L 2 SB 115/22

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 36 SB 927/20
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 2 SB 115/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Ein im Wesentlichen durch Missempfindungen und Bewegungsdrang in Ruhe-Nachtzeiten und dadurch gestörten Nachtschlaf gekennzeichnetes restless-legs-Syndrom ist bei der Bildung des Grades der Behinderung nach den Grundsätzen für die Bewertung eines Schlafapnoe-Syndroms nach Teil B Nr. 8.7 der Versorgungsmedizinschen Grundsätze (VMG) zu bewerten.

I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid vom 05.07.2022 wird zurückgewiesen.

II. Kosten sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

T a t b e s t a n d :

Streitig ist die Herabsetzung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50 auf 30 nach Ablauf der Heilungsbewährung.

Der Beklagte hatte zuletzt mit Bescheid vom 13.05.2015 einen GdB von 50 festgestellt und dabei eine Erkrankung der Brust rechts in Heilungsbewährung berücksichtigt.

Der Beklagte leitete mit Schreiben vom 03.03.2020 eine Nachprüfung ein. Er holte hierzu Befundberichte des behandelnden Psychiaters K. vom 18.03.2020 und der behandelnden Frauenärztin B. vom 09.04.2020 ein. Frau B. teilte mit, die Klägerin habe sich bei ihr ab März 2019 wegen Schmerzen zunächst in der rechten Brust, später auch in der linken Brust vorgestellt. Die Narbenverhältnisse seien reizlos. Sie verwies auf Befunde des Brustzentrums im Krankenhaus D., nach denen sich ebenfalls unauffällige Untersuchungsergebnisse ergeben hätten. Nach dem Befundbericht des behandelnden Psychiaters vom 18.03.2020 habe bei der Klägerin eine rezidivierende depressive Störung bei gegenwärtig schwerer Episode mit psychotischen Symptomen bestanden. Es bestehe eine organische Halluzinose sowie ein restless-legs-Syndrom (nachfolgend RLS). Die Klägerin beziehe eine befristete Erwerbsminderungsrente. Herr K1 gab den psychopathologischen Befund wie folgt wieder: wach, bewusstseinsklar, allseits orientiert, im Kontakt freundlich und kooperativ, altersentsprechend angezogen, affektiv niedergedrückt, die Schwingungsfähigkeit reduziert, Antrieb gemindert, psychomotorisch unruhig, im formalen Denken verlangsamt und eingeengt; als psychotische Symptome würden optische Halluzinationen beschrieben; Aufmerksamkeitskonzentration und Merkfähigkeit seien herabgesetzt.

Der Beklagte hörte die Klägerin mit Schreiben vom 11.05.2020 zur beabsichtigten Herabsetzung des GdB auf 30 an.

Mit Bescheid vom 15.06.2020 setzte der Beklagte den festgestellten GdB ab dem Tag nach Bekanntgabe des Bescheides auf 30 herab. In den tatsächlichen Verhältnissen, die beim Erlass des Ursprungsbescheides vorgelegen hätten, sei eine wesentliche Änderung eingetreten. Die wesentliche Änderung bestehe im Ablauf der Heilungsbewährung. Der aktuellen Feststellung des GdB seien folgende Gesundheitsstörungen zugrunde gelegt worden:

1. Seelische Störung und chronisches Schmerzsyndrom, Einzel-GdB 30
2. Restless-Legs-Syndrom, Einzel-GdB 20
3. Teilverlust der Brust rechts mit Restbeschwerden, Einzel-GdB 10

Mit dem am 09.07.2020 erhobenen Widerspruch machte der Bevollmächtigte der Klägerin geltend, dass hinsichtlich des RLS der Einzel-GdB zu gering bemessen sei. Nach den vom behandelnden Psychiater gestellten Diagnosen einer schweren depressiven Episode mit psychotischen Symptomen und organischer Halluzinose sei von einer schweren psychischen Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten auszugehen. Eine schwere depressive Episode habe bereits 2019 bestanden. Hierzu wurde der Entlassbrief des Klinikums F. vom 04.06.2019 über eine stationäre psychiatrische Behandlung vom 09.05.2019 bis 04.06.2019 übersandt. Dort wurden als Diagnosen eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome, eine generalisierte Angststörung, eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung sowie ein RLS angegeben. Die Entlassung der Klägerin erfolgte am 04.06.2019 in stabilem psychophysischen Zustand.

Der Beklagte holte einen Befundbericht von Herrn Z., Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, vom 03.08.2020 ein. Herr Z. teilte als Diagnosen u.a. mit:

* schweres RLS
* rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelschwere Episode
* chronische Angststörung, Verdacht auf generalisierte Angststörung
* anhaltende somatoforme Schmerzstörung

Die unruhigen Beine seien auch unter fachgerechter Behandlung mit Dopaminagonisten, Eisen- und Vitamin B12-Substitution nur wenig zu bessern und würden weiterhin Schlafstörungen bewirken. Die antidepressive Behandlung und die Psychotherapie würden fortgeführt, Venlafaxin (mit Quetiapin) sei im Klinikum F. auf Agomelatin umgestellt worden, darunter leichte Besserung, der Hausarzt habe auf Omipramol umgestellt, was die Patientin selbst abgesetzt habe. Die Patientin sei weiterhin deutlich depressiv und diffus ängstlich, mit erheblicher Somatisierung. Die soziale Anpassungsfähigkeit und die Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit seien deutlich reduziert.

Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 02.09.2020 zurück.

