L 2 R 914/22

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
2.
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 12 R 1319/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 2 R 914/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 23. Februar 2022 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 


Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

Die 1963 geborene Klägerin absolvierte in der Zeit von 1979 bis 1982 eine Lehre zur Industriekauffrau und war anschließend in diesem Beruf bis 1988 versicherungspflichtig beschäftigt.

Vor 1990 bis zuletzt 2018 war sie als Versandarbeiterin versicherungspflichtig beschäftigt, danach arbeitsunfähig krank bzw. arbeitslos (Bl.23 VA E Band I).

Die Klägerin hatte sich u.a. in der Zeit vom 26. Mai 2015 bis 4. Juni 2015 zunächst in der Tagesklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Z1 in B1 befunden (Bl. 5 VA E Band I), im Anschluss daran befand sie sich in stationärer Behandlung vom 4. Juni 2015 bis 8. Juli 2015 in der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie R1, R2. Im Entlassbericht vom 8. Juli 2015 ist als Diagnose eine depressive Episode gestellt worden.

In der Folgezeit befand sich die Klägerin vom 29. Oktober 2015 bis 26. November 2015 in einer psychosomatischen Rehabilitationsmaßnahme in der Rehaklinik S1 B2. Im dortigen Entlassungsbericht wurden an Gesundheitsstörungen eine rezidivierende depressive Störung mit gegenwärtig leichter Episode, eine abhängige Persönlichkeitsakzentuierung sowie ein Cervicalsyndrom beschrieben. Bei Beachtung entsprechender qualitativer Einschränkungen sei die Klägerin noch in der Lage, sowohl im zuletzt berichteten Beruf als Versandarbeiterin als auch in mittelschweren Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes in einem Umfang von mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

Am 31. Januar 2019 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

Im Verwaltungsverfahren wurde der Abschlussbericht zur psychotherapeutischen Behandlung durch den M1 vom 16. April 2018 vorgelegt, in dem als Diagnose eine depressive Störung (ICD-1133.0) gestellt ist. Der Bericht bezog sich auf eine in der Zeit vom November 2015 bis Januar 2018 durchgeführte tiefenpsychologisch fundierte Langzeitpsychotherapie, bei der nach den probatorischen Sitzungen insgesamt 50 Behandlungsstunden stattgefunden hatten. Hinsichtlich des Behandlungsverlaufs ist u.a. ausgeführt, dass aufgrund der anhaltend guten Motivation und Änderungsbereitschaft mit der Klägerin über den gesamten Behandlungszeitraum ein produktiver therapeutischer Prozess habe gestaltet werden können. Zunächst sei es gelungen, wieder eine Sicherheit gebende Position in ihrem Betrieb zurück zu entwickeln, dort wieder ein sinnhaftes Tun und soziale Einbindung zu erfahren. Im Anschluss hätten intensiv und vertiefend biographische und innerfamiliäre Konfliktsituationen bearbeitet werden können. Dadurch habe insbesondere die emotionale Selbstregulation stabilisiert, als auch neue persönliche und soziale Interessen aktiviert werden können.

Die Beklagte holte bei dem M2 das Gutachten vom 16. Juli 2019 ein. M2 gelangte auf der Grundlage der am 4. Juni 2019 durchgeführten ambulanten Untersuchung zu der Diagnose einer Persönlichkeitsstörung mit ängstlichen unsicheren Anteilen, eine gegenwärtig remittierte depressive Störung, ein Cervicalsyndrom, Verschleißerscheinungen der Lendenwirbelsäule (LWS) ohne Bewegungseinschränkungen und ohne neurologische Defizite, einen Zustand nach Meniskusoperation am rechten Kniegelenk, eine Hypertonie, eine Hypercholesterinämie sowie ein Nikotinabusus. Bei Beachtung qualitativer Einschränkungen sei die Klägerin noch in der Lage, leichte bis mittelschwere Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes in einem Umfang von mindestens sechs Stunden täglich auszuüben.

