Eine anderweitige Empfangsbestätigung genügt, falls im jeweiligen Einzelfall die Rücksendung eines elektronischen Empfangsbekenntnisses technisch unmöglich ist aufgrund genereller Unzulänglichkeiten der Digitalisierung der Justiz in Baden-Württemberg.
Tenor: |
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
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Tatbestand und Entscheidungsgründe: |
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.
Die 1971 geborene Klägerin erlernte keinen Beruf, war zuletzt bis 2016 geringfügig bzw. nicht sozialversicherungspflichtig beschäftigt und bezieht bereits seit 2005 Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Nachdem der hiermit befasste Träger Zweifel an ihrer Erwerbsfähigkeit gegenüber der Beklagten geäußert hatte, ließ die Beklagte die Klägerin durch den Facharzt für Psychiatrie Dr. N. ambulant untersuchen und ihr berufliches Restleistungsvermögen unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes sozialmedizinisch begutachten. In seinen sehr ausführlichen Rentengutachten kam Dr. N. am 21.02.2020 zu dem Ergebnis, der Klägerin sei eine mehr als sechsstündige berufsalltägliche Erwerbsarbeit gesundheitlich zuzumuten.
Gleichwohl beantragte die Klägerin am 19.11.2021 bei der Beklagten die Bewilligung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Daraufhin holte die Beklagte Befundberichte der behandelnden Ärzte ein. Hierdurch gelangten diverse Berichte des Z. (vom 01.09.2016, 25.11.2016, 303.02.2017, 12.03.2018, 26.08.2019 und 22.03.2021) sowie des damals behandelnden Hausarztes (V.; 30.12.2021) und einer fachorthopädischen Gemeinschaftspraxis (26.05.2021 und 04.06.2021) zur Verwaltungsakte. Diese medizinischen Unterlagen ließ die Beklagte durch ihren Ärztlichen Dienst in Person des Facharztes für Chirurgie Dr. S. auswerten. Er kam am 12.01.2022 zur Einschätzung, dass im Fall der Klägerin keine volle oder auch nur teilweise Erwerbsminderung vorliege.
Durch Bescheid vom selben Tag lehnte die Beklagte den Rentenantrag unter Hinweis hierauf ab. Den hiergegen am 09.02.2022 eingelegten Widerspruch begründeten die Prozessbevollmächtigten der Klägerin damit, dass die Klägerin gereizt und wütend, impulsiv und laut beschrieben werde, da sie Gegenstände kaputtschlage. Zudem gebe es Zeiten mit Suizidgedanken und immer wieder Familienstreitigkeiten, die keiner psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung zugänglich seien. Die sie behandelnden Ärzte hätten diverse – in einzelnen benannte – Krankheiten und Behinderungen diagnostiziert auf nervenärztlichem wie orthopädischem Fachgebiet. Sie könnten weitere Auskunft erteilen. Das Gutachten von Dr. N. vom 12.01.2020 sei überholt.
Im Folgenden zog die Beklagte erneut Befundberichte der behandelnden Ärzte bei. Außer der Fachärztin für Allgemeinmedizin S. (16.03.2022 und 27.11.2020) wurden Urkunden der orthopädischen Gemeinschaftspraxis (12.05.2017, 19.09.2019) sowie eines inzwischen konsultierten weiteren Orthopäden (Dr. H.; 22.02.2022) bzw. des Radiologen Dr. S. (26.04.2021) ebenso beigezogen wie ein weiterer ambulanter Behandlungsbericht des Z. (vom 10.03.2022). Nach der fortlaufenden sozialmedizinischen Bewertung des Ermittlungsstandes durch Dr. S. (am 06.03.2022, 30.03.2022 bzw. 03.06.2022) wies die Beklagte den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 21.07.2022 als unbegründet zurück.
