Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 30. September 2020 geändert. Der Beklagte wird unter Änderung seines Bescheides vom 3. Juli 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Oktober 2018 in Ausführung seines Teilanerkenntnisses vom 11. Januar 2023 verpflichtet, zugunsten der Klägerin mit Wirkung ab Juli 2022 einen Grad der Behinderung von 40 festzustellen. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die 1961 geborene Klägerin begehrt die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von mehr als 50.
Am 29. August 2008 hatte der Beklagte bei der Klägerin einen GdB von 30 festgestellt. Einen Neufeststellungsantrag der Klägerin vom 2. Mai 2018 lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 3. Juli 2018 ab und hielt daran auch mit Widerspruchsbescheid vom 17. Oktober 2018 fest. Seiner Entscheidung legte der Beklagte eine Funktionsbehinderung der Wirbelsäule bei Bandscheibenschäden mit einem Einzel-GdB von 20, einen Bauchnabelbruch und Reizmagen mit einem Einzel-GdB von 20, eine Funktionsbehinderung des Schultergelenkes beidseitig mit einem Einzel-GdB von 20 sowie Kopfschmerz, Restless-Legs-Syndrom und Anpassungsstörung mit einem Einzel-GdB von ebenfalls 20 zugrunde. Die weiteren Funktionsbeeinträchtigungen Bronchial-Asthma und Funktionsbehinderung des Kniegelenkes beidseitig bewertete er intern jeweils mit Einzel-GdB von 10.
Mit der hiergegen gerichteten Klage hat die Klägerin einen GdB von mindestens 60 begehrt und zur Begründung ausgeführt, die bei ihr festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen des Bewegungs- und Haltungsapparates seien deutlich zu niedrig bewertet worden. Betroffen seien drei Wirbelsäulenabschnitte, weshalb ihres Erachtens ein GdB von 50 bis 70 allein für das Wirbelsäulenleiden anzusetzen sei. Darüber hinaus leide sie an einer Pfortaderthrombose. Hierdurch könne die Leberfunktion erheblich beeinträchtigt werden. Diese müsse nach Teil B 10.3.3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) als zirkulatorische Störung der Leber analog zu einer dekompensierten Leberzirrhose bewertet werden, woraus sich ein Bewertungsrahmen von 60 bis 100 ergebe. Das Sozialgericht hat Befundberichte der die Klägerin behandelnden Ärzte eingeholt und weiter Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Facharztes für Allgemeinmedizin und Dipl.-Psychologen B, der die Klägerin am 8. Februar 2020 untersucht hat und in seinem Gutachten vom 8. April 2020 zu der Einschätzung gelangt ist, der Beklagte habe das Wirbelsäulenleiden der Klägerin und die Funktionseinschränkung der Schultergelenke zu hoch bewertet. Führendes Leiden der Klägerin sei eine seelische Störung mit Migräne, die jedoch nicht spezifisch behandelt werde. Insoweit setze er einen Einzel-GdB von 20 an. Weiter bestehende Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule und beider Kniegelenke, ein Asthma Bronchiale sowie eine Funktionseinschränkung der Schultergelenke seien jeweils mit einem GdB von 10 zu bewerten. Insgesamt halte er den GdB mit 20 für zutreffend bewertet. Die Klägerin ist dem Ergebnis der Begutachtung nicht entgegen getreten. Mit Gerichtsbescheid vom 30. September 2020 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und sich zur Begründung im Wesentlichen die Feststellungen und Einschätzungen des von ihm bestellten Sachverständigen zu eigen gemacht. Wegen der Einzelheiten wird auf den Gerichtsbescheid Bezug genommen.
Mit der am 21. Oktober 2020 eingelegten Berufung hat die Klägerin ihr Begehren weiter verfolgt und zur Begründung ausgeführt, der in erster Instanz beauftragte Sachverständige habe den Umfang der bei ihr vorhandenen Funktionsbeeinträchtigungen nicht vollständig erfasst, weshalb die Entscheidung des Sozialgerichts unzutreffend sei. Aufgrund der Funktionsbeeinträchtigungen im Bereich der Wirbelsäule leide sie unter erheblichen Schmerzen eihergehend mit nervlichen Problemen. Auf die Pfortaderthrombose sei der Sachverständige überhaupt nicht eingegangen.
