L 13 VU 53/19

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 48 VU 40/17
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 13 VU 53/19
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 19. Dezember 2019 wird zurückgewiesen.

 

Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

 

Tatbestand

 

Der Kläger begehrt eine höhere Beschädigtenrente nach einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS – der bis 2007 als Minderung der Erwerbsfähigkeit [MdE] bezeichnet wurde) von 100 auf der Grundlage des Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes (StrRehaG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

 

Der 1964 geborene Kläger war in der DDR vom 11. Juni 1985 bis zum 20. März 1986 inhaftiert. Mit Beschluss vom 24. Januar 1994 stellte das Kammergericht fest, dass der Kläger diese Haft zu Unrecht erlitten hat, und rehabilitierte ihn.

 

Auf den Antrag des Klägers gewährte ihm das Versorgungsamt Berlin mit Teilbescheid vom 27. September 2000 eine Beschädigtenrente nach einem GdS von 60. Als Schädigungsfolge erkannte es anhaltende Persönlichkeitsänderung mit Angst, Depressivität und psychosomatischen Beschwerden nach posttraumatischer Belastungsstörung an. Die Anerkennung der daneben geltend gemachten Erkrankungen Bluthochdruck und Fettleber als Schädigungsfolgen lehnte das Versorgungsamt, gestützt auf das versorgungsärztliche Gutachten des Arztes für Innere Medizin Dr. D vom 20. März 2000, ab. Mit Bescheid vom 13. März 2003 gewährte es dem Kläger einen Berufsschadensausgleich sowie eine Ausgleichsrente und erhöhte dem GdS unter Berücksichtigung einer besonderen beruflichen Betroffenheit um einen Zehnergrad auf 70. Den Verschlimmerungsantrag des Klägers vom 4. Dezember 2006 lehnte das Versorgungsamt mit Bescheid vom 14. Dezember 2006 ab.

 

Am 27. Mai 2013 stellte der Kläger einen weiteren Verschlimmerungsantrag. Er brachte vor, ihm seien während der Haft Medikamente verabreicht worden, wodurch sich sein Gesundheitszustand verschlechtert habe. Das Versorgungsamt Berlin holte eine versorgungsärztliche Stellungnahme der Fachärztin für Innere Medizin D vom 8. September 2016 ein, die ausführte, die Auswirkung der Medikamentengabe auf den Gesundheitszustand des Klägers könne nicht beurteilt werden, da unklar sei, um welche Medikamente es sich gehandelt habe. Mit Bescheid vom 11. November 2016 lehnte das Versorgungsamt den Verschlimmerungsantrag ab. Hiergegen erhob der Kläger Widerspruch. In der weiteren versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 16. Dezember 2016 führte die Fachärztin für Innere Medizin D aus, die Erkrankungen des Klägers auf internistischem Fachgebiet (metabolisches Syndrom mit Bluthochdruck, Übergewicht, Diabetes mellitus und Fettleber) könnten nicht ursächlich auf die Haft zurückgeführt werden. Das Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 14. März 2017 zurück.

 

Daraufhin hat der Kläger gegen das Land Berlin bei dem Sozialgericht Berlin Klage erhoben, mit der er die Feststellung weiterer Schädigungsfolgen und Versorgungsleistungen nach einem GdS von mehr als 70 begehrt hat. Das Sozialgericht hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 19. Dezember 2019 abgewiesen: Zur Begründung hat es insbesondere ausgeführt: Soweit der Kläger die Feststellung von orthopädischen Leiden als Schädigungsfolge begehre, liege weder ein Antrag noch eine behördliche Entscheidung vor, so dass die Klage insoweit unzulässig sei. Im übrigen sei die Klage unbegründet. Denn zur Überzeugung der Kammer seien die vom Kläger geltend gemachten Erkrankungen auf internistischem Fachgebiet Diabetes, Fettleber, Leberzirrhose, Wassereinlagerungen in den Beinen, Schilddrüsenerkrankung, Bluthochdruck, Magen- und Gallensteine und Herzrhythmusstörungen nicht mit Wahrscheinlichkeit auf die erlittene Haft zurückzuführen.