Hiergegen hat die Klägerin am 23.08.2022 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe erhoben. Sie hat am 02.11.2022 ihr Vorbringen aus dem Verwaltungs- bzw. Widerspruchsverfahren vertieft. Sie beantragt wörtlich:
„Unter Aufhebung des Bescheides vom 12.01.2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.07.2022 wird die Beklagte verurteilt, der Klägerin volle Rente wegen Erwerbsminderung, hilfsweise teilweise Erwerbsminderung, zumindest auf Zeit zu gewähren.“
Die Beklagte hat keinen Sachantrag gestellt und wegen der verspäteten Vorlage ihrer Verwaltungsakten um Entschuldigung gebeten.
Das Gericht hat zunächst alle von der Klägerin als aktuell noch behandelnde Ärzte benannten Mediziner darum gebeten, neuere Befundberichte vorzulegen. Auf den Inhalt ihrer Arztbriefe wird Bezug genommen.
Sodann hat das Gericht die Klägerin durch den Facharzt für Psychiatrie Dr. W. ambulant untersuchen und ihr berufliches Restleistungsvermögen unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes sozialmedizinisch begutachten lassen. In seinen sehr ausführlichen Rentengutachten kam auch er zu dem Ergebnis, der Klägerin sei eine mehr als sechsstündige berufsalltägliche Erwerbsarbeit gesundheitlich zuzumuten. Auf den weiteren Inhalt des Sachverständigengutachtens wird Bezug genommen.
Das Gericht hat die Beteiligten sodann auf die Aussichtslosigkeit der Rechtsverfolgung hingewiesen und sie zur Entscheidung durch Gerichtsbescheid gemäß angehört. Der Anhörung war zum Zeitpunkt ihrer Absendung durch das Sozialgericht ein Empfangsbekenntnis als strukturierter Datensatz mit der Bitte um Rücksendung angefügt. Aus nicht nachvollziehbaren technischen Gründen versagte der elektronische Rechtsverkehr. Das Empfangsbekenntnis erreichte die Klägerbevollmächtigten infolgedessen nicht. Diese bestätigten indes im Wege eines Eingangsstempels den Erhalt der Anhörung durch das Gericht.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Behördenakte und den der Prozessakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
1. Über die Klage kann das Gericht gemäß § 105 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist.
Die erforderliche Anhörung der Beteiligten ist erfolgt, obwohl die Klägerbevollmächtigten das diesbezügliche Empfangsbekenntnis nicht abzugeben vermochten in der ursprünglich vorgesehenen Form. Es ist gerichtsbekannt, dass die Funktionsfähigkeit des elektronischen Rechtsverkehrs in Baden-Württemberg nicht zuverlässig gewährleistet wird (vgl. Sozialgericht Karlsruhe, Urteil vom 9. Mai 2023; S 12 AS 3350/22 –, Rn. 30, juris; Sozialgericht Karlsruhe, Teil-Urteil mit Vorlagebeschluss vom 6. Juni 2023 – S 12 AS 2208/22 –, Rn. 49, 106-107 juris; Sozialgericht Karlsruhe, Gerichtsbescheid vom 10. März 2023 – S 12 AS 2454/22 –, Rn. 15f., 24 ff., juris). Eine anderweitige Empfangsbestätigung genügt, falls im jeweiligen Einzelfall die Rücksendung eines elektronischen Empfangsbekenntnisses technisch unmöglich ist aufgrund genereller Unzulänglichkeiten der Digitalisierung der Justiz in Baden-Württemberg.
2. Die zulässige Klage ist unbegründet.
Der Bescheid der Beklagten vom 12.01.2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21.07.2022 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Beklagte hat die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung zu Recht abgelehnt. Die Klägerin hat hierauf keinen Anspruch.
Der geltend gemachte Anspruch richtet sich nach § 43 SGB VI in der ab 1.1.2008 geltenden Fassung des Art. 1 Nr. 12 RV Altersgrenzenanpassungsgesetz vom 20.4.2007 (BGBl. I, 554).