Auf Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz hat der Senat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Facharztes für Orthopädie Dr. W, der die Klägerin am 11. Juli 2022 untersucht hat und in seinem Gutachten vom 26. Juli 2022 zu der Einschätzung gelangt ist, die Klägerin leide im Bereich der Halswirbelsäule an Verspannungen. Die Rotation sei endgradig schmerzhaft. Im Bereich der Lendenwirbelsäule seien Seitneigung und Rotation schmerzhaft. Der Fingerspitzen-Boden-Abstand sei leicht erhöht. Auch die Entfaltbarkeit der Lendenwirbelsäule sei leicht erhöht. Im Bereich der unteren Extremitäten seien die Hüftgelenke normal beweglich. Auch die Beweglichkeit der Kniegelenke sei seitengleich uneingeschränkt. Eine Ergussbildung sei nicht festzustellen. Die Sprunggelenke seien beidseits regelrecht. Die Beweglichkeit sei seitengleich auch gegen Widerstand kraftvoll. Im Bereich der oberen Extremitäten bestehe am rechten Schultergelenk eine mittelgradige Funktionseinschränkung, insbesondere bei der seitwärts- und Vorhebung. Die Rotation sei im Seitenvergleich leicht eingeschränkt. Es bestehe ein Bewegungsreiben mit Schmerzen. Im Bereich der Ellenbogen sei eine Funktionsbeeinträchtigung nicht festzustellen. Zusammenfassend seien im orthopädischen Bereich eine mittelgradige Funktionseinschränkung der rechten Schulter, eine Einschränkung der Belastbarkeit und Beweglichkeit des rechten und linken Kniegelenkes sowie eine Schmerzhaftigkeit an der Hals- und Lendenwirbelsäule festzustellen. Für die Funktionsbeeinträchtigung der Schulter halte er einen GdB von 20 für angemessen. Im Bereich der Wirbelsäule halte er eine mittelgradige Funktionsstörung mit Nervenwurzelkompression für gegeben, weshalb er einen GdB von 30 vorschlage. An beiden Kniegelenken habe er degenerative Veränderungen festgestellt, die sowohl beim Gehen als auch beim Stehen aber auch unter Belastung zu einer Schwellneigung und Schmerzen führten. Dies rechtfertige die Bewertung mit einem GdB von 20. Die Funktionsbeeinträchtigungen auf orthopädischem Gebiet halte er mit einem GdB von 30 für zusammenfassend zutreffend bewertet. Hinzu kämen Funktionsbeeinträchtigungen auf internistischem Gebiet, die er mit einem Einzel-GdB von 20 bewerte, weshalb er einen Gesamt–GdB von 40 für angemessen halte. Hinsichtlich des Wirbelsäulenleidens folge er im Wesentlichen der versorgungsärztlichen Einschätzung, gehe aber wegen der zusätzlichen Feststellung eines Nervenwurzelreizsyndroms davon aus, dass die Funktionsbeeinträchtigung nicht lediglich mit einem GdB von 20, sondern mit einem GdB von 30 zu bewerten sei. Auch in Bezug auf die Kniegelenke gelange er zu einer höheren Bewertung, weil die Klägerin insoweit über starke Schmerzen klage und eine Funktionseinschränkung festzustellen sei. Wegen der Einzelheiten wird auf das Gutachten Bezug genommen. Mit Schriftsatz vom 11. Januar 2023 hat der Beklagte in Reaktion auf das eingeholte Gutachten bei der Klägerin mit Wirkung ab Juli 2022 einen GdB von 40 anerkannt.
