L 6 VG 1853/21

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
6.
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 12 VG 3564/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 6 VG 1853/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Aus einer Gesundheitsstörung (Knalltrauma) kann nicht auf das Vorliegen eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs i. S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG geschlossen werden.

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 4. Mai 2021 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.



Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Feststellung des Ereignisses vom 7. September 2015 als vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff i. S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz – OEG) sowie die Gewährung einer Beschädigtengrundrente und die Versorgung mit einer Hörhilfe nach dem OEG i. V. m. dem Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz – BVG).

Sie ist 1974 geboren. Eigenen Angaben zufolge wurde sie nach massivem Drogenmissbrauch der leiblichen Mutter zur Adoption freigegeben. Der alkoholkranke Stiefvater sei verstorben, als sie 13 Jahre alt gewesen sei. Ihre Adoptivmutter sei 2001 an Krebs verstorben, sie habe diese fünf Jahre gepflegt. Die Klägerin ist ledig, kinderlos und bezieht seit 2002 eine Rente wegen voller Erwerbminderung. Bei ihr sind ein Grad der Behinderung (GdB) von 90 seit dem 27. Februar 2008 sowie die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Nachteilsausgleiche „G“, „B“ und „aG“ anerkannt. Zudem sind bei ihr eine Rollstuhlpflichtigkeit wie die Pflegestufe I seit April 2002 aufgrund sensomotorischer Störungen an allen vier Extremitäten unklarer Genese bei Tetraspastik mit Gangstörung und Mobilitätseinschränkung festgestellt (vgl. Senatsurteil vom 19. April 2018 – L 6 VG 4448/16).

Am 24. September 2015 beantragte die Klägerin beim Landratsamt (LRA) Leistungen nach dem OEG aufgrund einer vorsätzlichen Körperverletzung am 7. September 2015. Zur Begründung führte sie aus, in der Straßenbahn habe sie einen Fahrgast direkt um Hilfe gebeten, dieser habe aber nur mit den Schultern gezuckt und sich umgesetzt. Irgendjemand müsse dann aber den Straßenbahnfahrer informiert haben, der den Mann dann aus der Straßenbahn verwiesen, aber nicht die Polizei eingeschaltet habe. Am Abend habe sie sich bei ihrem Hausarzt G1 und am Folgetag bereits bei einem Hals-Nasen-Ohren- (HNO-)Arzt in Behandlung begeben. Damals sei ihr noch nicht klar gewesen, dass Knallkörper gezündet worden seien, deshalb habe sie von Schüssen gesprochen. Am 9. September 2015 habe sie bei der Anzeigenerstattung erfahren, dass es sich um Knallkörper gehandelt habe. Durch das Ereignis vom 7. September 2015 habe sich die bei ihr bestehende Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), wegen der sie bereits vor Jahren einen Antrag nach dem OEG gestellt habe, verschlimmert.

Beigefügt waren dem Antrag der Zeugenaufruf des Polizeipräsidiums F1 vom 15. September 2015, wonach am 7. September 2015 in der Zeit von 11:50 bis 12:09 Uhr einer 41-jährigen Rollstuhlfahrerin beim Einsteigen in die Straßenbahn ein ca. 170 cm großer, zwischen 35 und 45 Jahren alter Mann mit längeren schwarzen Haaren aufgefallen sei; insgesamt sei er ungepflegt gewesen. Die Fahrgäste in der Straßenbahn seien von diesem wirr angesprochen worden und er sei an jeder Haltestelle aus- und wieder eingestiegen. Die Geschädigte sei mit ihrem Rollstuhl im hinteren Wagenabteil auf Höhe der vorletzten Tür gestanden. Als die Straßenbahn in den Bereich der H1 Straße gefahren sei, habe es plötzlich mehrfach geknallt. Die Geschädigte habe an Schüsse gedacht, wie sich später herausgestellt habe, seien von dem Mann Knallkörper gezündet worden. Die anderen Fahrgäste hätten sich dem Geschehen entziehen können, der Geschädigten sei dies nicht möglich gewesen. An der O1 habe der Straßenbahnfahrer den Mann aus der Straßenbahn verwiesen.

Dem Bericht der H2 über die Vorstellungen der Klägerin am 8. und am 15. September 2015 ließen sich die Diagnosen Knalltrauma und hochtonbetonte Innenohrschwerhörigkeit beidseits links mehr als rechts entnehmen. Anamnestisch seien am 7. September 2015 in der Straßenbahn mehrere Schüsse mit Platzpatronen abgefeuert worden. Seitdem bestehe eine Hörminderung und eine Otalgie rechts, zudem liege ein Zustand nach (Z. n.) Commotio und Hörsturz links mit Infusionstherapie vor vier Jahren vor. Wegen der Verschlechterung der Hörschwelle im Vergleich zum Vorbefund von August 2015 erfolge ein Therapieversuch mit Kortison oral nach dem Stennert-Schema, bei ausbleibender Besserung erneut eine hochdosierte dreitägige Kortisontherapie.

In einem weiteren Formantrag auf Leistungen nach dem OEG bereits vom 12. September 2015 machte die Klägerin als Folgen des Ereignisses vom 7. September 2015 neben der Verschlechterung der bereits bestehenden PTBS einen Hörsturz, einen Tinnitus und ein Knalltrauma geltend.

Zum Ablauf des Ereignisses vom 7. September 2015 führte sie in dem vorgenannten Antrag aus, der Täter habe sie bereits an der Johanneskirche verbal attackiert. Er sei an den Haltestellen immer wieder ein- und ausgestiegen, habe andere Fahrgäste angepöbelt und dann am Siegesdenkmal Knallkörper gezündet. Sie habe die anderen Fahrgäste gebeten, den Fahrer zu informieren, diese hätten sich aber nur umgesetzt. An der Haltestelle O1 müsse der Fahrer Kenntnis erlangt haben, denn dort habe er den Täter aus der Straßenbahn verwiesen. Personalien seien aber nicht festgestellt worden. Ihre Gesamtsituation, die Belastung durch ein seit Jahren laufendes OEG-Verfahren wegen Missbrauchs, habe sich durch das Ereignis vom 7. September 2015 erheblich verschlechtert. Ein geplanter Erholungsaufenthalt zum Gewinnen von Abstand sei jetzt aus finanziellen und gesundheitlichen Gründen – starke Suizidgedanken – nicht mehr möglich. Der finanzielle Schaden ergebe sich aus 652,50 € für den geplanten Erholungsaufenthalt, 300 € für die Infusionstherapie und weiteren Aufwendungen für die Hilfsmittelversorgung.

Das LRA hat die staatsanwaltschaftliche Ermittlungsakte (590 UJs 68017/15) beigezogen. Das Ermittlungsverfahren wurde wegen fahrlässiger Körperverletzung geführt und nach § 170 Abs. 2 Strafprozessordnung (StPO) eingestellt, da ein Täter nicht habe festgestellt werden können.

Zum Sachverhalt ergab sich aus der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakte, dass ein bislang unbekannter Mann in der Straßenbahn L1 im Bereich der H3 mehrere pyrotechnische Gegenstände gezündet habe. Die Klägerin, die in unmittelbarer Nähe der explodierenden Knallkörper in ihrem Rollstuhl gesessen sei, habe ein Knalltrauma erlitten.