Versicherte haben nach § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung und nach § 43 Abs. 1 Satz 1 SGB VI Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze, wenn sie voll- bzw. teilweise erwerbsgemindert sind (Nr. 1), in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben (Nr. 2) und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeinen Wartezeit erfüllt haben (Nr. 3). Voll erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Teilweise erwerbsgemindert sind nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außer Stande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Sowohl für die Rente wegen teilweiser als auch für die Rente wegen voller Erwerbsminderung ist Voraussetzung, dass die Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung gemindert sein muss. Entscheidend ist darauf abzustellen, in welchem Umfang ein Versicherter durch Krankheit oder Behinderung in seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt wird und in welchem Umfang sich eine Leistungsminderung auf die Fähigkeit, erwerbstätig zu sein, auswirkt. Bei einem Leistungsvermögen, das dauerhaft eine Beschäftigung von mindestens sechs Stunden täglich bezogen auf eine Fünf-Tage-Woche ermöglicht, liegt keine Erwerbsminderung im Sinne des § 43 Abs. 1 und Abs. 2 SGB VI vor. Wer noch sechs Stunden unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes arbeiten kann, ist nicht erwerbsgemindert; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI).
Davon ausgehend steht der Klägerin keine Erwerbsminderungsrente zu. Eine Erwerbsminderung aufgrund der bei ihr bestehenden Gesundheitsbeeinträchtigungen ist nicht nachgewiesen. Sie ist nach wie vor dazu in der Lage, zumindest leichten Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes in einem zeitlichen Umfang von sechs Stunden und mehr täglich im Rahmen eine Fünf-Tage-Woche nachzugehen.
Bei der Klägerin lassen sich auf keinem medizinischen Fachgebiet Erkrankungen finden, die für sich betrachtet oder in der Gesamtschau relevante Leistungseinschränkungen in quantitativer Hinsicht begründen könnten.
a) Die Kammer folgt der Leistungseinschätzung des Sachverständigengutachtens durch Dr. W. sowie des bereits vor Beginn des laufenden Rentenverfahren beauftragten Gutachters Dr. N. und den ergänzenden Stellungnahmen von Dr. S. (vom 12.01.2022, 06.03.2022, 30.03.3033 und 03.06.2022), welche die Kammer im Wege des Urkundenbeweises verwertet.
Eine über rein qualitative Einschränkungen hinausgehende, auch quantitative Leistungseinschränkung ist danach nicht feststellbar. Zu einer anderen Beurteilung führen insbesondere auch nicht die Berichte der Psychiatrischen Institutsambulanz des Z. Die Behandler beschreiben darin zwar eine stärkere Psychopathologie. Dies beruht aber darauf, dass die subjektiven Angaben der Klägerin ohne kritische Prüfung auf Konsistenz als gegeben angenommen wurden. Dies liegt an ihrer therapeutischen Rolle. Die Behandler sind bei der Klägerin ja nicht als Gutachter tätig. Nachdem die Klägerin bereits bei der Rentenbegutachtung 2020 offen geäußert hatte, dass sie die PIA- Behandlung nur mitmache, um den MDK und die Krankenkasse zufrieden zu stellen, ist diese Abweichung hinreichend erklärt.
Eine Reduzierung des Restleistungsvermögens auf unter sechs Stunden vermögen auch die Erkrankungen auf orthopädischem Fachgebiet nicht zu begründen, da die dortigen pathologischen Veränderungen keine höhergradigen Bewegungseinschränkungen oder neurologische Defizite an Wirbelsäule, Schulter, Knie bedingen, die länger als sechs Monaten mit sich bringen.
Aus den medizinischen Unterlagen ergibt sich ein klares und eindeutiges Bild der (lediglich qualitativen) Leistungseinschränkungen. Bei einer Gesamtbetrachtung sind dauerhafte gravierende Leistungseinschränkungen damit nicht ersichtlich. Anhaltspunkte dafür, dass bei der Klägerin eine Summierung ungewöhnlicher Leistungsbeeinträchtigungen oder eine spezifische Leistungsbeeinträchtigung gegeben sind, bestehen nicht. