L 13 VE 43/18

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 118 VE 89/16
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 VE 43/18
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Beklagten und die Anschlussberufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 24. September 2018 werden zurückgewiesen.

 

Die Beklagte hat dem Kläger dessen außergerichtliche Kosten des gesamten Verfahrens zur Hälfte zu erstatten.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

Tatbestand

 

Die Beteiligten streiten über die Weitergewährung von Heilbehandlung nach § 82 Abs. 2 Satz 3 Soldatenversorgungsgesetz (SVG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) über den 31. Juli 2005 hinaus.

 

Der 1969 geborene Kläger war bis Juni 1990 Soldat bei der N V der DDR. Nach einer Tätigkeit als Schlosser von Januar bis Juni 1991 trat er Anfang Juli 1991 in das Dienstverhältnis eines Soldaten auf Zeit bei der Bundeswehr ein. Im Juni 1994 erkrankte er an einem beidseitigen Keratokonus, einer kegelförmigen Vorwölbung der Hornhaut der Augen. Die Dienstzeit des Klägers bei der Bundeswehr endete am 30. Juni 1997.

 

Die von dem Kläger mit den Anträgen vom 14. Mai 1997 und vom 9. Juli 1997 begehrte Beschädigtenversorgung wegen Vorliegens einer Wehrdienstbeschädigung wurde nach Durchführung des Verwaltungs- und Gerichtsverfahrens (zuletzt Beschluss des Bundessozialgerichts vom 25. Juli 2013 – B 9 V 12/13 B –) rechtskräftig abgelehnt.

 

Auf den Antrag des Klägers vom 7. Juni 1997 gewährte ihm die Versorgungsverwaltung B mit Bescheid vom 5. August 1997 für die Gesundheitsstörung „Keratokonus beidseits“ bis zum 30. Juni 2000 Heilbehandlung gemäß § 82 Abs. 1 SVG und in diesem Zusammenhang auch Versorgungskrankengeld. In der Folgezeit gewährte die Versorgungsverwaltung B im Benehmen mit dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung dem Kläger mit mehreren Bescheiden Heilbehandlung als Ermessensleistung nach § 82 Abs. 2 Satz 3 SVG bis zum 31. Dezember 2004.

 

Die von der Versorgungsverwaltung B gesondert verfügte Einstellung des Versorgungsgeldes zum 31. Dezember 2001 bildet (nach Zurückverweisung durch das Bundessozialgericht mit Urteil vom 30. September 2009 – B 9 VS 3/09 R – hinsichtlich des Zeitraumes ab 1. Januar 2005) den Gegenstand des Berufungsverfahrens bei dem Landessozialgericht Berlin-Brandenburg – L 13 VS 4/16 ZVW WA –, das derzeit ausgesetzt ist.

 

Mit Bescheid vom 20. Dezember 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. September 2009 lehnte die Versorgungsverwaltung B Heilbehandlung über den 31. Dezember 2004 hinaus ab. Hiergegen hat der Kläger Klage bei dem Sozialgericht Berlin erhoben (S 45 VS 268/08 – S 45 VS 101/11 WA). Das seinerzeit beklagte Land Berlin hat im Klageverfahren einen Anspruch des Klägers auf Heilbehandlung bis zum 31. Juli 2005 anerkannt. Der Kläger hat das Teilanerkenntnis angenommen und den Rechtsstreit im Übrigen fortgeführt.

 

Im Wege des gesetzlichen Beteiligtenwechsels – vgl. Gesetz zur Übertragung der Zuständigkeiten der Länder im Bereich der Beschädigten- und Hinterbliebenenversorgung nach dem Dritten Teil des Soldatenversorgungsgesetzes auf den Bund vom 15. Juli 2013 (BGBl. I 2416) – ist die Beklagte am 1. Januar 2015 an die Stelle des Landes Berlin getreten.

 

Mit Urteil vom 1. April 2015 – S 45 VS 101/11 WA – hat das Sozialgericht die Beklagte verpflichtet, unter Beachtung der rechtlichen Erwägungen des Gerichts den Antrag des Klägers auf weitere Leistungen zur Heilbehandlung auch über den 31. Juli 2005 hinaus neu zu bescheiden, und im Übrigen die Klage abgewiesen. Diese Entscheidung ist rechtskräftig.

 

Nachdem die Beklagte mit dem als „Ausführungsbescheid“ bezeichneten Schreiben vom 25. November 2015 den Tenor des Urteils vom 1. April 2015 lediglich wiederholt hatte, hat sie mit Ausführungsbescheid vom 15. Februar 2016 den Antrag des Klägers auf weitere Leistungen zur Heilbehandlung über den 31. Juli 2005 hinaus abgelehnt. Den – entsprechend der Rechtsbehelfsbelehrung – hiergegen erhobenen Widerspruch hat sie mit Widerspruchsbescheid vom 8. Juni 2016 zurückgewiesen.

 

Mit seiner Klage bei dem Sozialgericht Berlin – S 118 VE 89/16 – hat der Kläger begehrt, die Beklagte aus dem Urteil vom 1. April 2015 zu verpflichten, ihm die gesetzlichen Leistungen nach dem SVG in Verbindung mit dem BVG über den 31. Juli 2005 hinaus zu gewähren.

 

Das Sozialgericht hat mit Urteil vom 24. September 2018 die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 15. Februar 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Juni 2016 verpflichtet, über den Antrag des Klägers auf weitere Leistungen zur Heilbehandlung auch über den 31. Juli 2005 hinaus unter Berücksichtigung der Rechtsauffassungen des Gerichts aus dem Urteil vom 1. April 2015 zu entscheiden. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt, die Beklagte habe in ihrem Ausführungsbescheid die Rechtsauffassungen des Sozialgerichts aus dem Urteil vom 1. April 2015 nicht beachtet. Deshalb habe der Kläger Anspruch auf erneute – ermessensfehlerfreie – Bescheidung über die Weitergewährung der Heilbehandlung. Die von dem Kläger darüber hinaus begehrte Verurteilung der Beklagten zur Heilbehandlung über den 31. Juli 2005 hinaus komme mangels Ermessensreduzierung auf Null nicht in Betracht.

 

Die Beklagte hat gegen das Urteil des Sozialgerichts vom 24. September 2018 insoweit Berufung eingelegt, als sie hierbei zur Neubescheidung verpflichtet wird. Sie ist der Ansicht, das Sozialgericht habe seine Prüfungskompetenz überschritten, weil es eigene Ermessenserwägungen an die Stelle des behördlichen Ermessens gesetzt habe.

 

Hinsichtlich des am 19. Dezember 2001 bei der Versorgungsverwaltung B eingegangenen Antrags des Klägers hat die Beklagte in der Sitzung des Verwaltungsgerichts Berlin – VG 22 K 67/15 – vom 23. Oktober 2018 erklärt, sie werde die im Antrag geltend gemachten Ansprüche, soweit sie nicht Leistungen der Kriegsopferfürsorge beträfen, prüfen. Mit Bescheid vom 7. Juni 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Juli 2020 hat sie derartige Ansprüche abgelehnt. Mit der bei dem Sozialgericht Berlin erhobenen Klage (Klageschrift vom 12. August 2020) hat der Kläger die gerichtliche Feststellung beantragt, er habe gegen die Beklagte einen Anspruch dem Grunde nach auf berufliche Rehabilitation und bedürfe zur Konkretisierung des Anspruchs der Beratung durch deren fachkundiges Personal.

 

Mit Schriftsätzen vom 7. März 2020 und vom 3. August 2020 hat der Kläger Zwischenfeststellungswiderklagen erhoben und sie im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 20. April 2023 wieder zurückgenommen. Ferner hat er mit Schriftsatz vom 16. November 2020 die Verurteilung der Beklagten zur Weitergewährung von Heilbehandlung im Wege eines „Zwischenurteils“ beantragt.

 

Die Beklagte beantragt,

 

  1. das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 24. September 2018 aufzuheben und die Klage in vollem Umfang abzuweisen, ferner
  2. die Anschlussberufung des Klägers zurückzuweisen.

 

Der Kläger beantragt,

 

  1. die Berufung der Beklagten zurückzuweisen,

 

im Wege der Anschlussberufung,

 

  1. das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom Urteil vom 24. September 2018 zu ändern und die Beklagte zu verpflichten, ihm über den 31. Juli 2005 hinaus Heilbehandlung nach § 82 Abs. 2 Satz 3 Soldatenversorgungsgesetz in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz zu gewähren.

 

 

 

 

Entscheidungsgründe

 

Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet (A.). Die Anschlussberufung des Klägers ist zulässig, aber unbegründet (B.).

 

A. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts vom 24. September 2018 kann nicht erfolgreich darauf gestützt werden, dass die Klage des Klägers unzulässig wäre. Denn sie ist zulässig. Insbesondere ist sie als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) in Form der Bescheidungsklage statthaft, da es sich bei dem Ausführungsbescheid der Beklagten vom 15. Februar 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Juni 2016 um einen Verwaltungsakt handelt. Zwar treffen Ausführungsbescheide keine Regelungen im Sinne des § 31 Satz 1 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X), soweit die Behörde nur der im Urteil oder im Gerichtsbescheid auferlegten Verpflichtung entspricht (vgl. BSG, Beschluss vom 24.11.2020 – B 9 SB 4/20 BH – BeckRS 2020, 42065, mit weiteren Nachweisen). Sofern – wie hier – jedoch geltend gemacht wird, dass die Beklagte den Ausführungsbescheid gerade nicht entsprechend ihrer Verurteilung im Urteil vom 1. April 2015 erlassen und damit die gerichtliche Entscheidung nicht richtig umgesetzt habe, ist die Statthaftigkeit der Klage zu bejahen.