Mit Bescheid vom 23. Juli 2019 lehnte die Beklagte den Antrag auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung ab, da die medizinischen Voraussetzungen nicht erfüllt seien.

Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch, den die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 15. Mai 2020 (Bl. 73 Band II VA E) als unbegründet zurückwies.

Dagegen hat die Bevollmächtigte der Klägerin am 15. Juni 2020 Klage zum Sozialgericht (SG) Reutlingen erhoben. Zur Begründung wurde geltend gemacht, das Gutachten von M2 werde den Beschwerden und Erkrankungen der Klägerin nicht gerecht. Das Rentenbegehren werde vom behandelnden M3 ausdrücklich unterstützt. Die Klägerin leide unter Versagungsängsten, Angst vor Kritik und Zurückweisung, starker Verunsicherung, Minderwertigkeitsgefühlen, Antriebs-, Hoffnungs- und Mutlosigkeit sowie Zwangsgedanken. Sie sei völlig sozial isoliert. Bereits 2015 seien mehrere psychiatrische Krankenhausbehandlungen erfolgt, im Anschluss sei von November 2015 bis Januar 2018 eine Psychotherapie durchgeführt worden. Trotz dieser Behandlungen habe sich keine Besserung eingestellt. Die Klägerin sei daher voll erwerbsgemindert.

Das SG hat bei den behandelnden Ärzten der Klägerin sachverständige Zeugenauskünfte eingeholt.
Der M2 hat in seiner Auskunft vom 14. Oktober 2020 (Bl. 31 SG-Akte) mitgeteilt, die Klägerin seit 2002 zu behandeln, was seit Monaten in zwei- bis vierwöchigen Abständen erfolge. An Gesundheitsstörungen seien eine rezidivierende depressive Störung mit zuletzt schwerer agitierter Episode, eine Persönlichkeitsakzentuierung mit ängstlich unsicheren Anteilen, eine Hypertonie, eine Hypertriglidämie und Hypercholesterinämie, eine Fettleber, eine Hyperurikämie und ein Nikotinabusus festgestellt worden. Maßgeblich für die Beurteilung des Leistungsvermögens sei das psychiatrische Fachgebiet. Die Klägerin sei nicht mehr in der Lage, leichte Tätigkeiten über einen Zeitraum von drei bis sechs Stunden täglich regelmäßig zu verrichten. Die psychische Belastbarkeit sei massiv reduziert.
Die behandelnde M4 hat in ihrer Auskunft vom 24. November 2020 (Bl. 34 SG-Akte) angegeben, dass die Klägerin seit Januar 2018 zwei bis drei Behandlungstermine pro Jahr habe. An Gesundheitsstörungen bestünden eine rezidivierende depressive Störung mit derzeit schwerer Episode, eine Persönlichkeitsstörung mit ängstlichen und abhängigen Anteilen, ein Verdacht auf Somatisierung mit Übelkeit und Oberbauchschmerzen, eine arterielle Hypertonie im grenzwertigen Bereich, eine Steatosis hepatis bei familiärer Hyperlipidämie, Nikotinabusus sowie ein Innenmeniskushinterhorn rechts. Im Vordergrund stünden bei der Klägerin die schwere rezidivierende Depression und die Persönlichkeitsstörung. Maßgeblich für die Beurteilung des Leistungsvermögens sei das psychiatrische Fachgebiet. Die Klägerin sei nicht mehr in der Lage, mindestens sechs Stunden oder auch nur drei bis sechs Stunden einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen.

Die Beklagte ist dem unter Vorlage einer sozialmedizinischen Stellungnahme des N1 vom 18. Dezember 2020 entgegengetreten.