 

Gegen diese Entscheidung hat der Kläger Berufung eingelegt, mit der er die Gewährung höherer Versorgungsleistungen nach einem GdS von 100 verfolgt. Unter Bezugnahme auf die Ausführungen im Expertengutachten der Konferenz der Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Gesundheitliche Folgen politischer Haft in der DDR, Dresden 2003, verweist er darauf, dass die Traumatisierung einen wesentlichen Risikofaktor für andere psychische und einige somatische Störungen wie etwa bestimmte Störungen des Herz-Kreislauf-Systems darstelle. Das Sozialgericht habe die von ihm geltend gemachten Verschlimmerungen zu Unrecht nicht als Schädigungsfolge festgestellt. Dies gelte insbesondere für die Leberschädigung: Infolge der gewaltsamen Einflößung von Medikamenten sei seine Leber geschädigt worden mit der Folge, dass er an einer Fettleber leide. Weiter hat er u.a. einen Arztbrief, ein Attest und einen Medikationsplan der Fachärztin für Innere Medizin, Diabetologie Dr. R vom 19. Dezember 2019, einen Arztbrief derselben Ärztin vom 13. Februar 2020, die zentrale Gefangenenkarte des MdI, den Gesundheitsbericht der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Berlin vom 25. September 1985, die den Zeitraum der Inhaftierung betreffende Behandlungskarte und den Transportbegleitschein vom 16. Oktober 1985, eine die eidesstattliche Erklärung vom 4. Juli 2016 ergänzende Stellungnahme des Mithäftlings T Ru vom 24. November 2020, eine eidesstattliche Versicherung seiner Kusine A H vom 28. November 2020, die Rechnung einer schwedischen Apotheke über die Lieferungen von Medikamenten am 7. Februar 2022 und am 8. April 2022 sowie diverse Fotografien seiner unteren Extremitäten eingereicht.

 

Durch den Wohnsitzwechsel des Klägers von Berlin nach Schweden ist das Land Schleswig-Holstein im Wege des gesetzlichen Beteiligtenwechsels anstelle des Landes Berlin als Beklagter in das Verfahren eingetreten.

 

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des Befundberichts der den Kläger behandelnden Internistin Dr. R vom 16. Oktober 2020 und des Gutachtens des Arztes für Psychiatrie, Psychotherapie und Pschoanalyse Prof. Dr. U vom 6. Juli 2022, das – auf die Anregung des Klägers hin – nach Aktenlage erstellt worden ist. Der Sachverständige ist zu der Einschätzung gelangt, dass sich aus den Gesundheitsstörungen Diabetes mellitus, Fettleber, Leberzirrhose, Wasser bzw. Ödeme in den Beinen, Schilddrüsenerkrankung, Bluthochdruck, Magenbeschwerden, Gallensteine und Herzrhythmusstörungen aus psychiatrisch-psychosomatischer Sicht kein eigenständiger GdS ergebe, der über den bisher anerkannten Wert von 60 hinausginge.

 

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 19. Dezember 2019 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung des Bescheides des Versorgungsamtes Berlin vom 11. November 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Landesamtes für Gesundheit und Soziales Berlin vom 14. März 2017 zu verpflichten, bei ihm als weitere Schädigungsfolgen nach dem Strafrechtlichen Rehabilitierungsgesetz wegen der zu Unrecht erlittenen Haft in der Zeit vom 11. Juni 1985 bis zum 20. März 1986 Diabetes mellitus, Fettleber, Leberzirrhose, Wasser bzw. Ödeme in den Beinen, Schilddrüsenerkrankung, Bluthochdruck, Magenbeschwerden, Gallensteine und Herzrhythmusstörungen festzustellen und ihm eine Beschädigtenrente nach einem GdS von 100 ab dem 27. Mai 2013 zu gewähren.

