L 14 KR 273/22

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
14
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 210 KR 1657/21
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 14 KR 273/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Zum 1. Januar 2021 wurde die Obliegenheit zur Meldung der Arbeitsunfähigkeit auf die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte und Einrichtungen übertragen, eine Meldeobliegenheit der Versicherten besteht unabhängig von den technischen Meldemöglichkeiten des Vertragsarztes nicht mehr

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 22. Juni 2022 wird zurückgewiesen.

 

Die Beklagte hat der Klägerin auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.

 

Die Revision wird zugelassen.

 

 

Tatbestand

 

Die Beteiligten streiten um das Ruhen eines Krankengeldanspruchs im Zeitraum vom 31. Januar 2021 bis 9. Februar 2021.

 

Die als angestellte Augenoptikerin beschäftigte Klägerin ist bei der beklagten Krankenkasse versichert. Am 8. Dezember 2020 stellte der behandelnde Vertragsarzt die Arbeitsunfähigkeit (AU) der Klägerin unter anderem wegen eines Impingement-Syndroms der rechten Schulter ab 9. Dezember 2020 fest. Nach Folgebescheinigungen der Arbeitsunfähigkeit bis einschließlich 30. Januar 2021 stellte der behandelnde Arzt am 27. Januar 2021 die weitere Arbeitsunfähigkeit der Klägerin bis zum 13. Februar 2021 fest und händigte ihr den amtlichen Vordruck der AU-Bescheinigung aus. Dieser enthielt den Aufdruck „Ausfertigung zur Vorlage bei der Krankenkasse“. Dem behandelnden Arzt stand zu diesem Zeitpunkt noch keine technische Möglichkeit zur Verfügung, die Arbeitsunfähigkeit seiner Patienten elektronisch an die Krankenkasse zu melden. Der behandelnde Arzt und die Klägerin sprachen bei Aushändigung der Folgebescheinigung nicht darüber, wer der Beklagten die Arbeitsunfähigkeit zu melden hat. Die Klägerin ging davon aus, selbst zur Meldung der Arbeitsunfähigkeit gegenüber der Beklagten verpflichtet zu sein. Sie übersandte der Beklagten die Bescheinigung per Post, diese ging am 10. Februar 2021 bei der Beklagten ein.

 

Mit Bescheid vom 24. März 2021 stellte die Beklagte fest, dass der Klägerin nach Ablauf der Entgeltfortzahlung ab dem 20. Januar 2021 kalendertäglich Krankengeld in Höhe von 44,89 EUR netto zustehe. Mit weiterem Bescheid vom selben Tag stellte die Beklagte das Ruhen des Krankengeldanspruchs vom 31. Januar 2021 bis 9. Februar 2021 mit der Begründung fest, die Meldung der weiteren Arbeitsunfähigkeit habe sie erst am 10. Februar 2021 erreicht. Den hiergegen erhobenen Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 8. September 2021 zurück.

 

Am 8. Oktober 2021 hat die Klägerin vor dem Sozialgericht Klage erhoben und geltend gemacht, die AU-Bescheinigung rechtzeitig abgesandt zu haben. Sie bezweifelt eine ordnungsgemäße Erfassung der Posteingänge bei der Beklagten. Mit Urteil vom 22. Juni 2022 hat das Sozialgericht den Ruhensbescheid vom 24. März 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. September 2021 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin Krankengeld in gesetzlicher Höhe für den Zeitraum vom 31. Januar 2021 bis 9. Februar 2021 zu gewähren. Der Krankengeldanspruch der Klägerin ruhe nicht, da nach § 49 Abs. 1 Nr. 5 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) in der ab 1. Januar 2021 geltenden Fassung die Obliegenheit zur Meldung der Arbeitsunfähigkeit gemäß § 295 Abs. 1 Satz 10 SGB V auf die Vertragsärzte übertragen worden sei. Die unterlassene Meldung durch den Vertragsarzt könne der Klägerin nicht angelastet werden, unabhängig davon, ob der Vertragsarzt technisch zur Meldung in der Lage war. Die gesetzlichen Regelungen seien zwingend und hätten nicht wirksam durch Vereinbarung auf Verbandsebene abbedungen werden können. Das Sozialgericht hat die Berufung zugelassen.