In dem sich anschließenden Klageverfahren hat das Sozialgericht München (SG) nochmals Befundberichte der Hausärztin vom 13.10.2020, des behandelnden Psychiaters vom 09.10.2020, des behandelnden Orthopäden vom 27.03.2020 (Eingang 24.11.2020) und des behandelnden Neurologen vom 07.12.2020 eingeholt. Dem Befundbericht der Hausärztin war unter anderem ein Befund des Beckenbodenzentrums M. vom 10.06.2020 beigefügt. Danach bestand bei der Klägerin eine gemischte Harninkontinenz mit dominierender Drangsymptomatik. Ebenfalls beigefügt waren Arztbriefe von Herrn K1 vom 24.11.2016, 18.05.2017 und 22.05.2018. Im Arztbrief vom 22.05.2018 und im Befundbericht vom 09.10.2020, jeweils von Herrn K1, werden teilweise die Anamnese bzw. die von der Klägerin geschilderten Beschwerden wortgleich wie folgt wiedergegeben:

"Mit Blick auf die aktuellen Beschwerden berichtete sie von Gedankenkreisen, Grübeln, Kraftlosigkeit und Gefühllosigkeit in den Beinen, Zittern, Ohnmachtsanfällen und Weinattacken. Auslöser seien banale Kleinigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen, in denen sie schnell kränkbar sei. Nachts habe sie viele Träume und schlafe unruhig und wache mit Schreien auf, sehe Schatten und Gesichter, die sich ständig verformten. Sie habe Angst davor."

Auch der psychopathologische Befund wird in den Befundberichten vom 18.03.2020 und 09.10.2020 sowie im Arztbrief vom 22.05.2018 wortgleich beschrieben.

Dem Befundbericht des behandelnden Psychiaters K. war ein Arztbrief von Frau B1, Fachärztin für Anästhesie, vom A1 MVZ vom 26.08.2020 über eine Vorstellung der Klägerin am 04.08.2020 beigefügt. Nach diesem Arztbrief wurde bei der Klägerin eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren festgestellt.

Mit Beweisanordnung vom 19.02.2021 hat das Sozialgericht Herrn S. zum Sachverständigen auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet ernannt. Dieser hat die Klägerin am 20.04.2021 untersucht. Die durchgeführte Laboruntersuchung hat für die von der Klägerin angegebene Medikation mit Novaminsulfon (Schmerzmittel), Duloxetin (Antidepressivum) und Ropinirol (Dopaminagonist, zur Behandlung des RLS) durchgängig Medikamentenspiegel weit unterhalb des therapeutischen Bereichs ergeben.

Der Sachverständige S. ist zu dem Ergebnis gekommen, dass aufgrund des erhobenen psychiatrischen bzw. psychopathologischen Befundes neben einer leichten depressiven Verstimmung keine besonderen psychopathologischen Beeinträchtigungen feststellbar seien. Die Schwingungsfähigkeit sei situationsabhängig verändert, aber durchgehend erhalten gewesen. Die von der Klägerin demonstrierten Schmerzen und vor allem depressiven Beschwerden seien im Rahmen der Untersuchung inkonsistent und deutlich überzeichnet erschienen. Sie habe während des gutachtlichen Gesprächs immer wieder ausgeprägte Jammerzustände hinsichtlich der seit Jahren bestehenden Schmerzen gezeigt, bei Themenwechsel sei eine rasche Rückkehr zu einem weitgehend unauffälligen Kontaktverhalten gelungen. Während der gesamten Verhaltensbeobachtung hätten keine Insuffizienzgefühle, Schuldgefühle oder kognitiven Beeinträchtigungen festgestellt werden können. Die Gedächtnisfunktionen (Merkfähigkeit, Orientierung, Aufmerksamkeit und Konzentration) seien während der gesamten Untersuchung als unbeeinträchtigt erschienen. Das Behandlungsschema mit Antidepressivum, Dopaminagonisten und regelmäßiger Einnahme des Schmerzmedikaments Novaminsulfon erscheine lediglich "formal". Der Sachverständige hat sich auch mit den vorhandenen Befunden, insbesondere den Diagnosen der behandelnden Ärzte auseinandergesetzt. Er hielt diese mangels Dokumentation von Anknüpfungstatsachen und Konsistenzprüfung, wie etwa der Abklärung der Therapie-Compliance hinsichtlich der medikamentösen Behandlung, für wenig aussagekräftig. Dem Entlassbrief des Klinikums F. sei zu entnehmen, dass bei konsequenter Behandlung durchaus eine Besserung eintrete. Der Sachverständige hat für den Bereich der seelischen Störung, die er als Dysthymia und chronisches Schmerzsyndrom bezeichnete, einen Einzel-GdB von 30 für angemessen gehalten. Auch der Einzel-GdB von 20 für das RLS sei angemessen.

Auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist Herr S1 zum Sachverständigen ernannt worden. Dieser hat die Klägerin am 15.10.2021 unter Anwesenheit eines Simultandolmetschers untersucht. Der Sachverständige ist nach Untersuchung der Klägerin (ohne Laborbefund bezüglich Medikamentenspiegel) zu folgenden Diagnosen gekommen:

* rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig leichtgradige Episode
* ausgeprägte generalisierte Angststörung
* chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren
* Fibromyalgie
* dependente, histrionische und ängstliche Persönlichkeitsakzentuierung
* RLS

Der Sachverständige hat die Gesundheitsstörungen mit Einzel-GdB wie folgt bewertet:

* seelische Störung mit depressiver Störung, Angststörung und somatoformer Schmerzstörung, Einzel-GdB 40 (es handele sich um eine Störung mit mittelgradigen sozialen Funktionsanpassungsstörungen bei bestehenden Therapiereserven)
* RLS, Einzel-GdB 20 (nur teilweise Überlappung mit der seelischen Störung, beide Störungen wirkten in sich verschlechternd)
* Teilverlust der Brust rechts mit Restbeschwerden, Einzel-GdB 10

Den Gesamt-GdB hat der Sachverständige S1 mit 50 bewertet.

Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 05.07.2022 abgewiesen.

Gegen diese Entscheidung hat sich die Klägerin mit der am 30.07.2022 durch ihren Bevollmächtigten eingelegten Berufung gewandt. Der vom Sachverständigen S. und vom SG angenommene Teil-GdB von 30 für die seelische Störung sei nicht leidensgerecht. Der von der Klägerin nach § 109 SGG benannte Sachverständige S1 habe dagegen ausgewogen und korrekt beschrieben, warum er den Teil-GdB von 40 bei der Klägerin für die seelische Störung (Schmerzstörung und Depression) als stärker behindernde Störung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit für ausgefüllt halte. Dies werde durch den beigefügten Bericht des behandelnden Nervenarztes Z. vom 10.10.2021 bestätigt. Das sehr belastende RLS sei trotz jahrelanger medikamentöser Behandlung schwer ausgeprägt und bei der Bildung des Gesamt-GdB verschlimmernd zu berücksichtigen.