Laut ihrer Geschädigtenvernehmung sei der Klägerin bereits beim Einsteigen in die Straßenbahn ein Mann aufgefallen, der sie blöd angemacht habe. Was dieser gesagt habe, habe sie nicht verstanden, nach seiner Mimik sei es aber nichts Freundliches gewesen. Er sei an jeder Haltestelle aus- und wieder eingestiegen. Auch andere Fahrgäste seien von ihm angesprochen worden, sie hätten sich von ihm weggesetzt. Sie selbst sei mit ihrem Rollstuhl an der hinteren Tür gestanden. Als die Straßenbahn die H3 erreicht habe, habe es plötzlich laut geknallt. Gesundheitlich sei sie stark eingeschränkt und habe deshalb nicht sehen können, was passiert sei. Es habe mehrfach geknallt. Andere Fahrgäste hätten sich umgesetzt und dann habe man erkennen können, dass das Knallen von dem besagten Mann ausgegangen sei. Ein anderer Fahrgast sei von ihr gebeten worden, den Fahrer zu verständigen, dieser habe aber nur mit den Schultern gezuckt. Ihr selbst sei das Verlassen ihres Platzes aufgrund ihres Rollstuhls nicht möglich gewesen. An der O1 sei der Fahrer nach hinten gekommen und habe den Täter der Straßenbahn verwiesen. Schon nach einigen Knallern habe sie Schmerzen im Ohr bemerkt. Nachdem der Täter der Bahn verwiesen worden sei, habe er an der Haltestelle weitere Knaller gezündet. Sie erinnere sich genau, dass eine Frau gesagt habe, es habe sie an der Schulter erwischt. Aufgrund der Schmerzen im Ohr habe sie am selben Tag ihren Hausarzt aufgesucht, der sie zum HNO-Arzt überwiesen habe. Dort seien ein Tinnitus und ein Knalltrauma diagnostiziert worden. Vom HNO-Arzt sei, wenn keine Besserung eintrete, eine stationäre Behandlung für erforderlich gehalten und befürchtet worden, dass die Versorgung mit einem Hörgerät notwendig werden könnte.

Das LRA lehnte durch Bescheid vom 16. Januar 2017 die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG ab. Die Klägerin sei nicht Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden. Nach Auswertung der beigezogenen staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten sei eine vorsätzliche Angriffshandlung nicht nachgewiesen. Es lasse sich nicht feststellen, wie sich der Vorfall am 7. September 2015 genau zugetragen habe. Weitere Zeugen stünden nicht zur Verfügung, auch eine entsprechende Presseveröffentlichung der Polizei sei ergebnislos geblieben. Demnach sei nicht nachgewiesen, dass das Zünden der pyrotechnischen Gegenstände darauf ausgerichtet gewesen sei, die Klägerin oder andere Fahrgäste körperlich zu schädigen. Die Staatsanwaltschaft habe deshalb auch nur wegen fahrlässiger Körperverletzung ermittelt; das Ermittlungsverfahren sei nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden.

Mit dem hiergegen erhobenen Widerspruch machte die Klägerin geltend, sie habe nicht eindeutig zuordnen können, ob es sich um Knallkörper gehandelt habe; sie habe nur die lauten Knallgeräusche und den Geruch wahrgenommen. Wie hätte sie auch von den Knallkörpern Kenntnis erlangen sollen, wenn sie mit ihrem Rollstuhl nicht hingekommen sei. Neben ihr gebe es noch eine weitere Geschädigte, die Mutter der G2, wohnhaft in der G3, G4. Diese sei beim Polizeiposten in Z1 gewesen, dort habe man sie an die Polizei in der H3 verwiesen. Nachdem sie kurze Zeit später Geburtstag gehabt habe, habe sie nicht nochmals zur Polizei in der H3 gehen wollen; leider habe sie auch den Zeugenaufruf der Polizei nicht gesehen. G2 habe Bilder von der Jacke ihrer Mutter. Auch diese erinnere sich noch an die Worte des Täters und daran, dass er der Straßenbahn Knallkörper hinterhergeworfen habe.

Auf die Anfrage des LRA (Schreiben vom 20. Januar 2017) antwortete G2 nicht.

Der Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 6. April 2017 zurück. Nach nochmaliger Prüfung entspreche der angefochtene Bescheid der gegebenen Sach- und Rechtslage. Das Verfahren gegen den unbekannten Täter wegen fahrlässiger Körperverletzung sei eingestellt worden, weil der Täter nicht habe ermittelt werden können. Eine Antwort der angefragten Zeugin sei nicht eingegangen. Demnach sei eine Vorsatztat zu Lasten der Klägerin nicht nachgewiesen. Laut der Widerspruchsbegründung habe diese laute Geräusche und einen Geruch wahrgenommen, habe diese aber nicht zuordnen können, weil sie mit ihrem Rollstuhl nicht dorthin gekommen sei. Zudem seien von ihr die Geräusche zunächst als Schüsse gedeutet worden. Hieraus ergebe sich, dass die Klägerin relativ weit vom Geschehen entfernt gewesen sein müsse oder dass weitere Personen zwischen ihr und dem Täter gestanden hätten, so dass sie keinen Blickkontakt gehabt habe. Dies schließe ohne weitere Ermittlungen einen vorsätzlichen Angriff auf die Klägerin aus.

Mit der am 10. April 2017 beim Sozialgericht Freiburg (SG) erhobenen Klage (S 12 VG 1403/17) hat die Klägerin die Feststellung, dass das Ereignis vom 7. September 2015 ein schädigendes Ereignis i. S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG war, die Gewährung einer Beschädigtengrundrente und die Versorgung mit einem Hörgerät verfolgt.

Zur Klagebegründung hat sie ausgeführt, die Mutter der G2 sei durch den Angriff des Täters an der Schulter verletzt worden, es hätte sich ein Hämatom gebildet, auch sei ihre Jacke beschädigt worden. Als der Täter die Straßenbahn habe verlassen müssen, habe er weitere Schüsse in Richtung der Straßenbahn abgegeben. Die Mutter der G2 meine, eine Soft-Air-Waffe erkannt zu haben. Da sich der Angriff in der Straßenbahn ereignet habe, habe sie entgegen den Ausführungen im Widerspruchsbescheid nicht relativ weit weg vom Täter sein können. Aufgrund der Versteifung ihrer Halswirbelsäule (HWS) sei es ihr nicht möglich gewesen, direkten Blickkontakt mit dem Täter aufzunehmen. Aus dem der Klagebegründung beigefügten Bericht der Klinik für Neurochirurgie, Universitätsklinik F1 hat sich u. a. eine Operation der Klägerin am 9. Februar 2015 ergeben, bei der eine transartikuläre HWK1/HWK2-Verschraubung erfolgt sei.