 

Die Beklagte hat gegen die ihr am 13. Juli 2022 zugestellte Entscheidung am 28. Juli 2022 Berufung eingelegt. Sie vertritt die Ansicht, dass die elektronische Übermittlung der AU-Bescheinigung durch den behandelnden Arzt noch nicht obligatorisch gewesen und die Klägerin weiter verpflichtet gewesen sei, die Arbeitsunfähigkeit fristgerecht zu melden. § 295 Abs. 3 SGB V gestatte den Vertragspartnern des Bundesmantelvertrages, das Nähere über die Erfüllung der Pflichten der Vertragsärzte und die Einzelheiten der Datenübermittlung zu vereinbaren. Nach dieser gesetzeskonformen Regelung habe eine Verpflichtung zur digitalen Übersendung erst ab Oktober 2021 bestanden. Aus § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V folge, dass nicht nur der Vertragsarzt zur Meldung verpflichtet sei. Weise dieser den Versicherten auf fehlende technische Meldemöglichkeiten hin, treffe den Versicherten die Meldeobliegenheit. Vorliegend sei der Klägerin vom Vertragsarzt ein diesbezüglicher Hinweis in Form der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gegeben worden, die einen entsprechenden Aufdruck enthalten habe. Die Versicherten der Beklagten seien zudem im Mitgliedermagazin der Beklagten „fit 02/2021“ über die Notwendigkeit einer Meldung der Arbeitsunfähigkeit aufgeklärt worden. Der vom Sozialgericht angenommene Wegfall der Meldeobliegenheit der Versicherten sei vom Gesetzgeber weder geregelt noch beabsichtigt worden.

 

 

 

Die Beklagte beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 22. Juni 2022 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

 

Die Klägerin beantragt,

 

            die Berufung zurückzuweisen.

 

Sie hält die Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend.

 

Wegen der sonstigen Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie den übersandten Verwaltungsvorgang der Beklagten.

 

 

Entscheidungsgründe

 

 

Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Beklagten ist nicht begründet.

 

Zu Recht hat das Sozialgericht den Bescheid der Beklagten vom 24. März 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. September 2021 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin Krankengeld in gesetzlicher Höhe für den Zeitraum vom 31. Januar 2021 bis 9. Februar 2021 zu gewähren.

 

Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 1, Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig und begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Zahlung von Krankengeld im genannten Zeitraum. Der Anspruch ruhte nicht. Die Ruhensentscheidung der Beklagten ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.

 

1. Die Klägerin ist als Angestellte nach § 44 Abs. 1 SGB V mit einem Anspruch auf Krankengeld bei der Beklagten versichert. Der Anspruch entstand nach § 46 Satz 1 SGB V mit der ärztlichen Feststellung der weiteren Arbeitsunfähigkeit durch den behandelnden Arzt am 27. Januar 2021. Er ruhte nicht (mehr) wegen des Bezuges einer Entgeltfortzahlung des Arbeitgebers, § 49 Abs. 1 Nr. 1 SGB V. Das ist zwischen den Beteiligten jeweils unstreitig.

 

2. Der Anspruch auf Zahlung von Krankengeld für den streitigen Zeitraum ruhte auch nicht gemäß § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V in der vom 1. Januar 2021 bis 8. Juni 2021 geltenden, hier maßgeblichen Fassung:

 

Der Anspruch auf Krankengeld ruht, solange die Arbeitsunfähigkeit der Krankenkasse nicht gemeldet wird; dies gilt nicht, wenn die Meldung innerhalb einer Woche nach Beginn der Arbeitsunfähigkeit oder die Übermittlung der Arbeitsunfähigkeitsdaten im elektronischen Verfahren nach § 295 Absatz 1 Satz 7 SGB V erfolgt.

 

Mit dem Digitale-Versorgung-und-Pflege-Modernisierungs-Gesetz vom 3. Juni 2021 wurde in § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V mit Wirkung zum 9. Juni 2021 ein Zitierfehler der Verweisnorm auf „§ 295 Absatz 1 Satz 10“ korrigiert („redaktionelles Versehen“, vgl. BT-Drs. 19/29384, 176 zu Nr. 4a).

 

a) Der Ruhenswirkung stand für den streitigen Zeitraum die Meldung durch die Klägerin nicht entgegen. Denn die Meldung erfolgte nicht innerhalb der Wochenfrist.

 

Die Klägerin hat der Beklagten die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit durch postalische Übersendung der AU-Bescheinigung gemeldet, die am 10. Februar 2021 bei der Beklagten einging.

 

Der Senat hat keine Zweifel an der Richtigkeit des elektronisch auf dem Bild der AU-Bescheinigung aufgedruckten Zugangsdatums („eingegangen am 10.02.2021“). Das Bestreiten des Zugangszeitpunktes durch die Klägerin ist nicht substantiiert, Zweifel an der ordnungsgemäßen Aktenführung und der Sicherstellung einer zutreffenden Dokumentation der Eingangsdaten bestehen nicht. Die Klägerin ist für den Zeitpunkt des Zugangs der von ihr übermittelten AU-Bescheinigung darlegungs- und beweispflichtig. Sie trägt für die von ihr veranlasste Meldung das Übermittlungs- und Verlustrisiko sowie die Beweislast (Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 25. Oktober 2018 – B 3 KR 23/17 R – juris Rn. 19 m.w.N.). Der Beweis eines früheren Zugangs der Bescheinigung bei der Beklagten konnte nicht geführt werden. Der erkennende Senat sieht keinen Anlass für Ermittlungen zur rechtzeitigen Absendung der Bescheinigung durch die Klägerin per Post, denn auf die Absendung kommt es nicht an.

 

Die Wochenfrist für eine Meldung begann trotz der ärztlichen Feststellung am 27. Januar 2021 erst am 31. Januar 2021. Denn bei fortbestehender Arbeitsunfähigkeit beginnt die Wochenfrist des § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V erst mit Ablauf der Befristung der bisher attestierten Arbeitsunfähigkeit (BSG, Beschluss vom 4. Juni 2019 – B 3 KR 48/18 B). Die Befristung der vorherigen AU-Bescheinigung endete mit Ablauf des 30. Januar 2021.

 

Die Wochenfrist begann nach § 26 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) i.V.m. § 187 Abs. 2 Satz Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) mit Beginn des ersten Tages der Folgefeststellung, so dass der Ereignistag bei der Fristberechnung mitgerechnet wird (zum Meinungsstreit – hier nicht entscheidend – BeckOGK/Schifferdecker, Stand 01.08.2022, SGB V § 49 Rn. 63 ff. m.w.N.). Der Beginn der Meldefrist verlängerte sich auch nicht in analoger Anwendung des § 46 Satz 2 SGB V (vgl. a.A. Landessozialgericht [LSG] Schleswig-Holstein, Urteil vom 29.11.2022 – L 10 KR 18/19) auf Montag, den 1. Februar 2021, da § 46 Satz 2 SGB V mit Blick auf § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V das Bestehenbleiben des Anspruchs regelt, jedoch keine Meldefrist, und hier auch keine nachträgliche AU-Feststellung erfolgte. 

 

Die am Sonntag, den 31. Januar 2021 begonnene Meldefrist endete nach § 26 Abs. 1 SGB X i.V.m. § 188 Abs. 2 Satz BGB eine Woche nach dem Ereignistag mit Ablauf von Samstag, dem 6. Februar 2021, und verlängerte sich nach § 193 BGB auf Montag, den 8. Februar 2021. Die Meldung ist in entsprechender Anwendung von § 130 Abs. 1 und 3 BGB erst erfolgt, wenn sie der Krankenkasse zugegangen ist (vgl. BSG, Urteil vom 28. Oktober 1981 – 3 RK 59/80, juris Rn. 23). Die AU-Bescheinigung der Klägerin ging bei der Beklagten nach Ablauf der genannten Wochenfrist am Mittwoch, den 10. Februar 2021 ein.

 

Ein besonderer Ausnahmefall, in welchem die verspätete Meldung unbeachtlich ist, da die Mitwirkungsobliegenheit des Versicherten auf das ihm Zumutbare beschränkt ist, liegt hier nicht vor (im Einzelnen BeckOGK/Schifferdecker, Stand 01.08.2022, SGB V § 49 Rn. 68 ff m.w.N.).

 

b) Ein Ruhen des Krankengeldanspruchs der Klägerin trat jedoch nach § 49 Abs. 1 Nr. 5 Halbsatz 2 SGB V nicht ein. Die Ruhensanordnung findet ab dem 1. Januar 2021 keine Anwendung („dies gilt nicht“), wenn – wie hier – die Übermittlung der Arbeitsunfähigkeitsdaten durch einen Vertragsarzt zu erfolgen hat. In diesen Fällen besteht keine Obliegenheit für die Versicherten mehr, die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit der Beklagten zu melden.