Frau K2 vom Hausärztezentrum A. hat auf die gerichtliche Anforderung den Befundbericht vom 26.04.2023 über die Behandlung vom 01.01.2020 bis 31.12.2020 einschließlich eines Auszuges aus der Patientendokumentation für diesen Zeitraum und der aus diesem Zeitraum vorliegenden Befunde und Arztberichte übersandt.

Im Termin zur Erörterung der Sach- und Rechtslage teilte der Bevollmächtigte der Klägerin mit, dass eine Untersuchung im Schlaflabor bisher nicht stattgefunden habe.

Die Klägerin beantragt gemäß Berufungsschrift vom 30.07.2022:

1.    Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts München vom 05.07.2022 (S 36 SB 927/20) wird aufgehoben und der Bescheid vom 15.06.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.09.2020 wird abgeändert und der Beklagte verurteilt, bei der Klägerin weiterhin das Vorliegen der Schwerbehinderung (mind. GdB 50 v.H.) anzuerkennen.

2.   Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Der Beklagte beantragt,

      die Berufung zurückzuweisen.

Er verweist auf die beim SG vorgelegte ärztliche Stellungnahme vom 26.04.2022 zum Gutachten von Herrn S1 und die aus seiner Sicht zutreffende Begründung des Gerichtsbescheides.

Wegen der Einzelheiten wird auf die vom Beklagten, vom SG und vom LSG eingeholten Befundberichte einschließlich Anlagen und die vom SG eingeholten Gutachten des Herrn S. und Herrn S1 verwiesen.


E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e :

Der Senat kann gemäß § 124 Abs. 2 SGG über die Berufung ohne mündliche Verhandlung im schriftlichen Verfahren entscheiden, da die Beteiligten ihr Einverständnis am 12.06.2023 zu Protokoll erklärt haben.

I. Die Berufung ist unbegründet.

(Streit-)Gegenstand des Berufungsverfahrens ist der Anspruch der Klägerin auf Aufhebung des Herabsetzungsbescheides des Beklagten vom 15.06.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 02.09.2020 (§ 95 SGG). Das ergibt sich aus der Auslegung des klägerischen Antrages, der auf ein Fortbestehen der Feststellung des GdB 50 gerichtet ist. Dieses prozessuale Ziel verfolgt die Klägerin zulässigerweise mit der isolierten Anfechtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 SGG auf Aufhebung der Bescheide, deren Erfolg ihren ursprünglichen GdB von 50 fortbestehen ließe (BSG vom 16.12.2021 - B 9 SB 6/19 R - SozR 4-1300 § 48 Nr. 40, Rn. 15). Für die Klage gegen einen Herabsetzungsbescheid ist allein die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung, hier des Widerspruchsbescheides gemäß § 85 SGG im Oktober 2020, maßgebend (st. Rspr., etwa BSG vom 15.08.1996 - 9 RVs 10/94 = SozR 3-3870 § 4 Nr. 13; BSG vom 11.08.2015 - B 9 SB 2/15 R - SozR 4-1300 § 48 Nr 31, Rn. 13 m.w.N.; BayLSG vom 13.07.2015 - L 15 SB 16/14 - juris Rn. 27).

Das SG hat es mit Gerichtsbescheid vom 05.07.2022 zutreffend abgelehnt, den angefochtenen Bescheid des Beklagten vom 15.06.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.10.2020 aufzuheben. Die Anfechtungsklage ist unbegründet, da der Beklagte zu Recht und ohne Verletzung der Rechte der Klägerin mit diesen Bescheiden die bestandskräftige Feststellung eines GdB von 50 mit Bescheid vom 13.05.2015 gemäß § 48 Abs. 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) teilweise aufgehoben und den GdB noch mit 30 festgestellt hat.

Die Voraussetzungen für die teilweise Aufhebung des Bescheides vom 13.05.2015 nach § 48 Abs. 1 SGB X lagen vor.

Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Eine solche wesentliche Änderung liegt immer dann vor, wenn die nach dem Zeitpunkt des Erlasses des Änderungsbescheides vorliegende Sach- und Rechtslage dazu führt, dass der Bescheid rechtmäßig nur mit einem anderen Tenor erlassen werden dürfte.

1. Die erforderlichen formellen Voraussetzungen der Aufhebung hat der Beklagte erfüllt, indem er die Klägerin vorab ordnungsgemäß schriftlich angehört und seinen Bescheid ausreichend begründet hat, § 24 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 SGB X.

2. Der Änderungsbescheid vom 15.06.2020 war mit der Verfügung, die Herabsetzung des GdB auf 30 gelte ab dem Tag nach Bekanntgabe des Bescheides, hinreichend bestimmt. Die Bekanntgabe eines schriftlichen Verwaltungsaktes erfordert dessen Zugang. Dafür ist es ausreichend, dass der Verwaltungsakt so in den Machtbereich des Empfängers gelangt, dass dieser unter normalen Verhältnissen von diesem Kenntnis nehmen kann. Der Zeitpunkt, ab dem die Herabsetzung des GdB wirksam werden sollte, ist damit hinreichend bestimmt (BSG vom 15.06.2023 - B 9 SB 3/22 R -, vgl. Terminbericht des BSG Nr. 22/23 vom 16.06.2023).

3. Bei dem Bescheid vom 13.05.2015, den der Beklagte mit dem angefochtenen Bescheid vom 15.06.2020 teilweise aufgehoben hat, handelte es sich um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung (BSG vom 11.08.2015 - B 9 SB 2/15 R - SozR 4-1300 § 48 Nr. 31, Rn. 13).

