetzt eine Plausibilitätskontrolle notwendig. Es falle auch auf, dass der Kapitalfehlbetrag der GmbH im Jahr 2015 50.464,45 € betragen und in den Folgejahren bis 2020 sich immer um 50.000 € bewegt habe. Entweder liege eine Insolvenzverschleppung vor oder Gewinne würden anderweitig verwendet und seit Jahren künstlich eine Hilfebedürftigkeit suggeriert, die tatsächlich nicht bestehe.

 

Am 10. März 2023 haben die Antragsteller weitere Unterlagen beim Antragsgegner eingereicht. Dies betrifft die vorläufige Anlage EKS für das 1. Halbjahr 2023. Daraus ergeben sich Einnahmen in Höhe von 24.710 € und Betriebsausgaben in Höhe von 23.900,68 €. Daraus errechne sich ein Gewinn in Höhe von 809,32 € (monatlich 134,89 €). Auch Jahreskontenlisten der GmbH waren beigefügt. Daneben legten sie einen Steuerbescheid für die GmbH für das Jahr 2020 vor, wonach kein ausschüttbarer Gewinn vorhanden war. Die von dem Antragsgegner aufgeführten Verbindlichkeiten seien alle vor oder im Rahmen des Gesellschafterwechsels am 8. Januar 2003 entstanden. Diese Verbindlichkeiten seien mit einem Rangrücktritt versehen, der so lange gelte, wie das Stammkapital der Gesellschaft nicht vorhanden sei. Der Antragsteller zu 2) hat eidesstattlich versichert, dass keine Ausschüttungen von Gewinnen erfolgt seien, dass die Verbindlichkeiten in der Bilanz aus der Übernahme resultierten und er seit dem Jahr 2000 kein eigenes Konto bei einer Sparkasse oder einem anderen Kreditinstitut habe und dass über die erhaltenen privaten Darlehen in Höhe von 6.100 € keine weiteren Darlehen aufgenommen werden könnten und die Rückzahlungen des Darlehens über 6.100 € zum 31. März 2023 fällig sei. In einer weiteren Anlage haben die Antragsteller die Gewinn- und Verlustrechnung der GmbH zum 31. Dezember 2022 vorgelegt.

 

Von den in der EKS aufgeführten Ausgaben hat der Antragsgegner nach einer eigenen Aufstellung die Raumkosten (2.806 €) die Ausgaben für das betriebliche Fahrzeug (insgesamt 1.194,68 €) und die Höhe der Telefonkosten (so könnten nur 450 € statt 1.350 € anerkannt werden) angezweifelt. Insoweit errechne sich ein Gewinn in Höhe 5.710 €, also 951,66 € pro Monat.

 

Mit Beschluss vom 16. März 2023 hat das SG den Antragsgegner verpflichtet, den Antragstellern ab dem 23. Januar 2023 vorläufig bis 30. Juni 2023 längstens bis zur Entscheidung in der Hauptsache Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes unter Berücksichtigung eines Einkommens des Antragsteller zu 2) in Höhe von 608 € monatlich ohne Anrechnung von Einkünften aus Gewerbebetrieb des Antragstellers zu 2) zu gewähren, und im Übrigen den Antrag abgelehnt. Eine Kostenerstattung finde nicht statt.

 

Der prognostizierte Gewinn betrage 134,89 € monatlich. Nach Bereinigung bestehe kein anrechenbarer Gewinn. Im Übrigen dürfe der Gewinn nicht als Einkommen des Antragstellers zu 2) berücksichtigt werden. Denn ein möglicher Gewinn stünde dem Antragsteller zu 2) nicht als bereites Mittel zur Verfügung, da Auszahlungen der GmbH verboten seien, wenn durch sie eine Unterbilanz herbeigeführt oder weiter vertieft oder wenn die Gesellschaft bereits überschuldet ist. Die Kostenentscheidung berücksichtige, dass die Antragsteller die erforderlichen Unterlagen erst im Verlauf des Gerichtsverfahrens eingereicht hätten.

 

Gegen die ihm am 16. März 2023 zugestellte Entscheidung hat der Antragsgegner am 5. April 2023 Beschwerde eingelegt. Er ist weiterhin der Meinung, es müsse umfassend geprüft werden können, ob auch unter Berücksichtigung des Maßstabes des SGB II tatsächlich ein Verstoß gegen das Kapitalerhaltungsgebot vorliege.

 

Für weitere Einzelheiten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten des Antragsgegners sowie die Gerichtsakten verwiesen. Diese haben vorgelegen und sind vom Senat bei seiner Entscheidung berücksichtigt worden.