Der im Weiteren zur Vorlage gekommene Entlassbericht des O2 Klinikum über die stationäre Behandlung der Klägerin vom 4. bis zum 7. April 2017 hat u. a. als Diagnosen eine chronische Schmerzkrankheit mit somatischen und psychischen Faktoren, ein CRPS am rechten Fuß, aktuell in Remission, einen erworbener Spitzfuß rechts, Gonalgien rechts, einen dauerhaften Rollstuhlgebrauch, Schmerzen in den Extremitäten, muskuläre Dysbalancen mit Ventralisation der Schultern, Myalgien, einen Z. n. Spondylodese C1/2, einen Z. n. BSV-OP C7/Th1, Kreuzschmerzen, einen Z. n. traumatisch bedingter Densdislokation, eine Spondylarthrose der LWS, eine     mulitsegmentale Osteochondrose der Wirbelsäule, einen Z. n. multiplen Unfällen und Stürzen, Probleme mit Bezug auf Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung, einen GdB von 100, die Merkzeichen „G“, „B“ und „aG“ sowie eine PTBS, DD eine Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung aufgeführt.

Im Weiteren ist zur Akte das Schreiben der G5 vom 17. September 2017 gelangt, woraus sich ergeben hat, dass ihre Mutter, J1, hinsichtlich des Ereignis vom 7. September 2015 beim Polizeiposten in der H3 eine Anzeige gemacht habe. Sie sei von einer Patrone am Arm getroffen worden. Fotos von der Jacke mit Schmauchspuren und dem Hämatom am Arm habe sie angefertigt. 

Mit Schreiben vom 16. November 2018 hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin vorgetragen, am 7. September 2015 habe die Klägerin aufgrund von in der Straßenbahn gezündeten Knallkörpern ein Knalltrauma erlitten, unter dem sie noch heute leide. Dass es sich bei dem Ereignis vom 7. September 2015 um einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff gehandelt habe, ergebe sich aus der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) (Urteil vom 28. Mai 1997 – 9 RVg 1/95).

Der Beklagte hat eingewandt, die Klägerin könne sich auf die genannte Rechtsprechung des BSG nicht stützen. In dem vom BSG entschiedenen Fall sei ein Feuerwerkskörper in unmittelbarer Nähe des Opfers gezündet worden. Nach dem bisherigen Vorbringen der Klägerin habe sie aber keinen Blickkontakt zum Täter gehabt, weil sie relativ weit entfernt gewesen sei. Damit fehle es an einer unmittelbaren Nähe zu den gezündeten Knallkörpern. Im Übrigen sei bei der Klägerin nach dem Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) bereits vor dem Ereignis am 7. September 2015 eine Schwerhörigkeit beidseits festgestellt worden.

Polizeihauptkommissar (PHK) K1, Polizeipräsidium F1, hat telefonisch mitgeteilt (Telefonvermerk vom 18. Januar 2019), J1 habe von einer Waffe mit Kügelchen berichtet. Nach seiner Einschätzung sei eine solche Soft-Air-Waffe nicht besonders laut, ihre Lautstärke entspreche jedenfalls nicht der eines Knallkörpers. Das Polizeipräsidium habe Tests mit beschlagnahmten Soft-Air-Waffen durchgeführt, um deren Schusskraft und das daraus folgende Verletzungspotential zu bestimmen. Hierbei seien Schüsse auf Kartons abgefeuert worden. K1 habe bezweifelt, ob ein Schuss mit einer Soft-Air-Waffe in einer fahrenden Straßenbahn mit nicht unerheblichen Lärm allein aufgrund der Fahrt überhaupt hörbar sei. Dies sei allenfalls dann möglich, wenn der Schuss in unmittelbarer Nähe abgegeben werde.

Aus dem von K1 vorgelegten Protokoll über die Zeugenvernehmung der G5 am 16. Juni 2016 hat sich ergeben, dass nicht sie, sondern ihre Mutter am 7. September 2015 in der Straßenbahn gewesen sei. Bei dem Vorfall sei ihre Mutter leicht am linken Unterarm verletzt worden; sie habe einen Bluterguss erlitten. Darüber hinaus sei ihre Jacke, eine leichte Leinenjacke, beschädigt worden.

Dem ebenso zur Vorlage gekommen Protokoll über die Geschädigtenvernehmung der J1 am 16. Juni 2016 hat sich entnehmen lassen, dass diese, als sie sich in der Straßenbahn nach dem Einsteigen habe hinsetzten wollen, bemerkt habe, dass sie von etwas am Ellenbogen ihres rechten Arms getroffen worden sei. Sie habe am Ende des Wagens einen Mann stehen sehen, der eine Waffe in der Hand gehalten habe; der Mann sei etwa drei bis vier Meter von ihr entfernt gewesen. Sie habe keine Angst gehabt, weil sie habe erkennen können, dass der Mann nicht ganz richtig im Kopf gewesen sei. Dann habe sie bemerkt, dass vor ihr auf dem Boden einige Kügelchen gelegen hätten. Unmittelbar danach sei der Straßenbahnfahrer gekommen und habe den Mann aufgefordert, die Straßenbahn zu verlassen. Dem sei der Mann nachgekommen, habe dann aber der Straßenbahn noch zweimal hinterhergeschossen. Erst zu Hause habe sie ein kleines Loch in ihrer Jacke und im Inneren der Jacke eine Art Schmauchspur sowie eine kleine Verletzung am Ellenbogen bemerkt. Ihre Tochter habe Fotos gemacht und sei zur Polizei gegangen. Sie habe kein Interesse an der Strafverfolgung, da der Schaden an der Jacke nicht groß und die kleine Verletzung am Arm am Folgetag nicht mehr sichtbar gewesen sei. Der Schuss aus der Soft-Air-Waffe sei ungefähr so laut gewesen, wie wenn Kinder mit Spielzeugpistolen schießen.

Von einer schriftlichen Vernehmung des Straßenbahnfahrers ist aufgrund der Dürftigkeit seiner Angaben abgesehen worden.

Das SG hat im Weiteren die behandelnden Ärzte der Klägerin schriftlich als sachverständige Zeugen gehört:

G1 hat angegeben, die Klägerin am Tag des Vorfalls in der Straßenbahn untersucht zu haben. Er habe ein Knalltrauma mit Innenohrschwerhörigkeit wie einen Tinnitus diagnostiziert und die Klägerin an eine HNO-Praxis überwiesen. Dort sei sie am nächsten Tag behandelt worden. Aufgrund ihrer Verletzungen habe sie einen geplanten Urlaub stornieren müssen, um sich entsprechend behandeln zu lassen. Infolge des Knalltraumas sei das Hörvermögen der Klägerin herabgesetzt, was zu einem sozialen Rückzug geführt habe. Auch die PTBS, deren Ursache ein mehrfacher und lang andauernden sexueller und körperlicher Missbrauch sei, habe sich infolge des Ereignisses vom 7. September 2015 weiter verschlechtert. Die Klägerin könne sich seit dem Vorfall kein Feuerwerk, auch nicht in geschlossenen Räumen, ansehen und leide unter Ängsten. Eigentlich müsste eine Hörgeräteversorgung erfolgen, bei den entsprechenden Testungen beim Hörgeräteakustiker hätten aber die Geräte, die von der Krankenkasse übernommen würden, nur zu einer mäßigen Besserung des Hörvermögens geführt. Andere Geräte seien mit erheblichen Zuzahlungen verbunden. Wegen der Verschlechterung des Hörvermögens habe die Klägerin auch nicht mehr als Nachhilfelehrerin oder ehrenamtlich beratend am Telefon tätig sein können. Es liege mindestens ein Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 30 vor.