4. Eine wesentliche Änderung der rechtlichen Verhältnisse liegt im Vergleich zum Erlass des Feststellungsbescheides vom 13.05.2015 nicht vor. Zwar hat sich die Rechtsgrundlage für die Feststellung einer Behinderung und des GdB mit der Einführung des SGB IX zum 01.01.2018 geändert. Gemäß § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX in seiner ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung stellen auf Antrag des behinderten Menschen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung fest. Diese Vorschrift entspricht jedoch § 69 Abs. 1 Satz 4 SGB IX in der bis 31.12.2017 geltenden Fassung, die Grundlage der Feststellung vom 13.05.2015 war.

5. Es liegt jedoch eine wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse im Vergleich zum Feststellungsbescheid des Beklagten vom 13.05.2015 vor.

Die gesundheitlichen Verhältnisse der Klägerin sind die für die Feststellung eines GdB maßgebenden tatsächlichen Verhältnisse. Sie sind Ausgangspunkt für die auf der Grundlage des § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX und der nach §§ 153 Abs. 2, 241 Abs. 5 SGB IX i.V.m. § 30 Abs. 1 und Abs. 16 BVG geltenden Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) einschließlich der "Versorgungsmedizinischen Grundsätze" als Anlage zu § 2 VersMedV (nachfolgend VMG) erfolgende Feststellung des GdB.

Eine wesentliche Änderung der gesundheitlichen Verhältnisse ist dann anzunehmen, wenn sich durch eine Besserung (oder Verschlechterung) des behinderungsbedingt eingeschränkten Gesundheitszustandes eine Herabsetzung (oder Erhöhung) des GdB um wenigstens 10 ergibt. Handelt es sich bei den dem GdB zugrunde liegenden Gesundheitseinschränkungen um solche, bei denen - wie dies bei Krebserkrankungen der Fall ist - der GdB wegen der Art der Erkrankung zunächst höher festgestellt worden ist, als es die tatsächlichen Funktionseinschränkungen erfordern, liegt eine Änderung der Verhältnisse im Sinn des § 48 SGB X auch dann vor, wenn bei der der Feststellung des GdB zugrunde liegenden Erkrankung die Zeit der sogenannten Heilungsbewährung ohne das Auftreten eines Rezidivs abgelaufen ist (vgl. Teil A Nr. 7 Buchst. b VMG; BSG vom 11.08.2015 - B 9 SB 2/15 R - SozR 4-1300 § 48 Nr. 31, Rn. 15) und weitere Gesundheitsstörungen nicht hinzugetreten sind.

Es steht zur Überzeugung des Senats fest, dass im Gesundheitszustand der Klägerin bei Erlass des Widerspruchsbescheides vom 02.09.2020 im Vergleich zum Gesundheitszustand im Zeitpunkt des Erlasses des bestandskräftigen Bescheides vom 13.05.2015 eine Besserung eingetreten ist, die einer Reduzierung des GdB von 50 auf 30 entspricht. Nach rezidivfreiem Ablauf der Heilungsbewährungszeit ist der Einzel-GdB für die Erkrankung der Brust nach den noch bestehenden Funktionseinschränkungen mit 10 zu bemessen (dazu a). Die Funktionseinschränkungen aufgrund der Gesundheitsstörungen auf psychiatrischem Fachgebiet sind mit einem Einzel-GdB von 30 zu berücksichtigen (dazu b). Vom Vorliegen anderer, zu weiteren Funktionseinschränkungen führenden Gesundheitsstörungen, insbesondere aufgrund eines RLS, konnte sich der Senat nicht überzeugen (dazu c). Der Gesamt-GdB beträgt 30 (dazu d).

a) Das im Jahr 2014 diagnostizierte und operativ, chemotherapeutisch sowie strahlentherapeutisch behandelte Mammakarzinom der rechten Brust hat unstreitig kein Rezidiv nach sich gezogen. Das ergibt sich aus dem vom Beklagten eingeholten Befundbericht von Frau B. vom 09.04.2020, dem Befunde des Gynäkologischen Tumorzentrums der Kliniken D. vom 26.06.2019, des Zentrums für Radiologie und Nuklearmedizin N. vom 05.11.2019 und des Radiologischen Zentrums M vom 26.11.2019 beigefügt waren. Sowohl bei einer sonographischen Untersuchung im Gynäkologischen Tumorzentrum am 25.06.2019 als auch bei einem Thorax-CT am 26.11.2019 durch das Radiologische Zentrum M. sind keine Tumorrezidive oder Metastasen festgestellt worden. Nach Ablauf der Heilungsbewährungszeit von in diesem Fall fünf Jahren nach den Grundsätzen gemäß Teil B Nr. 1 Buchst. c) VMG ist für den Teilverlust der Brust rechts ein Einzel-GdB von 10 anzusetzen. Maßgebend sind nach Ablauf der Heilungsbewährung die verbleibenden Funktionsstörungen und Beeinträchtigungen. Dem Befundbericht von Frau B. zufolge hat die Klägerin bei reizlosen Narbenverhältnissen über Schmerzen zunächst in der rechten, später auch in der linken Brust geklagt. Bei einem einseitigen Teilverlust der rechten Brust sehen die VMG in Teil B Nr. 14.1 einen Einzel-GdB von 0-20 vor. Ein weitgehender Verlust der Brust ist nicht dokumentiert. Auf der Tumoroperation beruhende Funktionseinschränkungen der oberen Extremitäten werden von den behandelnden Ärzten ebenso wenig beschrieben wie Operations- oder Bestrahlungsfolgen in der Form von Lymphödemen, Muskeldefekten oder Nervenschädigungen. Die verbliebenen Gesundheitsstörungen aufgrund der Tumor-erkrankung durch Schmerzen, Narben und Teilverlust der Brust sind vom Beklagten mit einem Einzel-GdB von 10 angemessen berücksichtigt worden.

b) Die seit dem Erlass des Bescheides vom 13.05.2015 hinzugetretenen Gesundheitsstörungen auf psychiatrischem Fachgebiet sind im September 2020 mit einem Einzel-GdB von 30 zu berücksichtigen.

Bei der Klägerin bestanden ein chronisches Schmerzsyndrom und eine rezidivierende depressive Störung wechselnden Ausmaßes, die jedenfalls zum hier allein maßgeblichen Zeitpunkt des Widerspruchsbescheides nicht in einer Ausprägung vorlag, die eine wesentliche Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit bedingte oder gar zu sozialen Anpassungsschwierigkeiten führte.