 

Auch in der Sache hat die Berufung der Beklagten keinen Erfolg. Das Sozialgericht hat die Beklagte zu Recht unter Aufhebung des Ausführungsbescheides vom 15. Februar 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Juni 2016 verpflichtet, erneut über den Antrag des Klägers auf Heilbehandlung über den 31. Juli 2005 hinaus zu entscheiden. Denn der Ausführungsbescheid ist rechtswidrig. Der Senat folgt den zutreffenden Gründen des angefochtenen Urteils vom 24. September 2018 und sieht nach § 153 Abs. 2 SGG von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab. Die mit der Berufung vorgebrachten Einwände der Beklagten rechtfertigen keine andere Entscheidung. Entgegen ihrer Ansicht hat das Sozialgericht nicht eigene Ermessenserwägungen an die Stelle des behördlichen Ermessens gesetzt. Vielmehr hat es sehr sorgfältig und detailliert herausgearbeitet, dass die Beklagte in ihrer Entscheidung über die Gewährung von Heilbehandlung die – für sie verbindlichen – Rechtsauffassungen des Gerichts, die sich aus dem Urteil vom 1. April 2015 ergeben, nicht hinreichend beachtet hat. Eigenes Ermessen hat das Sozialgericht in dem hier angegriffenen Urteil vom 24. September 2018 nicht ausgeübt, sondern sich auf die ihm obliegende Prüfung und Feststellung beschränkt, dass die Beklagte in deren Ausführungsbescheid vom 15. Februar 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Juni 2016 Ermessensfehler begangen und damit ihrer Verpflichtung aus dem Urteil vom 1. April 2015 nicht nachgekommen ist.

 

Der Senat weist darauf hin, dass sich die Bedeutung der Verurteilung der Beklagten zu einer erneuten Ermessensentscheidung nicht darauf beschränkt, dass die Beklagte für die einmal getroffene Ablehnung der Heilbehandlung eine ermessensfehlerfreie Begründung zu finden hat. Vielmehr muss sie bei ihrer künftigen Ermessensentscheidung erkennbar machen, dass sie das Gebot der Wahlbereitschaft beachtet hat, was für den vorliegenden Einzelfall bedeutet, dass sie unvoreingenommen die Gewährung der Heilbehandlung überhaupt in Betracht gezogen hat. Hierbei hat sich die die Beklagten an der aktuellen Sach- und Rechtslage zu orientieren.

 

B. Der Antrag des rechtsunkundigen und anwaltlich nicht vertretenen Klägers, die Beklagte im Wege eines „Zwischenurteils“ zur Weitergewährung von Heilbehandlung zu verpflichten, ist als Anschlussberufung zu verstehen.

 

Sie ist zulässig, insbesondere nicht verfristet. Denn eine Anschlussberufung ist nach § 202 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 524 Abs. 2 Satz 1 Zivilprozessordnung (ZPO) an keine Frist gebunden. Hierfür ist erforderlich, dass die Anschlussberufung den gleichen prozessualen Anspruch wie die Berufung betrifft. Dies ist der Fall.

 

Die Anschlussberufung ist unbegründet. Der Kläger hat derzeit noch keinen Anspruch gegen die Beklagte, ihm über den 31. Juli 2005 hinaus Heilbehandlung nach § 82 Abs. 2 Satz 3 SVG in Verbindung mit dem BVG zu gewähren. Denn die hierfür erforderliche Ermessensreduzierung auf Null liegt, wie das Sozialgericht zutreffend ausgeführt hat, derzeit noch nicht vor. Der Senat weist allerdings darauf hin, dass im vorliegenden Einzelfall die wiederholte und sich bislang über knapp zwei Jahrzehnte erstreckende ermessensfehlerhafte Behandlung des Begehrens des Klägers, das für ihn von großer wirtschaftlicher Bedeutung ist, vor dem Hintergrund des nach Art. 19 Abs. 4 GG garantierten Rechts auf effektiven Rechtsschutz künftig dazu führen kann, dass sich der klägerische Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung zu einem Anspruch auf die Weitergewährung von Heilbehandlung verdichten kann, wenn sich die Beklagte weiterhin einer ermessensfehlerfreien Bescheidung des Klägers verschließen sollte.

 

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den Ausgang des Verfahrens.

 

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.

 

 

Rechtskraft
Aus
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