Aus der sachverständigen Zeugenaussage der H2 haben sich Behandlungen der Klägerin am 8. und 15. September 2015 sowie am 24. November 2015 ergeben. Die Klägerin leide unter einer Innenohrschwerhörigkeit beidseits und einem Tinnitus aurium. Initial seien eine Hörminderung rechts und Schmerzen im rechten Ohr angegeben worden, deren Ursache ein Knalltrauma gewesen sein könnte. Im Verlauf sei es zu einer minimalen Besserung der Hörschwelle rechts im Tieftonbereich gekommen, der Tinnitus persistiere. Es liege aber auch wohl eine vorbestehende Schwerhörigkeit beidseits nach einer Contusio labyrinthi und mehreren Unfällen vor. Auch initial sei schon eine beidseitige Schwerhörigkeit festgestellt worden, die zumindest links, da sie den Mitteltonbereich bis 2 kHz betreffe, nicht allein durch ein Knalltrauma verursacht sein könne. Ob sich die Hochtonschwerhörigkeit rechts auf ein Knalltrauma oder eine Contusio labyrinthi zurückführen lasse, habe nicht abschließend festgestellt werden können, da keine Vor-Hörtests vorgelegen hätten. Der Tinnitus aurium sei mit einem GdS von bis zu 10, die Innenohrschwerhörigkeit rechts mit einem GdS von 15 und links mit einem GdS von 30 zu bewerten. Ergänzend hat H2 das Sprach- und Tonaudiogramm vom 24. November 2015 vorgelegt.  

Der Beklagte hat auf die widersprüchlichen Angaben der Klägerin zum Ablauf des Ereignisses am 7. September 2015 hingewiesen. Er habe bereits ausgeführt, dass bei der Klägerin schon vor dem 7. September 2015 eine beidseitige Schwerhörigkeit nach dem SGB IX mit einem Einzel-GdB von 30 bewertet worden sei (Bescheid vom 21. Mai 2015). Nach der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 20. Januar 2016 sei aufgrund des aktuellen Sprachaudiogramms der entsprechende Einzel-GdB sogar auf 20 reduziert worden.
Ergänzend angehört hat G1 als sachverständiger Zeuge angegeben, eine Schwerhörigkeit der Klägerin vor dem 7. September 2015 sei ihm nicht bekannt. Eine Verbesserung des Hörvermögens könne er nicht bestätigen, ihm lägen aber nach 2015 auch keine Hörtests mehr vor. Der sachverständigen Zeugenaussage waren die Ton- und Sprachaudiogramme aus den Jahren 1999 und 2011, die bereits aktenkundigen Berichte der H2 und eine Bestätigung der Beratung und Weiterbildung in Südbaden vom 25. März 2019 beigefügt. Demnach sei die Klägerin von November 2011 bis August 2014 als freiberufliche Nachhilfelehrerin tätig gewesen. Während dieser Zeit seien keine Verständigungsprobleme in Form von Hörschwierigkeiten aufgetreten.

Mit Verfügung vom 9. April 2019 hat das SG ausgeführt, dass sich aus dem von G1 vorgelegten Tonaudiogramm bereits vor dem Ereignis am 7. September 2015 ein Hörverlust von rechts 14 % und links 23 % ergebe. Im Vergleich mit dem Tonaudiogramm direkt nach dem Ereignis lasse sich zwar eine Verschlechterung feststellen (rechts 31 % und links 36 %), allerdings sei das erstgenannte Tonaudiogramm vier Jahre vor dem Ereignis erstellt worden und die Entwicklung danach auch weiterhin unklar. Es sei deshalb beabsichtigt, die SGB IX-Verwaltungsakte beizuziehen, die angesichts der Herabsetzung des Einzel-GdB für die Schwerhörigkeit weitere Tonaudiogramme beinhalten dürfte. Da diese Akte aber derzeit vom Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) benötigt werde, werde das Ruhen des Verfahrens angeregt.

Nach übereinstimmenden Antrag der Beteiligten hat das SG durch Beschluss vom 25. April 2019 das Ruhen des Verfahrens angeordnet.  

Die Klägerin hat nach Abschluss des Verfahrens vor dem LSG das Verfahren am 2. Oktober 2020 wieder angerufen (neues Aktenzeichen: S 12 VG 3564/20).

Das SG hat die SGB IX-Verwaltungsakte beigezogen.

Mit Verfügung vom 10. Dezember 2020 hat es die Beteiligten darauf hingewiesen, dass nach Durchsicht der SGB IX-Verwaltungsakte und nach vorläufiger Prüfung der Sach- und Rechtslage die Klage nur wenig Aussicht auf Erfolg haben dürfte. Ein Einzel-GdB von 30 für die Schwerhörigkeit sei schon in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 6. Februar 2001, beruhend auf dem von P1 am 23. Januar 2001 erstellten Sprach- und Tonaudiogramm, festgestellt worden. Dieser habe eine beidseitige Schwerhörigkeit, die schon seit vielen Jahren bestehe, und gelegentlich auftretende Pfeifgeräusche im Bereich beider Ohren beschrieben. Vergleiche man nun das Sprachaudiogramm von 2001 und das Sprachaudiogramm vom 24. November 2015 dürfte sich keine Verschlechterung ergeben; im Gegenteil sogar eine (leichte) Verbesserung erkennbar sein (so auch die Stellungnahme des versorgungsärztlichen Dienstes vom 20. Januar 2016, welche auf dieses Ton-/Sprachaudiogramm vom 24. November 2015 zurückgehen dürfte). Selbst wenn damit ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff i. S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG vorliegen sollte – was ebenfalls streitig sei – dürfte die Klage keine Aussicht auf Erfolg haben. Denn ein weiterer Hörschaden dürfte nicht verursacht worden sein, da zuvor sowohl eine ähnlich schwere Hörminderung als auch ein Tinnitus (Pfeifgeräusche) vorgelegen haben dürften.

Nachdem sich die Klägerin zur vorgenannten Verfügung nicht geäußert hat, hat das SG nach Anhörung der Beteiligten die Klage durch Gerichtsbescheid vom 4. Mai 2021 abgewiesen. Im Vollbeweis sei nicht nachgewiesen, dass das Ereignis vom 7. September 2015 einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff i. S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG dargestellt habe. Nach dem widersprüchlichen Vorbringen der Klägerin und ihren im Widerspruch zur Aussage der Geschädigten J1 stehenden Angaben sei nicht nachvollziehbar, was sich überhaupt am 7. September 2015 in der Straßenbahn ereignet habe. Zweifel an der Lautstärke des Knalls bestünden insbesondere auch deshalb, weil die Fahrgäste, die dem Täter näher als die Klägerin gestanden hätten, keine Schädigung erlitten hätten. Auch schienen die anderen Fahrgäste die Situation nicht als bedrohlich empfunden zu haben. Denn nach den Angaben der Klägerin habe der Fahrgast, den sie angesprochen habe, nur mit den Schultern gezuckt. Die Geschädigte J1 habe nach ihrer Aussage keine Angst gehabt. Demnach sei auch ein Angriff in feindseliger Willensrichtung nicht zu erkennen. Der vorliegende Sachverhalt sei nicht mit demjenigen, der der von der Klägerin genannten Entscheidung des BSG zugrunde gelegen habe, vergleichbar. In diesem Fall sei ein Feuerwerkskörper in unmittelbarer Nähe des Geschädigten explodiert. Widersprüchlich seien die Angaben der Klägerin im Verfahrensverlauf zudem dahingehend, ob es sich um einen Knallkörper oder Schüsse gehandelt habe. Hingegen habe die Geschädigte J1 eindeutig ausgesagt, sie habe am Ende des Straßenbahnwagens einen Mann mit einer Pistole und weiße Kügelchen auf dem Boden gesehen. Jedenfalls seien aber kausal auf das Ereignis vom 7. September 2015 zurückzuführende Schädigungsfolgen ausgeschlossen, da sich die bei der Klägerin schon vor dem streitigen Vorfall vorliegenden Einschränkungen des Hörvermögens danach gebessert hätten. Deshalb habe auch kein Anspruch auf Beschädigtengrundrente oder auf Versorgung mit einer Hörhilfe bestanden.