Das ergibt sich im Wesentlichen aus den Befundberichten von Herrn Z. vom 03.08.2020, 07.12.2020 und 10.10.2021 und dem vom SG eingeholten Gutachten des Sachverständigen S.  vom 23.06.2021.

Den Befundberichten von Herrn Z. ist zu entnehmen, dass die Klägerin bereits seit mindestens 2016 medikamentös mit Antidepressiva behandelt wird. Eine deutliche Verschlechterung war bei der Vorstellung der Klägerin am 06.05.2019 festzustellen mit erheblicher Verwirrung, fraglichen Halluzinationen und Ängsten, nachdem die Klägerin seit einer Woche keine Tabletten mehr genommen hatte. Für die nachfolgende stationäre Behandlung vom 09.05.2019 bis 04.06.2019 wird im Entlassbericht des Klinikums F. vom 04.06.2019 eine Besserung des Zustandes beschrieben und die Entlassung der Klägerin in stabilem psychophysischen Zustand angegeben. Dies deckt sich mit der Angabe des Herrn Z., bei der Vorstellung der Klägerin am 16.07.2019 sei der psychische Zustand nach einer Umstellung der Medikation im Klinikum F. auf Agomelatin deutlich besser gewesen mit weniger Angst, Verzweiflung und Unruhe. Zu den Vorstellungen der Klägerin am 05.12.2019 und 10.03.2020 wird keine Verschlechterung des psychischen Zustandes beschrieben. Erst ab dem 27.10.2020, also nach Erlass des Widerspruchsbescheides vom 02.09.2020, wurden eine zunehmende Vergesslichkeit und Unkonzentriertheit und eine depressive Stimmung geschildert, was sich über die weiteren Termine am 08.02.2021, 14.06.2021 und 21.09.2021 fortsetzte. Zusammenfassend gab Herr Z. im Befundbericht vom 10.10.2021 unter 8. eine "erhebliche, langsame Verschlechterung der Befunde in den letzten ein bis zwei Jahren" an, u.a. mit Zunahme der Schmerzen und Zunahme der Schlafstörungen und auch der Depressivität und Ängste. Ausgehend von diesen Befundberichten ist es nach Erlass des Widerspruchsbescheides vom 02.09.2020 zu einer Verschlechterung gekommen. Dies ist aber für das vorliegende Verfahren wegen des für die Bewertung maßgeblichen Zeitpunkts ohne Bedeutung.

Eine ähnlich differenzierte Verlaufsbeobachtung ist den Befundberichten von Herrn K1 nicht zu entnehmen. Er stützt seine Beurteilung in den in weiten Teilen gleichlautenden Befundberichten vom 18.03.2020 und 19.10.2020 wesentlich auf die Schilderungen der Klägerin. Die wiedergegebenen anamnestischen Angaben der Klägerin und die Beschreibung des psychopatholgischen Befundes gleichen denen im Arztbrief vom 22.05.2018. Den im Abstand von mehr als zwei Jahren bzw. sechs Monaten erstellten Befundberichten sind keine Unterschiede in der Beschwerdeschilderung der Klägerin oder im psychopathologischen Befund zu entnehmen. Unberücksichtigt bleibt, dass die Klägerin im Juni 2019 aus der stationären Behandlung in stabilem Zustand entlassen wurde. Die von Herrn Z. beschriebene Besserung seit dem stationären Aufenthalt, welche die Klägerin auch gegenüber dem Sachverständigen S1 angegeben hatte, fehlt in den Berichten des Herrn K1. Unklar bleibt, ob Angaben der Klägerin einfach über die Jahre in sämtlichen Berichten "fortgeschrieben" worden sind und ob eine Objektivierung der Beschwerdeangaben der Klägerin stattgefunden hat.

Nach der Patientendokumentation der behandelnden Hausärztin Frau K2 für den Zeitraum 01.01.2020 bis 31.12.2020, die dem Befundbericht vom 26.04.2023 beigefügt war, wurde im Jahr 2020 einmalig am 16.11.2020 als Arbeitsdiagnose "rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome" dokumentiert. Über das gesamte Jahr 2020 finden sich in der Dokumentation bis auf den Termin 26.02.2020 keinen Angaben zu psychischen Beschwerden. Die am 26.02.2020 geschilderten funktionellen Beschwerden wie "Kribbeln am ganzen Körper, Unwohlgefühl thorakal und abdominell, epigastrales Druckgefühl" wurden nach der Dokumentation besprochen. Dokumentiert ist "verbale Intervention", was der vertragsärztlich abrechenbaren Gebührenordnungsposition 35110 des Einheitlichen Bewertungsmaßstabes (EBM) - "Verbale Intervention bei psychosomatischen Krankheitszuständen" - entsprechen dürfte. Weitere psychosomatische Zustände sind der Dokumentation für das Jahr 2020 nicht zu entnehmen.

Mit diesen Befunden und Angaben der behandelnden Ärzte hat sich der vom SG ernannte Sachverständige S. im Gutachten vom 26.06.2021 eingehend unter Berücksichtigung der von ihm bei der Untersuchung am 20.04.2021 erhobenen Befunde auseinandergesetzt. Er hat ausführlich und nachvollziehbar eine inkonsistente Beschwerdeschilderung der Klägerin mit der Angabe schwerster Schmerzen mit einem Grad 10 auf einer Skala bis 10, jedoch keinerlei beobachtbaren schmerzbedingten Einschränkungen in der Untersuchungssituation dargelegt. Fehlende schmerzbedingte Einschränkungen werden nach Auffassung des Senats auch durch die Tatsache belegt, dass nach einmaliger schmerztherapeutischer Vorstellung im A1 MVZ  am 04.08.2020 offenbar keine weitere schmerztherapeutische Behandlung der von der Klägerin geklagten massiven Schmerzen folgte. Die vom Sachverständigen wahrgenommene Inkonsistenz war Anlass für die Bestimmung des Medikamentenspiegels hinsichtlich der von der Klägerin angegebenen Schmerzmedikation mit Novaminsulfon, der Einnahme des Antidepressivums Duloxetin und des Dopaminagonisten Ropinirol. Die dabei festgestellten Serumspiegel unterhalb des bei verordnungsgerechter Einnahme erwartbaren Wertes bestätigten die von der Klägerin angegebene Einnahme der Medikamente nicht. Nachvollziehbar leitet der Sachverständige daraus erhebliche Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Schilderungen der Klägerin ab, wenn diese selbst die regelmäßige Einnahme der Medikamente als nicht notwendig erachtet.