Die Klägerin hat sich zu dem Gutachten nicht geäußert und auch auf das Teilanerkenntnis des Beklagten nicht reagiert. Die in der mündlichen Verhandlung nicht anwesende Klägerin beantragt sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 30. September 2020 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 3. Juli 2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Oktober 2018 in der Fassung des Teilanerkenntnisses vom 11. Januar 2023 zu verpflichten, bei ihr mit Wirkung ab dem 2. Mai 2018 einen Grad der Behinderung von mindestens 60 festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den gesamten Inhalt der Streitakte und des beigezogenen Verwaltungsvorganges des Beklagten Bezug genommen. Er hat vorgelegen und ist Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte über die Berufung trotz Ausbleibens der Klägerin und ihrer Prozessbevollmächtigten im Termin zur mündlichen Verhandlung nach Lage der Akten entscheiden, weil die Beteiligten mit der Terminsmitteilung über die in §§ 153 Abs. 1, 126 Sozialgerichtsgesetz (SGG) vorgesehene Möglichkeit informiert worden sind. Auch hatte der Senat keinen Anlass, den Termin der mündlichen Verhandlung am 31. März 2023 auf Antrag der Prozessbevollmächtigten der Klägerin zu verlegen, denn die zur Begründung des Antrags angeführte Erkrankung war weder durch ärztliches Attest glaubhaft gemacht noch anwaltlich versichert. Darüber hinaus datierte der am Tag der mündlichen Verhandlung eingegangene Schriftsatz bereits vom 27. Februar 2023. Es bedurfte daher keiner Entscheidung darüber, ob der nicht über das besondere elektronische Anwaltspostfach, sondern per Fax eingereichte Antrag im Lichte von § 65d SGG überhaupt beachtlich ist.
Die zulässige Berufung konnte nur zur Verurteilung des Beklagten entsprechend dem von ihm abgegebenen, von der Klägerin nicht angenommenen und – soweit ersichtlich – bis lang auch nicht ausgeführten Teilanerkenntnis führen. Die weitergehende Berufung ist nicht begründet.
Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung (SGB IX a.F.) bzw. nach § 152 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch in der am 1. Januar 2018 in Kraft getretenen Fassung (SGB IX n.F.) sind die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft zu bewerten. Hierbei sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 festgelegten „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ (VMG) heranzuziehen.
Im Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahmen in beiden Instanzen steht zur Überzeugung des Senates fest, dass bei der Klägerin als führendes Leiden eine Funktionsbeeinträchtigung der Wirbelsäule im Bereich der LWS mit Nervenwurzelreizerscheinungen besteht, die nach Teil B 18.9 VMG mit einem GdB von 30 zu bewerten ist, wobei die eine Anhebung von 20 auf 30 begründenden Nervenwurzelreizerscheinungen erst bei der Untersuchung durch den Sachverständigen Dr. W im Juli 2022 festgestellt worden sind. Daneben bestehen bei der Klägerin nach den Feststellungen des Sachverständigen Dr. W zwar eine mittelgradige Funktionseinschränkung beider Schultergelenke und Knorpelschäden an beiden Kniegelenken mit Schwellneigung und Schmerzen, die er jeweils mit GdB von 20 bewerten will. Dem vermag der Senat indes nicht zu folgen, denn bei den Untersuchungsergebnissen zu den Schultergelenken benennt der Sachverständige für das linke Schultergelenk keine relevante Bewegungseinschränkung. Die durch den Sachverständigen B in erster Instanz festgestellte praktisch freie Beweglichkeit des linken Schultergelenkes besteht also auch weiterhin. Lediglich für das rechte Schultergelenk benennt Dr. W eine Einschränkung der Armseitwärtshebung