 

II.

 

Die gemäß § 172 Abs. 1, Abs. 3 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde des Antragsgegners hat keinen Erfolg. Das SG hat dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung für den Zeitraum 23. Januar bis 30. Juni 2023 zu Recht stattgegeben. Nur dieser Zeitraum ist durch die Beschwerde des Antragsgegners Gegenstand dieser zweitinstanzlichen Entscheidung.

 

1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86b Abs. 2 SGG ist statthaft und auch im Übrigen zulässig. Der Statthaftigkeit steht nicht entgegen, dass der Antragsgegner die begehrten Leistungen versagt hat.

 

a) Die Versagungsentscheidung vom 9. September 2022 gilt auch noch für den Bewilligungszeitraum ab dem 1. Januar 2023. Allein der Umstand, dass die Antragsteller einen neuen Leistungsantrag gestellt haben, lässt die Wirkung der Versagung noch nicht entfallen, weil sich dadurch der Verwaltungsakt noch nicht erledigt hat i. S. des § 39 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X). Danach bleibt ein Verwaltungsakt wirksam, solange und soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist. Zutreffend hat bereits das SG ausgeführt, dass die Versagungsentscheidung keine Versagung für einen bestimmten Zeitraum zum Inhalt hat, sondern eine solche ab dem 1. Juli 2022. Auch im Widerspruchsbescheid ist dieser Tenor nicht verändert worden, weil der Widerspruch als unbegründet zurückgewiesen wurde. Auf andere Weise hat sich ein Verwaltungsakt erledigt, wenn er seine regelnde Wirkung verliert oder die Ausführung seines Hauptverfügungssatzes rechtlich oder tatsächlich unmöglich geworden ist (vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 11. Februar 2015 – B 6 KA 7/14 R – juris Rn. 18 m.w.N.). Eine Versagungsentscheidung erledigt sich im Fall der nachfolgenden Bewilligung (Landessozialgericht [LSG] B.-B., Urteil vom 19. Mai 2022 – L 19 AS 1242/21 – juris Rn. 22) oder auch im Fall der nachfolgenden Leistungsablehnung (vgl. Senatsurteil vom 30. Juni 2016 – L 2 AS 260/15 – juris Rn. 44). Denn in beiden Fällen ergeht eine Entscheidung in der Sache, d.h. es wird dem Antragsteller die verfahrensrechtliche Position wieder eingeräumt, die ihm zuvor aberkannt worden war. Vorliegend hat der Antragsgegner aber bisher eine solche Sachentscheidung nicht getroffen.

 

b) Gegen eine Versagungsentscheidung wäre in der Hauptsache die Anfechtungsklage statthaft (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 9 SB 3/13 R –, juris Rn. 10 f.). Einstweiliger Rechtsschutz in Anfechtungssachen richtet sich zwar nach § 86b Abs. 1 SGG, und hier käme die Feststellung der aufschiebenden Wirkung der Klage vom 23. Januar 2023 gegen den Versagungsbescheid gem. § 86a Abs. 1 SGG in Betracht. Denn es liegt weder eine in § 39 SGB II gesetzlich vorgesehene (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 18. Mai 2016 – L 5 AS 168/16 B ER – juris Rn. 26) vom noch eine vom Antragsgegner behördlich angeordnete sofortige Vollziehbarkeit vor [s. ausführlich unten unter 2. b) aa)]. Die aufschiebende Wirkung der Klage steht vorliegend aber nicht im Streit. Im Übrigen erhielten die Antragsteller mit der bloßen Feststellung dieser aufschiebenden Wirkung entsprechend § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG keinen ausreichend effektiven Rechtsschutz i.S.v. Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) im Hinblick auf den geltend gemachten materiellrechtlichen Leistungsanspruch. Denn es ist nicht davon auszugehen, dass eine solche Feststellung ihnen bereits zu den begehrten Leistungen verhelfen würde (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Auflage 2020, § 86b Rn. 29b.). Insofern bedürfen sie für einen ausreichenden Rechtsschutz der einstweiligen Anordnung gem. § 86b Abs. 2 SGG.

 

c) Gemäß § 86b Abs. 2 SGG kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers erschwert oder wesentlich vereitelt wird. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist gemäß § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO) die Glaubhaftmachung des Vorliegens sowohl eines Anordnungsanspruchs (also eines in der Hauptsache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs) als auch eines Anordnungsgrunds (also der Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile). Ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund sind glaubhaft gemacht, wenn ihre tatsächlichen Voraussetzungen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit vorliegen (vgl. Keller, a.a.O., Rn. 16b).