Das SG hat im Weiteren sodann ein Gutachten bei dem S2 vom 29. Juni 2021 eingeholt. S2 hat auf der Grundlage der von ihm im Rahmen der ambulanten Untersuchung am 10. Juni 2021 erhobenen Befunde bei der Klägerin eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig remittiert, eine Angst- und depressive Störung gemischt sowie eine ängstlich-vermeidend, selbstunsicher akzentuierte Persönlichkeit diagnostiziert. Zu vermeiden seien Akkord- und Fließbandarbeiten, Arbeiten mit häufig wechselnder Schicht, Arbeiten mit besonderer geistiger Beanspruchung und besonderer Verantwortung sowie Tätigkeiten mit regelmäßigem Publikumsverkehr. Bei Beachtung dieser Einschränkungen sei die Klägerin in der Lage, mindestens sechs Stunden täglich einer regelmäßigen Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ohne Gefahr für die Gesundheit nachzugehen.

Nach vorheriger Anhörung der Beteiligten hat das SG mit Gerichtsbescheid vom 23. Februar 2022 die Klage abgewiesen. Es hat hierbei die Auffassung vertreten, dass auf der Grundlage der hier maßgeblichen gesetzlichen Regelungen in §§ 43 Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 3 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch – Gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI) die Voraussetzungen für eine Rente wegen Erwerbsminderung nicht gegeben seien.
Die Beurteilung des Leistungsvermögens orientiere sich hierbei am Kriterium des allgemeinen Arbeitsmarktes, umfasse also jede nur denkbare Tätigkeit, für die es in einem nennenswerten Umfang Beschäftigungsverhältnisse gebe.
Eine nach den vorstehenden Maßstäben rentenberechtigende Einschränkung der Erwerbsfähigkeit liege im Fall der Klägerin nicht vor. Das SG vermöge nicht festzustellen, dass die Klägerin bei Berücksichtigung bestimmter qualitativer Einschränkungen ihres Leistungsvermögens selbst leichte Tätigkeiten unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes nur noch in einem Umfang von weniger als sechs Stunden täglich verrichten könnte.
Maßgeblich für die Beurteilung des Leistungsvermögens seien die Leiden auf psychiatrischem Fachgebiet. Dies entnehme das SG den sachverständigen Zeugenauskünften der behandelnden Ärzte M3 und der M4.
Insofern bestehe bei der Klägerin eine ängstlich-vermeidend und selbstunsicher akzentuierte Persönlichkeit. Eine rezidivierende depressive Störung befinde sich in Remission. Aus dem Bereich der aktiven Erkrankungen sei nur noch eine Angst- und depressive Störung gemischt objektivierbar. Das SG entnehme dies dem schlüssig und überzeugenden Gutachten von S2. Dieser habe im Rahmen der gutachterlichen Untersuchung - in Übereinstimmung mit dem Gutachten von M2 - keine depressive Episode mehr feststellen können. Im psychopathologischen Befund hätten sich etwa eine leichte Antriebsminderung, jedoch keine Antriebsarmut oder Antriebshemmung gezeigt. Die Klägerin habe danach ernst und nachdenklich geschienen, manchmal seien eine Verzweiflung sowie ein eingeschränktes Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein deutlich geworden. Eine tiefere Deprimiertheit habe sich jedoch nicht erfassen lassen. Das affektive Schwingungsvermögen sei deutlich eingeschränkt, aber nicht aufgehoben gewesen. Der Gedankengang sei zusammenhängend, geprägt auch von negativen Gedanken und einer Grübelneigung gewesen; die Klägerin sei aber auch durchaus ablenkbar in ihren Gedanken erschienen und keinesfalls erstarrt in negativem Denken. Konzentration und Aufmerksamkeit seien ungestört gewesen, auch soziale Störungen oder eine eingeschränkte Fähigkeit zur sozialen Interaktion und Kommunikation sowie ein völliger Interessenverlust hätten sich nicht herausarbeiten lassen. Während der Begutachtung hätten sich immer wieder ängstlich-vermeidende und auch selbstunsichere Persönlichkeitszüge gezeigt. Dies habe S2 schlüssig und überzeugend als leichtere psychische Störungen eingeordnet, die als Angst- und depressive Störung gemischt zu klassifizieren sei. Hierbei handele es sich um ein Störungsbild, das leichter als eine leichte depressive Episode sei und bei dem weder eine depressive Erkrankung noch eine Angsterkrankung so stark ausgeprägt seien, dass eine eigenständige Diagnose dafür gerechtfertigt wäre. Auch aus den Feststellungen des M3 könnten keine entscheidend weitergehenden Funktionseinschränkungen abgeleitet werden. An objektivierbaren Funktionseinschränkungen habe dieser etwa im psychopathologischen Befund seines Berichtes vom 8. April 2020 lediglich eine depressive Stimmungslage ohne nähere Angaben zum konkreten Ausmaß bei einer noch etwas verunsichert wirkenden Klägerin angegeben. Im Übrigen sei die Klägerin als affektstabil mit geordnetem Gedankengang und ohne höhergradige kognitive Defizite beschrieben worden. Aus dem nach den überzeugenden Ausführungen von S1 feststellbaren Störungsbild der Klägerin resultierten qualitative Einschränkungen des Leistungsvermögens, indem Akkord- und Fließbandarbeiten, Arbeiten mit häufig wechselnder Schicht, Arbeiten mit besonderer geistiger Beanspruchung und besonderer Verantwortung sowie Tätigkeiten mit regelmäßigem Publikumsverkehr zu vermeiden seien. Bei Beachtung dieser Einschränkungen stünden jedoch die psychischen Leiden der Klägerin zur Überzeugung des SG und in Übereinstimmung mit der Einschätzung von S1 einem mindestens sechsstündigen täglichen Leistungsvermögen für leichte Tätigkeiten unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes nicht entgegen. Damit könne eine rentenberechtigende Erwerbsminderung bei der Klägerin nicht festgestellt werden und habe die Beklagte daher den Antrag zu Recht abgelehnt.

Die Klägerin hat gegen den ihrer Bevollmächtigten am 28. Februar 2022 mit Empfangsbekenntnis zugestellten Gerichtsbescheid am 28. März 2022 Berufung zum Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg erhoben. Zur Begründung macht die Klägerbevollmächtigte geltend, M3 habe als behandelnder Neurologe und Psychiater in seiner Auskunft beim SG u.a. die Diagnose rezidivierende depressive Störung, zuletzt schwere agitierte Episode sowie Persönlichkeitsakzentuierung mit ängstlichen und unsicheren Anteilen gestellt und weiter ausgeführt, dass aus seiner Sicht die Patientin nicht mehr in der Lage sei, leichte Tätigkeiten über einen Zeitraum von drei bis sechs Stunden regelmäßig zu verrichten. Ihre psychische Belastbarkeit sei massiv reduziert. Unter Belastung bestehe eine ausgeprägte Gefährdung für schwere psychische Dekompensation in Form depressiver Einbrüche.
Die M4 hätten ferner ausgeführt, dass es bereits 2002, 2004, 2006, 2007 und 2008 es zu depressiven Einbrüchen gekommen sei. 2015 habe eine sehr schwere Depression stattgefunden, eine stationäre Behandlung sei über viele Wochen in verschiedenen Kliniken durchgeführt worden. Unter laufender psychotherapeutischer und psychiatrischer Betreuung habe eine Stabilisierung bis Anfang 2018 erzielt werden können, seither zeige sich wieder eine zunehmende Verschlechterung mit Depressionen, Versagenszuständen, Leistungsminderung. Die Klägerin sei unruhig und angespannt, erschöpft.
Nach klägerischer Auffassung sei die Klägerin nicht mehr in der Lage, mindestens sechs Stunden einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen. Aufgrund der vorliegenden, derzeit erneut schweren Depression und Verlangsamung des Denkens, Gedankenabrissen, Gedankensprüngen, Unkonzentriertheit sowie ängstlicher Fixierung auf ihre Hilflosigkeit, Überforderung der Leistungsfähigkeit sei die Klägerin auch nicht in der Lage, über drei bis sechs Stunden einer produktiven Tätigkeit nachzugehen. Die M4 hielten die Klägerin derzeit für erwerbsunfähig.
Dem Gutachten von S2 könne daher nicht gefolgt werden. Selbst wenn zum Untersuchungszeitpunkt eine remittierte depressive Störung vorgelegen habe, so habe sich S2 nicht damit auseinandergesetzt, dass die Remittierung möglicherweise daran liege, dass die Klägerin seit 2018 keiner Tätigkeit mehr nachgehe und dadurch es eben auch nicht mehr zu angstauslösenden bzw. depressionsauslösenden Situationen gekommen sei. Wie S2 beschreibe, lebe die Klägerin total zurückgezogen, es bestehe lediglich Kontakt zur eigenen Familie. Auch eine Partnerschaft habe die Klägerin nie gehabt. Der sachverständige Zeuge M3 habe ausgeführt, dass unter Belastung eine ausgeprägte Gefährdung für schwere psychische Dekompensation in Form depressiver Einbrüche bestehe. Damit habe sich S2 nicht auseinandergesetzt und begründe daher auch nicht, wie er zu dem Ergebnis komme, dass die Klägerin einer Tätigkeit ohne Gefahr für ihre Gesundheit verrichten könne.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 23. Februar 2022 sowie den Bescheid der Beklagten vom 23. Juli 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Mai 2020 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin ab Antragstellung Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte hält die Entscheidung des SG für zutreffend.