 

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

 

Er hält die Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend.

 

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs des Versorgungsamtes Berlin verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

 

 

 

Entscheidungsgründe

 

 

Die zulässige Berufung des Klägers ist unbegründet.

 

Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Kläger hat gegen den Beklagten keinen Anspruch darauf, dass dieser bei ihm weitere Schädigungsfolgen feststellt und ihm eine Versorgungsrente nach dem StrRehaG in Verbindung mit dem BVG nach einem GdS von 100 gewährt.

 

Nach § 21 Abs. 1 Satz 1 StrRehaG erhält ein Betroffener, d.h. der durch Beschluss nach § 12 StrRehaG Rehabilitierte, der infolge der Freiheitsentziehung eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen Folgen dieser Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung des BVG. Beschädigte erhalten nach § 31 Abs. 1 Satz 1 BVG eine monatliche Grundrente, deren Höhe nach dem GdS gestaffelt ist. Dieser GdS ist nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, die durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen (§ 30 Abs. 1 Satz 1 BVG). Hierbei sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ heranzuziehen.

 

§ 21 Abs. 1 Satz 1 StrRehaG verlangt für die Entstehung eines Anspruchs auf Versorgungsleistungen die Erfüllung mehrerer Voraussetzungen. Es müssen eine für rechtsstaatswidrig erklärte Freiheitsentziehung, der Eintritt einer gesundheitlichen Schädigung sowie – dauerhafte – Folgen dieser Schädigung vorliegen.

 

Zwischen den jeweiligen Anspruchsmerkmalen muss ein Ursachenzusammenhang bestehen. Maßstab dafür ist die im sozialen Entschädigungsrecht allgemein geltende Kausalitätstheorie von der wesentlichen Bedingung. Danach ist aus der Fülle aller Ursachen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne diejenige Ursache rechtlich erheblich, die bei wertender Betrachtung wegen ihrer besonderen Beziehung zu dem Erfolg bei dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt hat. Als wesentlich sind diejenigen Ursachen anzusehen, die unter Abwägen ihres verschiedenen Wertes zu dem Erfolg in besonders enger Beziehung stehen, wobei Alleinursächlichkeit nicht erforderlich ist.

 

Die Freiheitsentziehung, die gesundheitliche Schädigung und die Folgen der Schädigung müssen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit – im sogenannten Vollbeweis – feststehen. Allein für die zwischen diesen Merkmalen erforderlichen Ursachenzusammenhänge reicht der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit aus (siehe § 21 Abs. 5 Satz 1 StrRehaG). Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, wenn mehr Umstände für als gegen die Kausalität sprechen. Die bloße Möglichkeit genügt nicht (siehe zum Impfschadensrecht BSG, Urteil vom 19. März 1986 – 9a RVi 2/84 –, BSGE 60, 58, 59).

 

Der Senat ist davon überzeugt, dass der zu Unrecht inhaftierte Kläger eine schwere Traumatisierung erlitten hat. Diese gesundheitliche Schädigung ist mit hinreichender Wahrscheinlichkeit kausal auf die besonderen Bedingungen der Haft im Sinne der wesentlichen Ursache zurückzuführen.