 

Je gewichtiger die drohende Grundrechtsverletzung und je höher ihre Eintrittswahrscheinlichkeit ist, desto intensiver hat die tatsächliche und rechtliche Durchdringung der Sache bereits im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu erfolgen. Ist eine der drohenden Grundrechtsverletzung entsprechende Klärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich – etwa weil es dafür weiterer, in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht zu verwirklichender tatsächlicher Aufklärungsmaßnahmen bedürfte –, kann eine Entscheidung aufgrund einer Folgenabwägung ergehen (Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 14. März 2019 – 1 BvR 169/19 – juris Rn. 15 m.w.N.).

 

2. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist für den betreffenden Zeitraum auch begründet.

 

a) Einem Anordnungsgrund für den einstweiligen Rechtsschutzantrag für den Zeitraum 23. Januar bis 30. Juni 2023 steht nicht entgegen, dass die Antragsteller erst am 20. Februar 2023 den einstweiligen Rechtschutzantrag explizit auf Leistungen ab dem 1. Januar bzw. 23. Januar 2023 erweitert haben. Bei Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ist zwar ein Anordnungsgrund regelmäßig erst für Leistungszeiträume ab Eingang des Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz bei Gericht anzunehmen (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Auflage 2020, § 86b Rn. 35a m.w.N.; noch enger: Burkiczak, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGG,2. Aufl. 2022, § 86b Rn. 435: ab dem Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung), ein solcher lag hier aber vor. So erfasste bereits der einstweilige Rechtsschutzantrag vom 23. Januar 2023 künftige Leistungen auch ab diesem Zeitpunkt. Denn, anders als im Antrag im Klageverfahren, haben die anwaltlich vertretenen Antragsteller für die einstweilige Anordnung nur den Leistungsbeginn (1. Juli 2022) benannt. Dies korrespondiert damit, dass der Antragsgegner die Leistungsversagung ebenfalls nicht zeitlich befristet hatte, sondern die Leistungen ab dem 1. Juli 2022 versagt wurden. Dass in der Betreffzeile des Antragsschriftsatzes der Zeitraum vom 1. Juli bis zum 31. Dezember 2022 genannt wird, schränkt nach dem Gesamtzusammenhang des Vorbringens den eindeutig offen formulierten Antrag nicht ein.

 

b) Die Antragsteller haben auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.

 

aa) Die Rechtmäßigkeit des Versagungsbescheides braucht nicht geprüft zu werden, weil die Klage gegen den Versagungsbescheid gem. § 86a Abs.1 Satz 1 SGG aufschiebende Wirkung hat und Sofortvollzug nicht angeordnet worden ist. Versagungsbescheide im Bereich des SGB II sind nicht von Gesetzes wegen sofort vollziehbar. Denn die gesetzliche Regelung für die sofortige Vollziehbarkeit in § 39 SGB II erfasst diesen Sachverhalt nicht (vgl. Hessisches LSG, Beschluss vom 17. März 2020 – L 6 AS 143/20 ER – juris Rn. 13; vgl. Aubel in: jurisPK-SGB II, 5. Auflage 2020 § 39 - Stand 15. März 2022 - Rn. 15 f.). Erfasst ist danach nur ein Verwaltungsakt der Leistungen „aufhebt, zurücknimmt, widerruft oder entzieht“. Gerade die Gesetzesänderung zum 1. August 2016 mit der Ergänzung des Entfalls der aufschiebenden Wirkung auch für Entziehungsbescheide bei unveränderter Nichterwähnung von Versagungsbescheiden zeigt, dass solche Bescheide nicht von § 39 SGB II erfasst werden sollen. Die aufschiebende Wirkung tritt unabhängig davon ein, ob der Rechtsbehelf begründet oder unbegründet ist oder auch nur Aussicht auf Erfolg hat (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl. 2020, § 86a Rn. 10).

 

bb) Die Antragsteller haben das Bestehen eines Leistungsanspruches auf Bürgergeld glaubhaft gemacht. Sie sind leistungsberechtigt gem. § 7 SGB II. So sind sie erwerbsfähig bzw. leben mit erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einer Bedarfsgemeinschaft und sind auch hilfebedürftig, weil sie nicht in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt (vollständig) mit eigenem Einkommen oder Vermögen zu sichern §§ 9, 11 ff. SGB II.