 

aa)      Dies ergibt sich aus dem Wortlaut des § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V, dem systematischen Zusammenhang mit § 295 Abs. 1 SGB V und der ausdrücklichen Gesetzesbegründung.

 

Bei isolierter Betrachtung und grammatikalischer Auslegung des § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V könnte die Norm aufgrund der Formulierung („... wenn die Übermittlung... erfolgt") dahin verstanden werden, dass es auf die tatsächlich durchgeführte Meldung im elektronischen Verfahren ankommt, an der es hier fehlt. Aus der Verweisung auf § 295 SGB V ergibt sich jedoch, dass mit der vertragsärztlichen Übermittlungspflicht der Ruhenstatbestand nicht mehr eingreifen kann.

 

§ 295 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V verpflichtet die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte, die von ihnen festgestellten Arbeitsunfähigkeitsdaten zu übermitteln. Satz 10 der Vorschrift in der hier maßgeblichen, vom 1. Januar 2021 bis 8. Juni 2021 und damit im streitigen Zeitraum geltenden Fassung vom 14. Oktober 2020 bestimmt für die vertragsärztlich festgestellten Arbeitsunfähigkeitsdaten i.S.v. § 295 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V:

 

Die Angaben nach Satz 1 Nummer 1 sind unter Angabe der Diagnosen sowie unter Nutzung der Telematikinfrastruktur nach § 291a unmittelbar elektronisch an die Krankenkasse zu übermitteln; dies gilt nicht für Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen, die nicht an die Telematikinfrastruktur angeschlossen sind.

 

Auch aus der weiteren Gesetzesbegründung ergibt sich, dass die Formulierung in § 49 Abs. 1 Nr. 5 SGB V („erfolgt“) dahin zu verstehen ist, dass die rechtliche Übermittlungsverpflichtung des Vertragsarztes im Sinne eines „zu erfolgen hat“ zu verstehen ist. Denn der Gesetzgeber führt zur Neufassung des § 49 SGB V aus (BT-Drs. 19/6337, 145):

 

„Mit der Änderung wird klargestellt, dass eine etwaige Verspätung bei der ab dem 1. Januar 2021 von den an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzten und Einrichtungen an die Krankenkassen zu übermittelnden Arbeitsunfähigkeitsdaten nach § 295 Absatz 1 Satz 1 nicht zu Rechtsfolgen zu Lasten der Versicherten führt.

 

Mit der Einführung eines einheitlichen und verbindlichen elektronischen Verfahrens zur Übermittlung der bisher mittels Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen in Papierform an die Krankenkassen gemeldeten Arbeitsunfähigkeitsdaten wird die Obliegenheit zur Meldung der (fortbestehenden) Arbeitsunfähigkeit auf die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzten und Einrichtungen übertragen. Soweit sich bei der elektronischen Übermittlung der Arbeitsunfähigkeitsdaten Verzögerungen ergeben, liegen sie insoweit nicht mehr im Einflussbereich der Versicherten, so dass sie keine sich aus der verspäteten Übermittlung ergebenden Rechtsfolgen zu tragen haben.“

 

Zur Neuregelung des § 295 SGB V formuliert der Gesetzgeber (BT-Drs. 19/6337, 146 – zu Buchstabe b):

 

„Die Regelung stellt klar, dass ab dem 1. Januar 2021 die Pflicht zur Übermittlung der Arbeitsunfähigkeitsdaten unter Angabe der Diagnosen den an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzten und Einrichtungen obliegt.“

 

Den abweichenden Zeitpunkt des Inkrafttretens der bereits mit Terminservice- und Versorgungsgesetz vom 6. Mai 2019 (seinerzeit noch als Satz 7) eingeführten Vorschrift erst zum 1. Januar 2021 begründete der Gesetzgeber wie folgt (BT-Drs. 19/6337, 160 – zu Art. 17 Abs. 5):

 

„Mit der Änderung des § 295 Absatz 1 Satz 1 SGB V wird ein einheitliches und verbindliches elektronisches Verfahren zur Übermittlung von Arbeitsunfähigkeitsdaten durch die Ärzte an die Krankenkassen eingeführt und klargestellt, dass die Pflicht zur Übermittlung dieser Daten an die Krankenkassen den Ärzten und Einrichtungen obliegt. Für die Einführung dieses Verfahrens benötigen die Beteiligten einen hinreichenden zeitlichen Vorlauf, weshalb diese Regelung erst zum 1. Januar 2021 in Kraft tritt.“

 

Es wird insofern deutlich, dass der Gesetzgeber schon mit der Verabschiedung des Terminservice- und Versorgungsgesetzes im Jahr 2019 mit Wirkung zum 1. Januar 2021 einen Systemwechsel vollziehen wollte, bei dem ab diesem Zeitpunkt die Meldeobliegenheiten der Versicherten entfallen und auf die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte und Einrichtungen übertragen werden sollten. Die Möglichkeit eines weiteren Aufschiebens dieses Systemwechsels hat im Gesetz keinen Niederschlag gefunden, auch nicht für den Fall der verspäteten Herstellung der technischen Voraussetzungen. Die Gesetzesbegründung geht insofern lediglich für die Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen darauf ein, dass erst in weiteren Schritten eine Anbindung an die Telematikinfrastruktur erfolgen und daher nur für diesen Bereich nicht der gesetzlich geregelte Stichtag ausschlaggebend sein soll, sondern der Zeitpunkt, an dem ein technischer Anschluss erfolgt (Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen [LSG NRW], Urteil vom 16. November 2022 – L 10 KR 245/22 – juris Rn. 32).

 

Ausdrücklich hat der Gesetzgeber die Risikoverteilung bei einer verzögerten Übermittlung der Arbeitsunfähigkeitsdaten in den Blick genommen. Er hat sich ausdrücklich dafür entschieden, dass Verzögerungen bei der elektronischen Übermittlung durch die Ärzte nicht mehr im Einflussbereich der Versicherten liegen (BT-Drs. 19/6337, 145). Das gilt auch bei Verzögerungen bei der technischen Ausstattung der Vertragsärzte und deren Anschluss an die Telematikinfrastruktur. Insoweit liegt ein von der Beklagten zu vertretender Organisationsmangel vor. Die Betonung des Ziels, Hindernisse der elektronischen Datenübertragung nicht zu Lasten der Versicherten gehen zu lassen, verweist auf die Grundentscheidung des Gesetzgebers, dass es bei Übertragungsverzögerungen speziell im Interesse der Versicherten nicht auf die tatsächliche Übermittlung der Arbeitsunfähigkeitsdaten im elektronischen Verfahren ankommen soll (LSG NRW, Urteil vom 16. November 2022 – L 10 KR 245/22 – juris Rn. 35).

 

Würde man darauf abstellen, dass der Vertragsarzt die Übermittlung tatsächlich abschließt, sie also tatsächlich „erfolgt“, würde der Krankengeldanspruch der Versicherten davon abhängen, dass die Übermittlung durch den Arzt vollständig und rechtzeitig vorgenommen wird, was gänzlich außerhalb des Einflussbereichs der Versicherten liegt. Sie würden mit einem Risiko von Organisationsmängeln belastet, welches nach der Struktur des Krankengeldrechts nicht von ihnen zu tragen ist (zur Unbeachtlichkeit einer verspäteten Meldung in Ausnahmefällen BeckOGK/Schifferdecker, 01.08.2022, SGB V § 49 Rn. 68 ff).

 

bb)      Vom Gesetz abweichende Vereinbarungen im Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä) zur erst später einsetzenden Übermittlungspflicht der Vertragsärzte (Änderungsvereinbarung zum BMV-Ä vom 25. November 2020, DÄBl. 2021, 64, Änderungsvereinbarung zum BMV-Ä, DÄBl. 2021, 1728; Richtlinie der KBV vom 3.11.2021, DÄBl. 2021, 2186) haben keine Auswirkungen auf die gesetzlich vorgegebenen Pflichten der Vertragsärzte, jedenfalls nicht auf die Risikoverteilung zwischen Krankenkassen und Versicherten. Sie standen nicht im Einklang mit höherrangigem Recht. Den Partnern der Bundesmantelverträge ist nach § 295 Abs. 3 Nr. 3 SGB V lediglich die Befugnis eingeräumt, das „Nähere“ zur Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben aus § 295 Abs. 1 SGB V zu vereinbaren. Zu den umzusetzenden Vorgaben gehört die Verpflichtung zur fristgerechten Einführung der elektronischen AU-Bescheinigung ab dem 1. Januar 2021. § 295 Abs. 3 Nr. 3 SGB V ermächtigt die Selbstverwaltung hingegen nicht, sich selbst einen Dispens von den Vorgaben des Gesetzgebers zu erteilen und einen abweichenden Starttermin für die elektronische Übermittlung der Daten zur Arbeitsunfähigkeit festzulegen (LSG NRW, Urteil vom 16. November 2022 – L 10 KR 245/22 –, Rn. 39, juris, Sozialgericht [SG] Dresden, Urteil vom 28. März 2022 – S 25 KR 651/21, Rn. 29).

 

Die Meldeobliegenheit der Versicherten beschränkt sich ab dem 1. Januar 2021 somit auf Fälle, in denen die Arbeitsunfähigkeit außerhalb des Anwendungsbereichs des § 295 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Satz 10 SGB V bescheinigt wird - also durch nicht an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmende Ärzte und Einrichtungen (derzeit allg. M., vgl. LSG NRW, Urteil vom 16. November 2022 – L 10 KR 245/22 – juris Rn. 24, zustimmend Knispel, jurisPR-SozR 5/2023 Anm. 3 – Revision anhängig unter B 3 KR 23/22 R; SG Dresden, Urteil vom 19. Januar 2022 – S 45 KR 575/21 – juris Rn. 18 ff; SG Dresden, Urteil vom 28. März 2022 – S 25 KR 651/21 – juris Rn. 21 ff; BeckOGK/Schifferdecker, 01.08.2022, SGB V § 49 Rn. 47 ff; BeckOK SozR/Tischler, 68. Ed. 01.03.2023, SGB V § 49 Rn. 24; Müller, NZS 2020, 416, 417; a.A. Krauskopf/Rieke, 117. EL 12/2022, SGB V § 49 Rn. 41, wonach Versicherte allein aus der Einfügung der Regelung über die elektronische Übermittlung keine Rechte herleiten können sollen).

 

cc)      Da die Obliegenheit zur fristgerechten Meldung der Arbeitsunfähigkeit im vorliegenden Fall für die Klägerin nicht bestand, kommt es nicht darauf an, dass sie davon ausging, selbst weiter dazu verpflichtet zu sein.

 

Unerheblich ist auch, dass dem behandelnden Arzt bei Feststellung der Arbeitsunfähigkeit tatsächlich noch keine technische Möglichkeit zur elektronischen Meldung zur Verfügung stand. Der Arzt hat dem Gericht mit Datum vom 29. Juni 2023 mitgeteilt, dass in seiner Praxis erst seit 1. Januar 2023 die Möglichkeit besteht, Feststellungen der Arbeitsunfähigkeit an die Krankenkassen zu melden.

 

Entgegen der Auffassung der Beklagten kommt es auch nicht darauf an, dass der behandelnde Arzt der Klägerin eine Bescheinigung zur Weiterleitung an die Krankenkasse überreicht hat. Nach § 73 Abs. 2 Satz 1 Nr. 9 Halbsatz 2 SGB V ist die Bescheinigung über eine Arbeitsunfähigkeit auch auszustellen, wenn die Arbeitsunfähigkeitsdaten nach § 295 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB V übermittelt werden. Aus der bloßen Aushändigung einer solchen Bescheinigung können keine weitergehenden Rückschlüsse gezogen werden.

 

dd) Der von der Beklagten in Bezug genommene Hinweis im Mitgliedermagazin führt schließlich ebenfalls nicht zu einer anderen Beurteilung. Zum einen sind die gesetzlichen Vorgaben nicht abdingbar. Zum anderen wurde der Hinweis in der Ausgabe „fit 2/2021“, Seite 9, erst im Februar 2021 und damit nach der hier streitigen AU-Feststellung veröffentlicht und enthält zudem lediglich die Mitteilung, dass es für den Krankengeldanspruch wichtig sei, die AU-Bescheinigung zu übersenden. Ein Bezug zur Verzögerung der technischen Übermittlungsmöglichkeit der Vertragsärzte wird darin nicht hergestellt.

 

3.        Die Höhe des der Klägerin kalendertäglich zustehenden Krankengeldes ist zwischen den Beteiligten nicht streitig. Insoweit ist es nicht zu beanstanden, dass die Entscheidung des Sozialgerichts nach § 130 Abs. 1 SGG als Grundurteil erging.

 

4.         Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und folgt dem Ausgang der Hauptsache.

 

5.         Die Revision war gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen, weil der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung zukommt.

 

 

Rechtskraft
Aus
Saved