Am 30. Mai 2021 hat die Kläger gegen den ihrem Prozessbevollmächtigen am 5. Mai 2021 zugestellten Gerichtsbescheid des SG Berufung beim LSG eingelegt und die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) beantragt.

Zur Berufungsbegründung führt sie im Wesentlichen aus, dass sie aufgrund ihrer eingeschränkten Beweglichkeit der HWS (transartikuläre Verschraubung C1/C2) nicht ihren Kopf in Richtung des Geschehens am 7. September 2015 habe drehen können. Unter einem Tinnitus habe sie zuvor nicht gelitten. Aufgrund des Ereignisses vom 7. September 2015 sei eine HNO-ärztliche Behandlung erforderlich gewesen. Zuletzt sei eine solche nach einem Unfall im Sommer 2011 erfolgt. Gegen eine wesentliche Beeinträchtigung ihres Hörvermögens vor dem streitgegenständlichen Ereignis spreche, dass es ihr möglich gewesen sei, eine Tätigkeit als Nachhilfelehrerin auszuüben und es hierbei nachweislich zu keinen Hörproblemen gekommen sei.
 
Die Klägerin beantragt – sinngemäß –,

den Gerichtsbescheid des Sozialgericht Freiburg vom 4. Mai 2021 sowie den Bescheid des Beklagten vom 16. Januar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. April 2017 aufzuheben und festzustellen, dass das Ereignis vom 7. September 2015 ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG war, sowie den Beklagten zu verurteilen, ihr ab dem 1. September 2015 Beschädigtengrundrente und Hilfsmittelversorgung in Form einer Hörhilfe zu gewähren.   

Der Beklagte beantragt,

            die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Er verweist auf den erstinstanzlichen Gerichtsbescheid.

Die Klägerin hat den Beschluss des Landgerichts Freiburg über die Gewährung von PKH im Verfahren 2 O 84/21 vorgelegt.

Auf die Berufungserwiderung des Beklagten hat sie bekräftigt, dass es sich bei dem Ereignis am 7. September 2015 um einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff i. S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG gehandelt und sie hierdurch eine Hörschädigung erlitten habe. Sie hat nochmals auf die bereits im erstinstanzlichen Verfahren genannte Rechtsprechung des BSG und die Bestätigung der Beratung und Weiterbildung in Südbaden vom 25. März 2019 hingewiesen. H2 habe einen GdS von mindestens 25 bestätigt. Ergänzend hat die Klägerin Auszüge aus der erstinstanzlichen Gerichtsakte zur Vorlage gebracht.

Der Senat hat durch Beschluss vom 1. August 2023 den Antrag der Klägerin auf Bewilligung von PKH wegen der mangelnden Erfolgsaussichten des Berufungsverfahrens abgelehnt.


Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Gerichtsakten Bezug genommen.




Entscheidungsgründe

Der Senat konnte verhandeln und entscheiden, obwohl die Klägerin zum Termin zur mündlichen Verhandlung nicht erschienen war, nachdem mit der ordnungsgemäß zugestellten Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist (§ 110 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz <SGG>).

Die form- und fristgerecht (§ 151 SGG) eingelegte Berufung der Klägerin ist statthaft (§§ 143, 144 SGG) und auch im Übrigen zulässig, aber unbegründet.

Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist der Gerichtsbescheid des SG vom 4. Mai 2021, durch den das SG die kombinierte Anfechtungs-, Feststellungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 und 4, § 55 Abs. 1 SGG) der Klägerin abgewiesen hat. Die Anfechtungsklage hat auf die Aufhebung des Bescheides des Beklagten vom 16. Januar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. April 2017 (§ 95 SGG), die Feststellungsklage auf die Feststellung, dass das Ereignis vom 7. September 2015 ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff i. S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG war, und die Leistungsklage auf die Verurteilung des Beklagten zur Gewährung einer Beschädigtengrundrente ab dem 1. September 2015 sowie einer Hilfsmittelversorgung in Form einer Hörhilfe gezielt.   
 
Maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist bei den vorliegenden Klagearten grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in den Tatsacheninstanzen (vgl. BSG, Urteil vom 2. September 2009 – B 6 KA 34/08 –, juris, Rz. 26; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 54 Rz. 34, § 55 Rz. 13).

Die Unbegründetheit der Berufung folgt aus der Unbegründetheit der Klage.

Hinsichtlich des verfolgten Feststellungsbegehrens, dass das Ereignis vom 7. September 2015 ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff i. S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG war, folgt dies bereits daraus, dass kein Anspruch auf eine solche Feststellung besteht.

Nach § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG kann nämlich nur die Feststellung begehrt werden, ob eine Gesundheitsstörung oder der Tod die Folge eines Arbeitsunfalls, einer Berufskrankheit oder einer Schädigung im Sinne des BVG ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat. Diese Vorschrift ist ein Sonderfall der grundsätzlich unzulässigen Elementenfeststellungsklage. Sie dient der Klärung der haftungsbegründenden Kausalität, d. h. ob zwischen einer Schädigung i. S. des BVG bzw. des sozialen Entschädigungsrechts und dem Eintritt eines Primär- oder Erstschadens ein hinreichender Kausal- bzw. Zurechnungszusammenhang besteht. Denn die Feststellung von Schädigungsfolgen kann als eigenständiger begünstigender Verwaltungsakt Grundlage für weitere Ansprüche oder Rechtsfolgen (z. B. Heilbehandlung) sein. Eine isolierte Feststellungsklage kommt auf der Grundlage des § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG aber dann nicht in Betracht, wenn mit ihr nur die selbständige Feststellung des Vorliegens anderer als in der Vorschrift genannter Tatbestandselemente des geltend gemachten Anspruchs begehrt wird. Die Feststellung, ob ein bestimmtes Ereignis ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff i. S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG ist, kommt nur im Zusammenhang mit der Feststellung bestimmter Schädigungsfolgen in Betracht. Liegen solche erkennbar nicht vor oder werden sie nicht geltend gemacht, kann die isolierte Feststellungsklage nur der Beantwortung einer abstrakten Rechtsfrage dienen. Selbst wenn diese positiv zu beantworten wäre, könnte sie als bloßes Teilelement der Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG ohne Schädigungsfolgen keinerlei Ansprüche auslösen. Denn ein Vorgang, der keinen Körperschaden ausgelöst hat, führt nicht zur „Haftung“ des Staates (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 9 V 1/13 R –, juris, Rz. 13 f. m. w. N.; vgl. auch Senatsurteil vom 18. November 2021 – L 6 VG 815/20 –, juris, Rz. 53).