Der Senat hat im Weiteren bei dem B3 das neurologisch-psychiatrische Gutachten vom 20. Dezember 2022 eingeholt. B3 ist auf der Grundlage der von ihm durchgeführten ambulanten neurologischen und psychiatrischen Untersuchung der Klägerin am 29. November 2022, gestützt auf den von ihm erhobenen neurologischen wie auch psychischen Befund zu den folgenden Diagnosen gelangt: Rezidivierende depressive Störung, derzeit weitgehend remittiert (F 33.4), ängstliche (vermeidende) Persönlichkeitsakzentuierung, Rückenschmerz und Nikotinabusus. Das Leistungsvermögen  hat er dahingehend eingeschätzt, dass die Klägerin noch in der  Lage sei, eine berufliche leichte Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mindestens 6 Stunden unter Beachtung qualitativer Einschränkungen (keine Tätigkeiten in Nachtschicht, Wechselschicht sowie Tätigkeiten unter hohem Zeitdruck wie z.B. Akkordarbeiten, keine Tätigkeiten mit regelmäßigem Publikumsverkehr) auszuüben, wobei es sich um einfache, strukturierte Tätigkeiten handeln sollte, keine Tätigkeiten, die ein hohes Maß an geistiger Flexibilität und Planungsvermögen voraussetzten.

Im Hinblick auf Einwendungen der Klägerbevollmächtigten mit Schreiben vom 15. März 2023 hat B3 in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 30. März 2023 an seiner Leistungseinschätzung festgehalten. Neben den medikamentösen und psychotherapeutischen Maßnahmen werde im Rahmen eines modernen psychiatrischen multimodalen Therapiekonzepts stets auch die private, soziale und berufliche Reintegration der Patientin angestrebt. Zur Stabilisierung der Krankheitssymptome gehöre einerseits eine medikamentöse Erhaltungstherapie (die Wirkspiegel würden bei der Klägerin für eine gute Therapie-Compliance sprechen), aber auch die Beachtung qualitativer Einschränkungen in Bezug auf die Verrichtung einer beruflichen Tätigkeit am allgemeinen Arbeitsmarkt. Diese Maßnahmen sollten einer erneuten Verschlechterung vorbeugen. Insbesondere begründe die Antizipation und Befürchtung einer möglichen erneuten Verschlechterung bei Wiederaufnahme einer beruflichen Tätigkeit nach seiner Einschätzung keine quantitativen Leistungseinschränkungen für Tätigkeiten am allgemeinen Arbeitsmarkt, sodass er an den Inhalten seines Gutachtens und seiner Einschätzung festhalte.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakten der Beklagten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.


Entscheidungsgründe

I.

Die nach den §§ 143, 144 Abs. 1, Abs. 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte, unter Beachtung der maßgeblichen Form- und Fristvorschriften (§ 151 Abs. 1 und Abs. 3 SGG) eingelegte Berufung ist zulässig.

II.

Die Berufung ist jedoch unbegründet. Das SG hat zu Recht einen Anspruch der Klägerin auf Gewährung einer Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung verneint.

Das SG hat zutreffend auf der Grundlage der hier maßgeblichen gesetzlichen Regelungen in § 43 SGB VI, der im Verwaltungsverfahren eingeholten medizinischen Unterlagen sowie des Gutachtens von M2, der Auskünfte der behandelnden Ärzte und des im SG-Verfahren eingeholten Gutachtens von S2 schlüssig und nachvollziehbar die Voraussetzungen für die Gewährung einer Rente wegen (voller) Erwerbsminderung verneint. Der Senat schließt sich der Begründung des SG nach eigener Prüfung uneingeschränkt an, nimmt diesbezüglich auf die Entscheidungsgründe im Gerichtsbescheid des SG Bezug und sieht deshalb von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe gemäß § 153 Abs. 2 SGG ab und weist die Berufung aus den Gründen des angefochtenen Gerichtsbescheids zurück.

Ergänzend für das Berufungsverfahren ist noch festzustellen:
Auch unter Berücksichtigung des im Berufungsverfahren eingeholten neurologisch-psychiatrischen Gutachtens bei dem B3 vom 20. Dezember 2022 mit ergänzender Stellungnahme vom 30. März 2023 liegen die medizinischen Voraussetzungen für die von der Klägerin begehrten Rente wegen (voller) Erwerbsminderung nicht vor.
So stellt sich der von B3 erhobene psychische Befund wie folgt dar:
Danach war die Klägerin wach, zeitlich, örtlich, situativ und zur Person voll orientiert. Im Gespräch war sie außerordentlich mitteilsam, gesprächig und stets kooperativ. Es fanden sich keine Hinweise auf das Vorliegen einer formalen Denkstörung, das inhaltliche Denken war sehr auf die Beschwerdesymptomatik fokussiert. Die Klägerin berichtete sehr weitschweifig, assoziativ gelockert, wiederkehrend verlor sie den Faden, schweift vom eigentlichen Inhalt zur Beantwortung ihr gestellter Fragen ab. Es bestand eine deutliche assoziative Lockerung, zeitweilig logorrhoisch. Der Gedankengang war jedoch formal überwiegend geordnet. Im Rahmen des Explorationsgespräches fanden sich keine Hinweise auf das Vorliegen alltagsrelevanter Konzentrations- oder Auffassungs-Störungen. Die Stimmung zum Zeitpunkt der Exploration war weitgehend euthym, eine tiefgehende depressive Stimmung war nicht erkennbar, in Abhängigkeit der Gesprächsinhalte war die Klägerin, die zu Beginn des Gesprächs nivelliert wirkte, auch affektiv auslenkbar und modulationsfähig. Bei den Ängsten wurden Versagensängste, Insuffizienzgefühle, Angst vor Überforderung sowie real nachvollziehbare existenzielle Sorgen genannt. Keine erkennbar psychomotorische Anspannung, derzeit keine Suizidalität. Ebenso wenig fanden sich Hinweise auf Wahrnehmungsstörungen. Mnestik und höhere kognitive Funktionen schienen bei der Exploration des B3 ebenfalls ungestört. Es fanden sich auch keinerlei Hinweise auf Simulation oder Aggravation, bei insgesamt sehr guter Compliance. Das intellektuelle Ausgangsniveau war etwas unterdurchschnittlich. Insgesamt ergab sich für B3 ein weitgehend regelrechter psychischer Befund mit partiell nachvollziehbaren Ängsten und Alltagssorgen. Eine depressive Störung im eigentlichen Sinne bzw. nach der Klassifikation des ICD-10 liegt nach den Feststellungen von B3 auf dieser Grundlage derzeit nicht vor. In dem Zusammenhang ist auch festzustellen, dass dieser von B3 erhobene psychopathologische Befund weitgehend den Befunden der Gutachter M2 und S2 aus den Jahren 2019 und 2021 entspricht und sich damit auch nochmals die schon von den Vorgutachtern vorgenommene Einschätzung zur Schwere der Krankheit und auch dem Leistungsvermögen bestätigt.
Der Serumwirkspiegel war hinsichtlich des Neuroleptikums Quetiapin sehr niedrig, was entweder für eine Unterdosierung oder aber für eine unregelmäßige Einnahme spricht. Sertalin war im unteren Bereich des empfohlenen therapeutischen Wirkspiegel Bereichs nachweisbar.