und der Nachvornehebung, wobei er nicht darlegt, dass insoweit nur ein maximaler Wert von 90 Grad erreicht würde. Damit ist das Schulterleiden wegen einer Verschlechterung gegenüber der Untersuchung durch den Sachverständigen in erster Instanz nunmehr ab Juli 2022 auf der Grundlage von Teil B 18.13 VMG mit einem GdB von 10 zu bewerten. Auch in Bezug auf das Knieleiden haben weder der in erster Instanz bestellte Sachverständige noch der von der Klägerin in zweiter Instanz nach § 109 SGG benannte Sachverständige eine eingeschränkte Beweglichkeit feststellen können. Die bildgebend nachgewiesenen Knorpelschäden können damit auf der Grundlage von Teil B 18.14 VMG nur dann zur Feststellung eines GdB führen, wenn sie mit anhaltenden Reizerscheinungen einhergehen. Reizerscheinungen hat jedoch keiner der Sachverständigen bei den jeweiligen Untersuchungen feststellen können. Vielmehr hat Dr. W ausdrücklich festgehalten, es seien keine Meniskuszeichen und keine Kniegelenkergussbildung vorhanden. Dies belegt, dass es sich bei den bildgebend am 22. Januar 2018 und 31. Januar 2019 festgestellten geringen bzw. mäßigen Gelenkergüssen im rechten Kniegelenk nicht um anhaltende, sondern um temporäre Reizerscheinungen gehandelt hat. Dies rechtfertigt keinen GdB von mehr als 10. Damit ist der orthopädisch bedingte GdB ab Juli 2022 mit 30 anzusetzen. Hinzu treten die Funktionsbeeinträchtigungen auf internistischem und neurologisch/psychiatrischem Fachgebiet.
Ohne Erfolg beruft sich die Klägerin auf eine ihres Erachtens gebotene Analogbewertung der Pfortaderthrombose zu einer dekompensierten Leberzirrhose. Zwar ist eine solche analoge Bewertung in Teil B 10.3.3 VMG vorgesehen, doch kann dies nur unter Beachtung der Maßgabe aus Teil B 10.3 VMG geschehen. Danach wird der GdB für Krankheiten der Leber bestimmt durch die Art und Schwere der Organveränderungen sowie der Funktionseinbußen, durch das Ausmaß der Beschwerden, die Beeinträchtigung des Allgemeinzustandes und die Notwendigkeit einer besonderen Kostform. Vor dem Hintergrund des hausärztlichen Befundberichtes vom 20. Mai 2019, wonach wesentliche anhaltende Funktionsbeeinträchtigungen aus den bei der Klägerin festgestellten Erkrankungen nicht resultierten, kommt die Bewertung mit einem GdB von mehr als 10 nicht in Betracht. Hinsichtlich des neurologisch/psychiatrischen Fachgebietes folgt der Senat dem Gutachten des in erster Instanz bestellten Sachverständigen, der bei der Klägerin eine geringgradige psychische Funktionsbeeinträchtigung durch psychovegetative Beschwerden festgestellt und ihr die geltend gemachten Migränesymptome und das Restless-Legs-Syndrom zugeordnet hat. Überzeugend hat der erfahrene Sachverständige insoweit dargelegt, dass eine migränespezifische Behandlung bei der Klägerin nicht stattfinde. Zudem hat die Neurologin der Klägerin in ihrem Befundbericht angegeben, das Symptom der unruhigen Beine habe sich gebessert. Bei dieser Erkenntnislage kommt für die Bewertung der Funktionsbeeinträchtigung auf der Grundlage von Teil B 3.7 VMG einzig der Bewertungsrahmen mit einem GdB von 0 bis 20 in Betracht. Selbst unter Ansatz des Oberwertes der Spanne kann damit bei Beachtung der Vorgaben aus Teil A 3. VMG ein Gesamt-GdB von mehr als 40 nicht gebildet werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Die Auferlegung von Kosten auf den Beklagten kam hier auch in Ansehung des Teilanerkenntnisses nicht in Betracht, weil der Beklagte insoweit unverzüglich auf die sich aus dem neuen Gutachten des Sachverständigen Dr. W ergebenden Erkenntnisse reagiert hat.
Gründe für eine Zulassung der Revision gem. § 160 Abs. 2 SGG sind nicht ersichtlich.