Ebenso scheidet eine Feststellungsklage gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG aus. Hiernach kann die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses begehrt werden. Ein derartiges öffentlich-rechtliches Rechtsverhältnis entsteht aber nicht bereits durch die bloße Feststellung der Vorfrage zu § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG, ob ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff in diesem Sinne vorgelegen hat. Zwar hat das BSG eine „isolierte“ Feststellungsklage nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG für zulässig erachtet, wenn es um die Feststellung des Eintritts des Versicherungsfalls in Fällen geht, in denen vom Versicherungsträger bereits das Vorliegen eines Arbeitsunfalls (§ 8 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch <SGB VII>) oder einer Berufskrankheit (§ 9 SGB VII) bestritten wird. Eine Übertragung dieser Rechtsprechung auf die hier vorliegende rechtliche Konstellation im sozialen Entschädigungsrecht scheidet aus den oben genannten Gründen aus; die bloße Feststellung des schädigenden Vorgangs i. S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG begründet noch kein Leistungs- oder sonstiges Rechtsverhältnis nach dem BVG bzw. dem sozialem Entschädigungsrecht (so BSG, a. a. O., Rz. 14 m. w. N.; vgl. auch Senatsurteil vom 18. November 2021 – L 6 VG 815/20 –, juris, Rz. 53).

Soweit die Klägerin die Gewährung einer Beschädigtengrundrente ab dem 1. September 2015 und die Versorgung mit einer Hörhilfe verfolgt, ist die Klage ebenso unbegründet. Der eine Beschädigtenversorgung aufgrund des Ereignisses vom 7. September 2015 ablehnende Bescheid des Beklagten vom 16. Januar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. April 2017 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 54 Abs. 1 Satz 2 SGG). Demnach hat das SG auch zu Recht die hierauf gerichtete Klage durch Gerichtsbescheid vom 4. Mai 2021 abgewiesen. 

Der Senat hat sich nach Auswertung der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakte (590 UJs 68017/15), den klägerischen Angaben im Verwaltungs-, im erstinstanzlichen und im Berufungsverfahren sowie der im erstinstanzlichen Verfahren zur Vorlage gekommenen Geschädigtenvernehmung der J1 nicht davon überzeugen können, dass die Klägerin am 7. September 2015 Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs i. S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG geworden ist, womit kein Anspruch auf Beschädigtengrundrente oder auf Versorgung mit einer Hörhilfe besteht. Ob sie aufgrund des Ereignisses vom 7. September 2015 gesundheitliche Schäden erlitten hat, war demnach nicht entscheidungserheblich.


Rechtsgrundlage des von der Klägerin begehrten Anspruchs auf Beschädigtengrundrente ist § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG i. V. m. § 9 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 1, § 30, § 31 BVG. Danach erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, unter anderem auch Beschädigtengrundrente nach § 31 Abs. 1 BVG, wer im Geltungsbereich des OEG oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Die Versorgung umfasst nach dem insoweit entsprechend anwendbaren § 9 Abs. 1 Nr. 3 BVG die Beschädigtenrente (§§ 29 ff. BVG).

Beschädigte erhalten gemäß § 31 Abs. 1 BVG eine monatliche Grundrente ab einem GdS von 30. Liegt der GdS unter 25 besteht kein Anspruch auf eine Rentenentschädigung (vgl. Senatsurteil vom 18. Dezember 2014 – L 6 VS 413/13 –, juris, Rz. 42; Dau in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 1. Aufl. 2012, § 31 BVG, Rz. 2). Nach § 30 Abs. 1 Satz 1 BVG ist der GdS – bis zum Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des BVG und anderer Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts vom 13. Dezember 2007 (BGBl I S. 2904) am 21. Dezember 2007 als Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) bezeichnet – nach den allgemeinen Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen, welche durch die als Schädigungsfolge anerkannten körperlichen, geistigen oder seelischen Gesundheitsstörungen bedingt sind, in allen Lebensbereichen zu beurteilen. Der GdS ist nach Zehnergraden von 10 bis 100 zu bemessen; ein bis zu fünf Grad geringerer GdS wird vom höheren Zehnergrad mit umfasst (§ 30 Abs. 1 Satz 2 BVG).

Für einen Anspruch auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG i. V. m. dem BVG sind folgende rechtlichen Grundsätze maßgebend (vgl. BSG, Urteil vom 17. April 2013 – B 9 V 1/12 R –, BSGE 113, 205 <208 ff.>):

Ein Versorgungsanspruch setzt zunächst voraus, dass die allgemeinen Tatbestandsmerkmale des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG gegeben sind (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 23. April 2009 – B 9 VG 1/08 R –, juris, Rz. 27 m. w. N). Danach erhält eine natürliche Person („wer“), die im Geltungsbereich des OEG durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Somit besteht der Tatbestand des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG aus drei Gliedern (tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen), die durch einen Ursachenzusammenhang miteinander verbunden sind.

Nach der Rechtsprechung des BSG ist bei der Auslegung des Rechtsbegriffes „vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff“ i. S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG entscheidend auf die Rechtsfeindlichkeit, vor allem verstanden als Feindlichkeit gegen das Strafgesetz, abzustellen; von subjektiven Merkmalen, wie etwa einer kämpferischen, feindseligen Absicht, hat sich die Auslegung insoweit weitestgehend gelöst (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 7. April 2011 – B 9 VG 2/10 R –, SozR 4-3800 § 1 Nr. 18, Rz. 32 m. w. N.). Dabei sind je nach Fallkonstellation unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt und verschiedene Gesichtspunkte hervorgehoben worden. Leitlinie ist insoweit der sich aus dem Sinn und Zweck des OEG ergebende Gedanke des Opferschutzes. Das Vorliegen eines tätlichen Angriffs hat das BSG daher aus der Sicht von objektiven, vernünftigen Dritten beurteilt und insbesondere sozial angemessenes Verhalten ausgeschieden. Allgemein ist es in seiner bisherigen Rechtsprechung davon ausgegangen, dass als tätlicher Angriff grundsätzlich eine in feindseliger oder rechtsfeindlicher Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen ist, wobei die Angriffshandlung in aller Regel den Tatbestand einer – jedenfalls versuchten – vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit erfüllt (st. Rspr.; vgl. nur BSG, Urteil vom 29. April 2010 – B 9 VG 1/09 R –, SozR 4-3800 § 1 Nr. 17, Rz. 25 m. w. N.). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff i. S. des § 240 Strafgesetzbuch (StGB) zeichnet sich der tätliche Angriff i. S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG durch eine körperliche Gewaltanwendung (Tätlichkeit) gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein (vgl. BSG, Urteil vom 7. April 2011 – B 9 VG 2/10 R –, SozR 4 3800 § 1 Nr. 18, Rz. 36 m. w. N.). Ein solcher Angriff setzt eine unmittelbar auf den Körper einer anderen Person zielende, gewaltsame physische Einwirkung voraus; die bloße Drohung mit einer wenn auch erheblichen Gewaltanwendung oder Schädigung reicht hierfür demgegenüber nicht aus (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 9 V 1/13 R –, juris, Rz. 23 ff.).

Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennen das soziale Entschädigungsrecht und damit auch das OEG drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs. 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Nach Maßgabe des § 15 Satz 1 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOVVfG), der gemäß § 6 Abs. 3 OEG anzuwenden ist, sind, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, bei der Entscheidung die Angaben der Antragstellenden, die sich auf die mit der Schädigung, also insbesondere auch mit dem tätlichen Angriff im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, wenn sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen.

Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, Kommentar zum SGG, 13. Aufl. 2020, § 128 Rz. 3b m. w. N.). Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (vgl. BSG, Urteil vom 24. November 2010              – B 11 AL 35/09 R –, juris, Rz. 21). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl. Keller, a. a. O., § 128 Rz. 3b m. w. N.).

Der Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit i. S. des § 1 Abs. 3 Satz 1 BVG ist dann gegeben, wenn nach der geltenden wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001 – B 9 V 23/01 B –, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4, S. 14 m. w. N.). Diese Definition ist der Fragestellung nach dem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 9 V 6/13 R –, juris, Rz. 18 ff.) angepasst, die nur entweder mit ja oder mit nein beantwortet werden kann. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden. Für die Wahrscheinlichkeit ist ein „deutliches" Übergewicht für eine der Möglichkeiten erforderlich. Sie entfällt, wenn eine andere Möglichkeit ebenfalls ernstlich in Betracht kommt.

Bei dem „Glaubhafterscheinen“ i. S. des § 15 Satz 1 KOVVfG handelt es sich um den dritten, mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl. Keller, a. a. O., § 128 Rz. 3d m. w. N.), also der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl. BSG, Beschluss vom 8.
August 2001 – B 9 V 23/01 B –, SozR 3 3900 § 15 Nr. 4, S. 14 f. m. w. N.). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, also es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (vgl. Keller, a. a. O., § 128 Rz. 3d m. w. N.), weil nach der Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses, aber kein deutliches Übergewicht zukommen. Wie bei den beiden anderen Beweismaßstäben reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Das Tatsachengericht ist allerdings mit Blick auf die Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 Satz 1 SGG) im Einzelfall grundsätzlich darin nicht eingeengt, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht (vgl. BSG, Beschluss vom 8. August 2001           – B 9 V 23/01 B –, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4, S. 15).

Diese Grundsätze haben ihren Niederschlag auch in den „Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz“ in ihrer am 1. Oktober 1998 geltenden Fassung der Ausgabe 1996 (AHP 1996) und nachfolgend – seit Juli 2004 – den „Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)“ in ihrer jeweils geltenden Fassung (AHP 2005 und 2008) gefunden, welche zum 1. Januar 2009 durch die Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008, den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (VG), (VG, Teil C, Nrn. 1 bis 3; vgl. BR-Drucks 767/1/08 S. 3, 4) inhaltsgleich ersetzt worden ist (vgl. BSG, Urteil vom 16. Dezember 2014 – B 9 V 6/13 R –, juris, Rz. 17).


Gemessen an diesen gesetzlichen Vorgaben und der höchstrichterlichen Rechtsprechung, der der Senat folgt, hat der Beklagte zu Recht die Gewährung von Beschädigtenversorgung durch Bescheid vom 16. Januar 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. April 2017 abgelehnt. Mithin hat das SG auch die hierauf gerichtete Klage der Klägerin zutreffend durch Gerichtsbescheid vom 4. Mai 2021 abgewiesen.

Der Senat geht ausgehend von den dargelegten Grundsätzen wie das SG vom Beweismaßstab des Vollbeweises aus, weil es für den von der Klägerin behaupteten vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff i. S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG am 7. September 2015 weitere Zeugen, insbesondere die J1, gibt, die im Rahmen der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen als Geschädigte vernommen worden ist.

Zur Überzeugung des Senats ist im erforderlichen Vollbeweis ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff i. S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG auf die Klägerin am 7. September 2015 nicht nachgewiesen.

Die Klägerin hat im Laufe des Verwaltungs- wie des Gerichtsverfahrens entweder angegeben, dass am 7. September 2015 in der Straßenbahn Knallkörper gezündet oder Schüsse abgegeben worden seien. Zuletzt im Berufungsverfahren, aber auch schon im Widerspruchsverfahren und im erstinstanzlichen Verfahren hat sie einräumen müssen, dass sie aufgrund ihrer eingeschränkten Beweglichkeit der HWS wegen einer transartikulären Verschraubung der HWK1/HWK2, wie sie sich für den Senat auch aus dem im Wege des Urkundsbeweises (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 415 ff. Zivilprozessordnung <ZPO>) verwerteten Bericht der Klinik für Neurochirurgie, Universitätsklinik F1 über die entsprechende Operation am 9. Februar 2015 ergibt, gar keinen Blickkontakt zum Täter hatte. Das heißt sie hat gar nicht sehen können, ob er Knallkörper gezündet oder mit einer Soft-Air-Waffe geschossen hat, sondern das nur aus den von ihr wahrgenommen Geräuschen geschlossen.

Dem urkundsbeweislich verwerteten Protokoll über die Geschädigtenvernehmung der J1 entnimmt der Senat wie zuvor bereits die ermittelnde Polizei, dass der Täter am 7. September 2015 tatsächlich nur mit einer Soft-Air-Waffe geschossen, keinesfalls also Knallkörper gezündet hat. Denn J1  hat beim Einsteigen in die Straßenbahn deutlich gesehen, dass der Täter eine Waffe in der Hand gehalten hat. Das ist ein solcher Umstand, dass es sich kaum um eine Einbildung handeln kann. Ihre zutreffende Beobachtung wird im Weiteren gestützt dadurch, dass sie vor sich auf dem Boden einige Kügelchen, damit die Munition der Soft-Air-Waffe, hat liegen sehen. Schließlich spricht das von ihr beschriebene kleine Loch in ihrer Jacke und die kleine Verletzung am Ellenbogen - jeweils erst zu Hause bemerkt - für ihre Einschätzung, denn sie sind passend zum Gebrauch einer Soft-Air-Waffe. Gründe, wegen denen die Angaben der Geschädigten J1 nicht glaubhaft sein sollten, sind dem Senat schon in Anbetracht der fehlenden Dramatisierung und damit des Bemühens um wahrheitsgemäße Wiedergabe des Ereignisses nicht ansatzweise ersichtlich.

Mit der Verwendung einer Soft-Air-Waffe korrespondiert auch das von der Klägerin beschriebene Verhalten der anderen Fahrgäste. Nach den Angaben der Geschädigten J1 und des PHK K1 ist eine solche Waffe nämlich bei weitem nicht so laut wie ein Knallkörper. Demnach ist es nachvollziehbar, dass sich die anderen Fahrgäste nur umgesetzt haben bzw. der von der Klägerin angesprochene männliche Fahrgast nur mit einem Achselzucken reagiert hat. Bei dem durch die Explosion eines Knallkörpers verursachten weitaus lauteren Knall wäre hingegen anderes Verhalten der übrigen Fahrgäste zu erwarten gewesen.