Bei der Untersuchung hat der Sachverständige auch keine typischen Symptome einer ICD-10-gestützten depressiven Episode (ICD-10 F32) feststellen können. Hinweise für einen verminderten Antrieb, Kraftlosigkeit oder eine allgemeine Müdigkeit haben sich nach seinen Beobachtungen nicht ergeben. Auch wesentliche Einschränkungen der Merkfähigkeit, Aufmerksamkeit und Konzentration hat er nicht feststellen können. Es ist für den Senat nachvollziehbar, dass der Sachverständige bei diesem Befund, der zu einem Zeitpunkt ohne nachweisbare medikamentöse Behandlung erhoben wurde, Zweifel an der zuvor gestellten Diagnose einer rezidivierenden depressiven Störung mit schwerer Episode äußert und deshalb die vorliegenden Befundberichte kritisch auf belastbare objektive Anhaltspunkte oder dargestellte eigene Beobachtungen der behandelnden Ärzte überprüft. Solche fehlen den vorliegenden Befundberichten des Herrn K1 jedoch, so dass davon auszugehen ist, dass sich die von ihm angegebenen Diagnosen im Wesentlichen auf die nach den Feststellungen des Sachverständigen kritisch zu hinterfragenden eigenen Schilderungen der Klägerin stützen.

Wenn der Sachverständige S. trotz aller aufgezeigten Inkonsistenzen in der Beschwerdeschilderung trotzdem einen Einzel-GdB von 30 für eine leichtgradige seelische Störung und ein chronisches Schmerzsyndrom für angemessen erachtet, ist dies auf der Grundlage seiner Feststellungen als eher großzügig zu beurteilen. Denn auch die Annahme einer chronischen Schmerzerkrankung beruht im Wesentlichen auf den Angaben der Klägerin, die sich bei der gutachterlichen Untersuchung als weitgehend inkonsistent gezeigt haben und für die die Klägerin trotz geschilderter schwerster Schmerzen keine regelmäßige Behandlung in Anspruch nimmt und auch die Einnahme von Schmerzmitteln eher sporadisch erfolgt.

Dem auf Antrag der Klägerin nach § 109 SGG eingeholten Gutachten des Sachverständigen S1 aufgrund seiner Untersuchung der Klägerin am 15.10.2021 sind für den hier allein maßgeblichen Zeitpunkt 02.09.2020 keine weiteren Erkenntnisse zu entnehmen. Die Klägerin hat bei dieser Untersuchung geschildert, dass es ihr vor der Behandlung im Klinikum F. besonders schlecht gegangen sei. So schlecht wie damals würde es ihr nicht mehr gehen. Dies deckt sich mit den Angaben von Herrn Z. und wirft nochmals die Frage auf, weshalb von Herrn K1 seit 2019 anhaltend die Diagnose einer rezidivierenden depressiven Störung mit schwerer Episode gestellt wird. Diese seit 2018 unveränderte Diagnose stimmt jedenfalls nicht mit der von der Klägerin angegeben Selbstwahrnehmung überein.

Auch der Sachverständige S1 sieht die Befunde von Herrn K1 als dadurch kompromittiert an, dass sie sich auch bei unterschiedlicher Diagnosestellung bezüglich Befunden aus der Vergangenheit zum Teil gleich lesen und nur bedingt ein schweres depressives Syndrom, eher ein mittelschweres depressives Syndrom abbilden. Die parallele Diagnose einer Depression und von Angst und Depression gemischt sei per definitionem unzulässig. Eine Aggravation hat der Sachverständige nicht angenommen, sondern die Darstellungsweise der Klägerin im Kontext einer somatoformen Störung und im kulturellen Kontext bei einfacher Persönlichkeitsstruktur gesehen. Psychopathologisch hat der Sachverständige S1 ein leichtgradiges depressives Syndrom deutlich über dem Niveau der vom Sachverständigen S. festgestellten Dysthymie angenommen bei einer wiederkehrenden depressiven Störung mit mittelschweren und schweren Phasen in der Vergangenheit. Funktional durch ausgeprägtes Vermeidungsverhalten bedeutender sei eine generalisierte Angststörung, die bereits im Entlassbericht des Klinikums F. vom 04.06.2019 angegeben werde. Der Sachverständige ging davon aus, dass die Klägerin seit über zwei Jahren nicht mehr allein das Haus verlasse. Unklar bleibt allerdings, worauf sich der Sachverständige bei der Annahme des Zeitraums von zwei Jahren stützt.

Die vom Sachverständigen S1 vorgenommene Beurteilung stützt sich auf den aktuell bei der Untersuchung am 15.10.2021 erhobenen Befund und lässt keinen Rückschluss auf den Zustand im September 2020 zu. Der Senat geht von der von Herrn Z. im Befundbericht vom 10.10.2021 beschriebenen langsamen Verschlechterung in den letzten ein bis zwei Jahren aus. Demzufolge war der Zustand der Klägerin im September 2020 besser als bei der Untersuchung durch den Sachverständigen S1 am 15.10.2021, so dass die Annahme einer stärker behindernden depressiven Störung und Angststörung, von der der Sachverständige im Gutachten bezogen auf den Untersuchungszeitpunkt maßgeblich ausgeht, bei Erlass des Widerspruchsbescheides vom 02.09.2020 noch nicht vorlag.

c) Vom Vorliegen weiterer, mit einem Einzel-GdB von mindestens 10 berücksichtigungsfähiger Gesundheitsstörungen konnte sich der Senat nicht überzeugen, insbesondere nicht vom Vorliegen von Beeinträchtigungen aufgrund eines RLS.

aa) Eine dauerhafte Teilhabeeinschränkung aufgrund der im Befund des Beckenbodenzentrums vom 10.06.2020 geschilderten Harninkontinenz liegt nicht vor. Es handelt sich um einen einmaligen Befund, der in den übrigen, dem Senat vorliegenden ärztlichen Unterlagen nicht dokumentiert ist. Eine weitere Behandlung wegen der Harninkontinenz ist nach dem 10.06.2020 nicht erfolgt, wie die Klägerin auf Nachfrage durch die Berichterstatterin am 20.04.2023 mitgeteilt hat.

bb) Das RLS ist nicht als Behinderung bei der Bildung des Gesamt-GdB zu berücksichtigen.