 

Die Magenbeschwerden, die der Kläger in der Haft beklagt hat, sind Folgen der Freiheitsentziehung. Denn es besteht eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Traumatisierung des Klägers die Ursache für die Magenbeschwerden bildete, da diese Erkrankung nach den überzeugenden Darlegungen des Sachverständigen Prof. Dr. U häufig eine psychosomatische Genese hat. Eine Erhöhung des Gesamt-GdS, der unter Berücksichtigung der besonderen beruflichen Betroffenheit bei dem Kläger mit 70 festgestellt wurde, ist jedoch nicht möglich. Denn die Magenbeschwerden wurden bei der Bewertung der Schädigungsfolgen unter „psychosomatische Beschwerden“ im Zusammenhang mit der Traumafolgestörung erfasst und bei der Festlegung des GdS berücksichtigt. Die folgende Verschlechterung der Magenbeschwerden des Klägers stellt sich hingegen nicht als kausale Folge der durch die Haft erlittenen Traumatisierung dar, da sie infektiöse Ursachen hatte. Denn bei dem Kläger wurde 1995 eine bakterielle Infektion des Magens mit Helicobacter pylori festgestellt.

 

Der Senat hat nicht die Überzeugung gewinnen können, dass der Kläger an einer Leberzirrhose leidet. In dem von Amts wegen eingeholten Befundbericht der behandelnden Internistin Dr. R vom 16. Oktober 2020 findet eine Erkrankung dieser Art keine Erwähnung. Dem entsprechend hat der Sachverständige Prof. Dr. U darauf hingewiesen, dass ein zirrhotischer Umbau der Leber nicht dokumentiert ist. Der letzte bildgebende Befund zeigte eine leichte Verfettung, aber keine Zirrhose. Auch die Leberwerte zeigten, so der Gutachter, keine dramatischen Veränderungen.

 

Ein Ursachenzusammenhang zwischen der Traumatisierung und den weiteren von dem Kläger angeführten Gesundheitsstörungen ist nach dem Ergebnis der Sachverhaltsaufklärung nicht hinreichend wahrscheinlich. Der Diabetes mellitus und die Fettleber sind nach den Darlegungen des Sachverständigen keine psychosomatisch auslösbaren Erkrankungen, sondern die Folge von genetische Belastungen und Stoffwechselerkrankungen. Weder Ödeme in den Beinen noch Gallensteine bilden Erkrankungen, die psychosomatisch zu erklären wären. Eine Schilddrüsenerkrankung ist Folge hormoneller Störungen, eine psychosomatische Genese ist nicht nachzuweisen. Die Herzrhythmusstörungen sind nicht mit der erforderlichen hinreichenden Wahrscheinlichkeit kausal auf die Traumatisierung des Klägers zurückzuführen. Aus dem Gutachten ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass vorliegend mehr Umstände für als gegen die Kausalität sprechen. Der Sachverständige Prof. Dr. U hat lediglich darauf verwiesen, dass Herzrhythmusstörungen psychosomatisch bedingt sein können. Die bloße Möglichkeit der Kausalität genügt jedoch nicht. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Traumatisierung des Klägers während der Haft und dem Bluthochdruck im Sinne einer wesentlichen Bedingung ist nicht hinreichend wahrscheinlich. Denn der Bluthochdruck wurde bei dem Kläger bereits vor dem Beginn der Haft diagnostiziert und behandelt und während der Haft weiterhin medikamentös therapiert. Der Senat folgt der überzeugenden Beurteilung des Sachverständigen, dass es sich bei dem Bluthochdruck um einen Vorschaden handelte.

 

Eine weitere Schädigung des Klägers in Form einer Vergiftung, die er seinem Vorbringen zufolge dadurch erlitten hat, dass ihm während der Haft zwangsweise eine Flüssigkeit verabreicht worden sei, ist nicht zur Überzeugung des Senats im Wege des Vollbeweises nachgewiesen. Selbst wenn als hypothetisch wahr unterstellt würde, dass dem Kläger – wie er vorträgt – „etwas bislang Unbestimmtes eingeflößt“ worden sei, könnte ein toxikologischer Zusammenhang nicht beurteilt werden, da nicht bekannt ist, um welche Substanzen es sich hierbei handelte.

 

Die nach § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG zu treffende Kostenentscheidung berücksichtigt den Ausgang des Verfahrens.

 

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.

 

 

Rechtskraft
Aus
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