 

Die Bedarfe der Antragsteller nach §§ 19, 20f., 22 SGB II sind nicht streitig. Die Antragsteller können ihren Lebensunterhalt nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern (§ 9 Abs. 1 SGB II). Sie verfügen nur über zu berücksichtigendes Einkommen des Antragstellers zu 2) aus seiner Geschäftsführertätigkeit und das Kindergeld für die Antragsteller zu 3) bis 7) und kein der Hilfebedürftigkeit entgegenstehendes Vermögen.

 

(1) Zutreffend ist das SG davon ausgegangen, dass nicht nur das in Geld ausgezahlte Einkommen in Höhe von 500 €, sondern auch der geldwerte Vorteil durch die private Nutzung bzw. Nutzbarkeit des Dienstwagens in Höhe von 360 € anrechenbar ist. Nach § 11 Abs. 1 Satz 2 SGB II sind auch Einnahmen in Geldeswert als Einkommen zu berücksichtigen, die im Rahmen u. a. einer Erwerbstätigkeit zufließen. Kommt der „Arbeitgeber“ (hier: Vertragspartner) seiner vertraglichen Verpflichtung nach und stellt den Sachbezug tatsächlich zur Verfügung, ist von einem Zufluss der geldwerten Einnahme auszugehen (vgl. Zur Bereitstellung einer kostenlosen Verpflegung durch den Arbeitgeber: BSG, Urteil vom 5. August 2021 – B 4 AS 83/20 R – juris Rn. 23). Das Zur-Verfügung-Stellen des betrieblichen Pkw zur Privatnutzung ist in Geld bemessbar (vgl. LSG B.-B., Beschluss vom 15. November 2021 – L 1 AS 705/19 – juris Rn. 40 ff.). Der Antragsteller zu 2) hat sich für einen solchen Sachbezug entschieden (da er auf Seite der Gesellschaft das Geschäft mit sich abgeschlossen hat). Es ist davon auszugehen, dass der nach der steuerrechtlichen Regelung errechnete Betrag jedenfalls nicht unter dem Verkehrswert liegt, wovon auch die Beteiligten ausgehen. Dieses Einkommen ist gem. § 11b Abs. 2 Satz 1, Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 SGB II um 252 € SGB II zu bereinigen, so dass 608 € anrechenbar sind – wie vom SG tenoriert.

 

(2) Ein weiteres Einkommen ist dem Antragsteller zu 2) nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes möglichen summarischen Prüfung nicht zugeflossen. Der Antragsteller zu 2) hat eidesstattlich versichert, dass ihm kein Gewinn ausgezahlt worden ist und dies bis zum Ende des Bewilligungsabschnittes auch nicht beabsichtigt ist. Hierfür finden sich auch keine Hinweise in den Bilanzen bzw. mitgeteilten Kontenaufstellungen.

 

(3) Zutreffend hat das SG dargestellt, dass auch ein etwaiger (nicht ausgezahlter) Gewinn der GmbH dem Antragsteller zu 2) nicht als eigenes Einkommen zugerechnet werden kann.

 

Zu Recht weist der Antragsgegner darauf hin, dass grundsätzlich auch Gewinne der GmbH dem Antragsteller auch ohne Gesellschafterbeschluss über die Ausschüttung von Gewinnen als Einnahme zugeordnet werden können. Denn der Antragsteller zu 2) war als alleiniger Gesellschafter und Geschäftsführer als selbständig Tätiger anzusehen. Der Grundsatz, dass die Ausübung des Gewerbes in der Konstruktion einer bestimmten Gesellschaftsform nicht zu einer privilegierten Stellung des Unternehmers gegenüber sonstigen Selbständigen führen darf (vgl. BSG, Urteil vom 22. August 2013 – B 14 AS 1/13 R – juris), gilt auch für die Ein-Personen-GmbH (vgl. auch LSG H., Urteil vom 27. Januar 2022 – L 4 AS 23/20 – juris Rn. 30). Für die Berechnung dieses Gewinnes sind auch die Grundsätze der Berechnung des Einkommens aus selbständiger Arbeit nach § 3 der Bürgergeld-Verordnung (Bürgergeld-V) zu beachten, also insbesondere die Berücksichtigung nur von notwendigen Ausgaben ohne Rücksicht auf steuerrechtliche Vorschriften (vgl. BSG, a.a.O., Rn. 22 ff; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 23. Februar 2016 – L 9 AS 2108/13 – juris Rn. 46 ff.). Für die Gewinnermittlung selbst weist insofern der Antragsgegner zu Recht darauf hin, dass er die einzelnen Ausgaben prüfen muss.