Eine Bindung an die Berücksichtigung dieser Gesundheitsstörung mit einem Einzel-GdB von 20 durch den Beklagten im Bescheid vom 15.06.2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.09.2020 besteht nicht. Die Aufzählung der berücksichtigten Gesundheitsstörungen mit den jeweiligen Einzel-GdB im Bescheid über die Feststellungen des GdB stellt keine Regelung im Sinne des § 31 Satz 1 SGB X, sondern nur ein Begründungselement des Verwaltungsaktes - Feststellung des GdB - dar (BSG vom 01.06.2015 - B 9 SB 10/15 B - juris Rn. 8). Bei der Prüfung, ob der vom Beklagten festgestellte GdB bzw. die vom Beklagten verfügte Herabsetzung des GdB rechtmäßig ist, hat das Gericht eigenständig das Vorliegen von Gesundheitsstörungen festzustellen und einer Bewertung zu unterziehen.

Die Klägerin leidet zwar nach den Feststellungen ihrer behandelnden Ärzte an einem RLS, relevante funktionelle Einschränkungen bzw. Teilhabeeinschränkungen aufgrund dieser Erkrankung sind jedoch nicht nachgewiesen.

(1) Die Diagnose eines RLS ergibt sich aus dem Befundbericht des Neurologen Z. vom 03.08.2020, in dem ein schweres RLS seit 2007 mit von der Klägerin berichteten starken Missempfindungen, Zuckungen und Bewegungsdrang der Beine in den Ruhe- und Nachtstunden und erfolglose medikamentöse Behandlungsversuchen seit 2007 angegeben werden. In der Verlaufsanamnese wird zu der Vorstellung der Klägerin am 05.12.2019 geschildert, dass die Behandlung mit Ropinirol gegen RLS helfe und der Schlaf besser sei mit zunächst etwas Unruhe. Bei der Vorstellung am 10.03.2020 habe die Klägerin Einschlafstörungen wegen der Schmerzen und RLS geschildert. Bei der klinisch-neurologischen Untersuchung hätten sich unauffällige Befunde ergeben. In dem vom SG angeforderten Befundbericht vom 07.12.2020 gibt Herr Z. zur Vorstellung der Klägerin am 27.10.2020 an, dass das RLS unter Neupro 2 mg etwas erleichtert sei, sie sei aber tagsüber sehr müde.

(2) Für die Berücksichtigung bei der GdB-Bewertung sind nicht Diagnosen, sondern die durch die Erkrankung bedingten Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft maßgebend.

Beim RLS handelt es sich um eine neurologische Erkrankung, die sich im Wesentlichen durch einen Bewegungsdrang der Beine, begleitet oder ausgelöst durch Missempfindungen oder einem Unruhegefühl der Beine, mit Auftreten oder Verschlimmerung am Abend oder in der Nacht äußert. Die Diagnose wird anhand der klinischen Symptome gestellt (S2k-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie und der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin, vom 25.06.2022, AWMF-Registernummer 030/081, S. 17, abrufbar unter https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/030-081). Zu den teilhaberelevanten Auswirkungen des RLS zählen vor allem Schlafstörungen, wie sie auch von Herrn Z. als Einschlafstörungen angegeben werden.

Nach den vorliegenden Befundberichten schildert die Klägerin Zuckungen, Bewegungsdrang und Missempfindungen vor allem in den Ruhe- und Nachstunden. Über Beschwerden tagsüber und in Bewegung wird nicht geklagt und die klinisch-neurologische Untersuchung durch Herrn Z. war unauffällig, so dass die Teilhabe durch das RLS nicht unmittelbar beeinträchtigt ist. Die Beeinträchtigung kann sich damit nur mittelbar aus einem gestörten Nachtschlaf mit verminderter Erholung und Tagesmüdigkeit ergeben.

(3) Mangels Vorgaben zur Berücksichtigung der durch ein RLS ausgelösten Beeinträchtigungen in der GdB-Tabelle in Teil B der VMG muss analog auf vergleichbare Bewertungen zurückgegriffen werden, um nach einem abstrakten, generellen Maßstab vergleichbare Teilhabebeeinträchtigungen auch gleich zu bewerten. Für die Beurteilung des RLS hat die Rechtsprechung bisher auf die Grundsätze zur Bewertung verschiedener Erkrankungen zurückgegriffen: eines Schlafapnoe-Syndroms (BayLSG vom 26.09.2019 - L 18 SB 119/16 - juris Rn. 31; LSG Essen vom 09.02.2005 - L 10 SB 167/01, BeckRS 2009, 60077), einer Polyneuropathie (LSG Essen vom 18.06.2002 - L 6 B 142/00, juris Rn. 21); eines Hirnschadens (LSG Berlin-Brandenburg vom 15.01.2015 - L 13 SB 52/11, juris Rn. 16) oder einer Parkinson-Erkrankung (SG Aachen vom 11.02.2008 - S 18 SB 21/07, juris Rn. 37, 39).