Die Selbsteinschätzung im Beck‘schen Depressionsinventar (BDI) ergab bei der Klägerin 13 Punkte, was allenfalls für das Vorliegen einer minimal depressiven Symptomatik spricht und damit auch gut vereinbar war mit dem von B3 erhobenen psychopathologischen Befund. Vordergründig sind nach B3 derzeit Ängste und Sorgen im Zusammenhang mit den Krisen des Alltags sowie familiäre Irritationen, ausgelöst zuletzt durch die Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit ihrer Mutter, wodurch ein Teil ihrer Versorgungstruktur weggefallen sei, aber auch durch den Einzug ihres Neffen, der der Klägerin offensichtlich, aufgrund seiner Motivationslosigkeit, Sorgen bereite.
Diese Einschätzung wird letztlich auch durch den Tagesablauf bestätigt. Danach steht die Klägerin in Abhängigkeit ihrer Termine morgens meist zwischen 9:00 Uhr und 10:00 Uhr auf, kümmert sich sodann um ihre Schwester, um administrative Dinge, Anliegen mit der Krankenkasse etc. Sie trinke morgens einen Cappuccino und erledige vormittags meist leichte Tätigkeiten im Haushalt, Müll raustragen, putzen, Toilettenputzen, Fensterputzen etc. Im Sommer sei die Klägerin auch gerne im Garten. Da ihre Mutter immer gekocht hätte, sei sie aufgrund deren Abwesenheit vermehrt gefordert. Sie müsse zunehmend Aufgaben übernehmen. Nachmittags mache sie zunächst mal eine Stunde gar nichts, oft lege sie sich hin, danach mache sie Einkäufe, Arztbesuche, Haushalt, Wäsche etc.. Abends würde sie etwas essen, im Sommer gehe sie gerne nochmals in den Garten, danach schau sie fern, Natur-, Tierdokus, NDR Talkshows. Die Klägerin bewältigt nach ihren Angaben ihre alltäglichen Aufgaben ohne Unterstützung, ihr Sozialtherapeut berät sie mehr in lebenspraktischen Fragen, er sei auch für die Unterstützung ihrer psychisch kranken Schwester zuständig. Ihre letzte Urlaubsreise unternahm sie zusammen mit ihrer Mutter und ihrer Schwester im Jahre 2018 nach K1/S3.
Auf dieser Grundlage hat B3 als Diagnosen bei der Klägerin eine rezidivierende depressive Störung, derzeit weitgehend remittiert (F 33.4), eine ängstliche (vermeidende) Persönlichkeitsakzentuierung, Rückenschmerzen sowie Nikotinabusus gestellt.
Das Leistungsvermögen schätzt er dahingehend ein, dass die Klägerin noch in der Lage sei, vollschichtig eine berufliche Tätigkeit unter Berücksichtigung qualitativer Einschränkungen zu verrichten. Eine anhaltende mittelschwere oder schwere depressive Störung liege gegenwärtig nicht vor, sodass sich eine quantitative Leistungsminderung laut B3 nicht begründen lasse. Bei derzeit weitgehend bestehende Remissionen und einer nicht gebenden Notwendigkeit zu einer Therapieeskalation, bestünde laut B3 bei der Klägerin im Falle einer Symptomverschlechterung auch jederzeit die Möglichkeit medikamentöse Therapiemaßnahmen zu intensivieren, zumal die Wirkspiegel unterhalb bzw. im untersten empfohlenen Therapiebereich liegen würden. Die mehrfach in der Aktenlage angesprochene Persönlichkeitsakzentuierung bedingt nach B3 keine Einschränkung in Bezug auf das Erwerbsleben, die Merkmale sind nicht derart stark ausgeprägt, dass ein Vollbild einer Persönlichkeitsstörung besteht.
Aufgrund der dauerhaft vorliegenden psychophysischen Leistungsbeeinträchtigung sollten Tätigkeiten in Nachtschicht, Wechselschicht sowie Tätigkeiten unter hohem Zeitdruck (Akkordarbeiten etc.) nicht verrichtet werden. Auch Tätigkeiten mit regelmäßigen Publikumsverkehr sind nicht Leidens gerecht. Dauerhaft schwere und mittelschwere Tätigkeiten sollten der Klägerin aufgrund der körperlichen Beschwerden ebenfalls nicht zugemutet werden. Jegliche Tätigkeiten, die als leichte bis gelegentlich mittelschwer einzustufen sind, sind unter Berücksichtigung dieser Einschränkungen jedoch möglich. Die Klägerin sei daher noch in der Lage, eine berufliche leichte Tätigkeit am allgemeinen Arbeitsmarkt mindestens 6 Stunden auszuüben, hierbei sollte es sich jedoch um eine einfache, strukturierte Tätigkeit handeln. Tätigkeiten, die ein hohes Maß an geistiger Flexibilität Umplanungsvermögen etc. voraussetzten, kann nach B3 die Klägerin nicht leisten. Arbeitsunübliche Bedingungen sind nicht notwendig.