 

Hierauf kommt es allerdings nicht an, denn vorliegend darf ein solcher möglicher Gewinn nicht als Einkommen des Antragstellers zu 2) angerechnet werden. Denn Voraussetzung für eine solche Anrechnung eines nicht tatsächlich ausgezahlten Gewinnes ist, dass der alleinige Gesellschafter und Geschäftsführer uneingeschränkt über die der GmbH zugeflossenen Mittel verfügen kann. In der zitierten BSG-Entscheidung heißt es dazu wörtlich: „Entscheidend für die Zuordnung sämtlicher Zuflüsse als Einnahmen des Klägers ist danach allein, dass er aufgrund seiner Position in der KG und der Kommanditgesellschaft uneingeschränkt über die zugeflossenen Mittel verfügen konnte“ (BSG, a.a.O., Rn. 23). Der uneingeschränkten Verfügbarkeit stehen hier Vorschriften des Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbHG) entgegen. Nach § 30 Abs. 1 GmbHG darf das zur Erhaltung des Stammkapitals erforderliche Vermögen der Gesellschaft nicht an die Gesellschafter ausgezahlt werden. D. h., der Gewinn darf nicht ausgeschüttet werden, wenn das Stammkapital nicht gesichert ist. Vorliegend besteht nach der Aufstellung von Aktiva und Passiva in den Kontennachweisen zur Bilanz zum 31. Dezember 2022 – wie in den Vorjahren – eine solche Unterkapitalisierung. In den früheren Bilanzen betrug dieser etwa 50.000 €. Folgerichtig hat auch die Steuerverwaltung – etwa für das Jahr 2020 – einen ausschüttbaren Gewinn von 0 € festgestellt.

 

Solange bilanziell eine solche Unterkapitalisierung der GmbH vorliegt, darf ein etwaiger Gewinn nicht ausgezahlt werden, sondern muss dafür verwendet werden, das Stammkapital wieder aufzufüllen. Das Verbot der Gewinnausschüttung aus § 30 GmbHG betrifft die Bilanz, die nach steuerrechtlichen Grundsätzen ermittelt wird. Die Aktiva sind dem letzten Jahresabschluss zu entnehmen und nach Bilanzierungsansatz und Bewertungsgrundsätzen zeitanteilig fortzuschreiben, auf der Passivseite sind sämtliche Verbindlichkeiten der Gesellschaft mit ihrem aktuellen Nennwert anzusetzen (vgl. Hommelhoff in Lutter/Hommelhoff, GmbH-Gesetz, Kommentar, 21. Aufl. 2023, § 30 Rn. 12 ff.) Die Vorschrift dient der Erhaltung des Stammkapitals zugunsten der Gläubiger der GmbH, die Bestimmung ist zwingend und streng auszulegen, auch jede Umgehung fällt unter das Verbot (Hommelhoff, a.a.O., § 30 Rn. 1). Es ist daher unbeachtlich, ob unter Beachtung der SGB II-Grundsätze bei der Gewinnermittlung (§ 3 Bürgergeld-V) sich ein anderer Wert ergäbe. Bei der Höhe der Unterkapitalisierung von ca. 50.000 € in den vergangenen Jahren ist es für das einstweilige Rechtschutzverfahren unbeachtlich, dass keine Zwischenbilanz für das Jahr 2023 vorgelegt wurde. Bei dem – selbst von dem Antragsgegner angesetzten – Gewinn erscheint es ausgeschlossen, dass dieser nicht zur Auffüllung des Stammkapitals dienen muss.

 

Weitere geldwerte Vorteile durch die GmbH sind – bis auf den dargestellten Vorteil der Nutzung des betrieblichen Pkw – nicht zu erkennen. Nach § 11 Abs. 1 Satz 2 SGB II könnten auch weitere geldwerte Vorteile berücksichtigt werden. Für solche Vorteile, die der Antragsgegner als theoretische Möglichkeit im Erörterungstermin thematisiert hat, bestehen aber keine Anhaltspunkte, solche hat auch der Antragsgegner nicht aufgezeigt.

 

3. Die Kostenentscheidung richtet sich in entsprechender Anwendung nach § 193 Abs. 1 SGG. Hierbei war zu berücksichtigen, dass der Antragsgegner die Beschwerde eingelegt hat und erstinstanzlich keine Kosten zu erstatten hat. Eine Kostenentscheidung war daher nur für das Beschwerdeverfahren zu treffen.

 

4. Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).

 

gez. Dr. Harks                                    gez. Schmidt                          gez. Wulff

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