Maßgebend für die heranzuziehenden Grundsätze muss sein, welche Beschwerden im konkreten Fall geschildert werden. Geht es wie vorliegend bei der Klägerin allein um Missempfindungen und Bewegungsdrang in Ruhe- und Nachtzeiten, ist wie bei einem Schlafapnoe-Syndrom im Wesentlichen der Schlaf und damit die nächtliche Erholung gestört, was zu erhöhter Tagesmüdigkeit führt. Motorische Ausfälle und sensible Störungen, die zu Einschränkungen bei Feinbewegungen führen würden, sind nicht belegt, so dass eine Analogbewertung zur Polyneuropathie ausscheidet. Die Bewertung von Hirnschäden setzt am Vorliegen von neurologischen oder psychischen Ausfallerscheinungen und evtl. Anfallserkrankungen an. Daran fehlt es hier ebenfalls. Eine Parallelbewertung zum Parkinson-Syndrom käme nur in Betracht, wenn eine dauerhafte und nicht nur phasenweise Störung der Bewegungsabläufe vorliegen würde, die hier ebenfalls nicht belegt ist.

Voraussetzung der Berücksichtigung eines Schlafapnoe-Syndroms ist nach Teil B Nr. 8.7 VMG der Nachweis durch eine Untersuchung im Schlaflabor. Erfordern die festgestellten nächtlichen Atemaussetzer keine kontinuierliche nasale Überdruckbeatmung, ist der Einzel-GdB mit 0-10 zu bewerten. Erst bei Notwendigkeit der kontinuierlichen nasalen Überdruckbeatmung würde sich ein Einzel-GdB von 20 ergeben.

Nach der genannten Leitlinie wird die Indikation der medikamentösen Therapie des RLS durch die Beeinträchtigung der Lebensqualität und der Schlafqualität bestimmt (Seite 6). Nachdem die Lebensqualität im Wesentlichen einer subjektiven Beurteilung unterliegt, die Feststellung des GdB aber nach einem generellen und abstrakten, also objektiven Maßstab erfolgen soll, kommt es für die Bewertung mit einem Einzel-GdB maßgebend auf die objektiv festgestellte Beeinträchtigung der Schlafqualität an. Dies erfordert im Regelfall eine Untersuchung im Schlaflabor, die hier bisher nicht durchgeführt wurde. Diese gilt umso mehr, als eigenen Beschwerdeschilderungen der Klägerin nach Feststellungen des Sachverständigen S.  mit Vorsicht zu begegnen ist, da die Klägerin zur Überzeichnung neigt. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Neigung zur Überzeichnung kulturell bedingt ist, wie der Sachverständige S1 annimmt, oder ob sie aus einem Versorgungsbegehren resultiert, welches die Klägerin gegenüber dem Sachverständigen S1 mit der Äußerung, sie habe gearbeitet und Kinder allein erzogen und die Familie müsse sich nun kümmern, zum Ausdruck gebracht hat.

Objektivierte Befunde zur Schlafqualität und Schlafdauer liegen nicht vor. Auch die Gutachten der Sachverständigen S.  und S1 vom 23.06.2021 und 21.03.2022 enthalten keine Aussagen über eine deutliche Müdigkeit bei den Untersuchungen. Der Sachverständige S.  hat im Gutachten vom 23.06.2021 festgestellt, dass die Klägerin bei der Untersuchung am 20.04.2021 während des gutachtlichen Gesprächs ausreichend belastbar erschien ohne Anzeichen für erhöhte Ermüdbarkeit oder rasche Erschöpfbarkeit. Der Senat konnte sich daher nicht davon überzeugen, dass bei der Klägerin ein RLS mit funktionellen Einschränkungen in einer Ausprägung vorliegt, die eine Bewertung mit einem Einzel-GdB von mindestens 10 rechtfertigen würden.

d) Ein höherer GdB als 30 ist bei der Klägerin zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides vom 02.09.2020 nicht festzustellen.

Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird nach § 152 Abs. 3 SGB IX der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen sind zwar zunächst Einzel-GdB anzugeben; bei der Ermittlung des Gesamt-GdB durch alle Funktionsbeeinträchtigungen dürfen jedoch die einzelnen Werte nicht addiert werden. Auch andere Rechenmethoden sind für die Bildung eines Gesamt-GdB ungeeignet. Maßgebend sind die Auswirkungen der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander (VMG Teil A, Nr. 3 a). Bei der Beurteilung des Gesamt-GdB ist in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten GdB 10, 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden (VMG Teil A Nr. 3 c). Mit einem Einzel-GdB von 10 bewertete Gesundheitsstörungen sind grundsätzlich nicht geeignet, bei der Bildung des Gesamt-GdB erhöhend berücksichtigt zu werden (VMG Teil A Nr. 3 d) ee)).

Auszugehen ist von einem GdB von 30 für die seelische Störung bzw. Schmerzstörung. Der mit einem Einzel-GdB von 10 bewertete Teilverlust der Brust mit Restbeschwerden erhöht den GdB nicht. Ein Ausnahmefall, der auch bei einem Einzel-GdB von 10 eine Erhöhung des Gesamt-GdB bewirken würde, liegt nicht vor.

Der Senat weist darauf hin, dass auch die Bewertung des RLS mit einem Einzel-GdB von 20 im Fall der Klägerin nicht geeignet wäre, zur Feststellung eines höheren Gesamt-GdB als 30 zu gelangen. Nach VMG Teil 1 Nr. 3 d) ee) sind auch leichte Funktionsbeeinträchtigungen mit einem Einzel-GdB von 20 in der Regel nicht geeignet, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Die hier im Raum stehenden Funktionsbeeinträchtigungen aufgrund des RLS wie Schlafstörungen, fehlende nächtliche Erholung und erhöhte Tagesmüdigkeit überlagern sich weitgehend mit den Beeinträchtigungen aufgrund der Schmerzerkrankung und der seelischen Störung. Diese können ihrerseits zu Schlafstörungen, erhöhter Tagesmüdigkeit und Erschöpfung führen, was die Teilnahme an alltäglichen Aktivitäten einschränkt. Es liegt damit eine weitgehende Überlagerung der für die GdB-Bewertung allein maßgeblichen Funktionseinschränkungen vor. Unberücksichtigt bleiben muss, dass die Klägerin eine Überlagerung der Beschwerden, nicht der Funktionseinschränkungen, aufgrund der seelischen Störung und der Schmerzerkrankung einerseits und des RLS andererseits so nicht wahrnimmt.

II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

III. Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.

 

 

Rechtskraft
Aus
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