Des Weiteren fehlt es zur Überzeugung des erkennenden Spruchkörpers an einem vorsätzlichen Handeln des Täters, wie dies so auch tatnah die Staatsanwaltschaft rechtlich eingeschätzt hat. Mit dem Erfordernis, dass der Angriff vorsätzlich erfolgt, wird ein Anspruch auf Entschädigung für fahrlässige Taten grundsätzlich ausgeschlossen. Allgemein wird davon ausgegangen, dass der Begriff des Vorsatzes in Anlehnung an strafrechtliche Kriterien zu definieren ist (vgl. Rademacker in: Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 1. Aufl. 2012, § 1 OEG Rz. 58 m. w. N.).   

Ein vorsätzlicher Angriff setzt danach nicht notwendig einen direkten Vorsatz, ein Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung, voraus. Es genügt, dass der Täter mit bedingtem Vorsatz (dolus eventualis) gehandelt, damit eine körperliche Einwirkung auf das Opfer für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen hat. Abzugrenzen ist der bedingte Vorsatz aber von der bewussten Fahrlässigkeit, bei der der Täter darauf vertraut hat, dass „alles gut gehe“, obwohl ihm die Gefährlichkeit seines Tuns bekannt ist (vgl. BSG, Urteil vom 3. Februar 1999 – B 9 VG 7/97 R –, juris, Rz. 12; Rademacker, a. a. O, § 1 OEG Rz. 59 m. w. N.). Das Wissenselement des bedingten Vorsatzes ist umso eher zu bejahen, je wahrscheinlicher eine Verletzungsfolge durch eine gefährliche (Gewalt-) Handlung ist; maßgeblich ist vor allem, ob und wie offensichtlich die Gefährlichkeit der Handlung für den Täter ist (vgl. BSG, Urteil vom 24. September 2020 – B 9 V 3/18 R –, juris, Rz. 36).

Ausgehend hiervon ist der Senat nicht von einem vorsätzlichen Angriff auf die Klägerin am 7. September 2015 im Maßstab des Vollbeweises überzeugt.

Es bestehen bereits Zweifel daran, ob der Täter sich seines Handelns überhaupt bewusst war, denn er ist von der Geschädigten J1 in ihrer Geschädigtenvernehmung als nicht „ganz richtig im Kopf“, demnach als geistig verwirrt, beschrieben worden, was erhebliche Zweifel an seiner Einsichtsfähigkeit und damit einem Vorsatz begründet.

Aber auch unabhängig hiervon kann allenfalls von einem vorsätzlichen Angriff auf die Geschädigte J1 infolge des Zielens mit der Soft-Air-Waffe auf dieselbe ausgegangen werden, nicht aber von einem vorsätzlichen Handeln zum Nachteil der Klägerin dahingehend, dass diese infolge des mit den Schüssen verbundenen Lärms an ihrem Gehör oder ihrer Psyche hat geschädigt werden sollen. Denn für eine solche zumindest bedingt, damit mit dolus eventualis, in Kauf genommene Schädigungsfolge hat das Schießen mit einer Soft-Air-Waffe auch in einem geschlossenen Raum, wie vorliegend in einer Straßenbahn, nicht eine hinreichend objektive Gefährlichkeit aufgewiesen. Das zeigt sich nicht nur in der bereits oben beschriebenen Reaktion der anderen Fahrgäste, sondern insbesondere der Einschätzung der direkt betroffenen Geschädigten J1. Diese hat nämlich, obwohl sie eine Sach- und Körperverletzung erlitten hat, den Vorfall als so geringfügig eingeschätzt, dass sie zunächst keine Strafanzeige erheben wollte. Nicht zuletzt haben das die Ermittlungen der Polizei bestätigt. Denn PHK K1 hat nach den durchgeführten Schussproben bezweifelt, ob ein Schuss mit einer Soft-Air-Waffe in einer fahrenden Straßenbahn mit allein aufgrund der Fahrt nicht unerheblichem Lärm überhaupt hörbar ist, somit allenfalls vorstellbar ist, wenn der Schuss in unmittelbarer Nähe abgegeben wird, was aber bei der Klägerin nach ihren eigenen Angaben nicht der Fall war.

Dies unterscheidet den vorliegenden Sachverhalt auch maßgeblich von der Entscheidung des BSG (Urteil vom 28. Mai 1997 – 9 RVg 1/95), auf die die Klägerin Bezug genommen hat. In diesem Fall hat die in einer Telefonzelle befindliche Klägerin ein Knalltrauma erlitten, als Jugendliche unmittelbar vor dieser Telefonzelle Feuerwerkskörper gezündet haben. Der Angriff der Jugendlichen war damit direkt gegen die dortige Klägerin gerichtet. Hiervon kann im vorliegenden Fall aber nur gegenüber der Geschädigten J1 ausgegangen werden (vgl. oben), nicht aber gegenüber der Klägerin oder den weiteren Fahrgästen, auf die der Täter nicht mit der Soft-Air-Waffe gezielt hat.

Ein dolus eventualis kann dem Täter letztlich nur dahingehend unterstellt werden, dass er gegenüber den anderen Fahrgästen und auch gegenüber der Klägerin eine Körperverletzung durch die Schüsse, wie sie die Geschädigte J1 auch in Form eines Hämatoms am Ellenbogen erlitten hat, billigend in Kauf genommen hat. Das gilt aber nicht hinsichtlich einer Verletzung durch die „Nebenwirkungen“ des Abfeuerns der Soft-Air-Waffe in Form eines Knalltraumas und der daraus möglicherweise resultierenden weiteren körperlichen und psychischen Schädigungsfolgen.

Mangels eines nachgewiesenen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs i. S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG hat die Klägerin damit keinen Anspruch auf Beschädigtengrundrente ab dem 1. September 2015 (§ 1 Abs. 1 Satz 1 OEG i. V. m. § 9 Abs. 1 Nr. 3 Alt. 1, § 30, § 31 BVG) und auch nicht auf Versorgung mit einer Hörhilfe (§ 1 Abs. 1 Satz 1 OEG i. V. m. § 9 Abs. 1 Nr. 1, § 13 BVG). Dieser wird auch nicht allein dadurch begründet, dass sich zeitnah eine Verschlechterung ihres Hörvermögens zeigte.  

Die
vorliegende Sachverhaltsermittlung durch den Beklagten, die Angaben der Klägerin und die der Geschädigten J1 haben dem Senat die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen Grundlagen vermittelt. Weitere Ermittlungen waren deshalb nicht vorzunehmen. Es würde sich hierbei um Ermittlungen ins Blaue hinein handeln, mithin um eine Ausforschung des Sachverhaltes, zu der der Senat nicht verpflichtet ist (vgl. BSG, Beschluss vom 17. Oktober 2018 – B 9 V 20/18 B –, juris, Rz. 19).

Nach alledem war die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht gegeben, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.








 

Rechtskraft
Aus
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