Hinsichtlich der Einwendungen der Klägerbevollmächtigten, dass sich bei der Klägerin derzeit der psychische Zustand gerade deshalb so gut darstelle, da sie derzeit gerade nicht entsprechenden Belastungen ausgesetzt sei, weist B3 aus Sicht des Senates zutreffend darauf hin, dass neben den medikamentösen und psychotherapeutischen Maßnahmen im Rahmen eines modernen psychiatrischen multimodalen Therapiekonzepts stets auch die private, soziale und berufliche Reintegration des Patienten angestrebt wird. Zur Stabilisierung der Krankheitssymptome gehört einerseits eine medikamentöse Erhaltungstherapie (die Wirkspiegel sprechen für eine gute Therapie-Compliance der Klägerin), aber auch die Beachtung qualitativer Einschränkungen in Bezug auf die Verrichtung einer beruflichen Tätigkeit im allgemeinen Arbeitsmarkt. Diese Maßnahmen sind aus Sicht von B3 geeignet einer erneuten Verschlechterung vorzubeugen. Die Antizipation und Befürchtung einer möglichen erneuten Verschlechterung bei Wiederaufnahme einer beruflichen Tätigkeit, begründet nach seiner Einschätzung keine quantitative Leistungseinschränkung für Tätigkeit am allgemeinen Arbeitsmarkt, sodass er auch insoweit an seinem Gutachten und seiner Einschätzung festhält.

Aus diesen Gründen kann sich der Senat letztlich auf der Grundlage der hier vorliegenden medizinischen Unterlagen sowie des im Urkundenbeweis zu verwertenden Gutachtens von M2, dem Gutachten von S2 und dem im Berufungsverfahren eingeholten weiteren Gutachtens von B3 nicht davon überzeugen, dass die Klägerin aufgrund der bei ihr bestehenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen - insbesondere auf psychiatrischem Fachgebiet - nicht mehr in der Lage ist, unter Beachtung der oben bereits beschriebenen qualitativen Einschränkungen noch zumindest einer körperlich leichten Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt 6 Stunden und mehr an fünf Tagen in der Woche nachzugehen.

Die Berufung der Klägerin ist daher zurückzuweisen.

III.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG) liegen nicht vor.


 

Rechtskraft
Aus
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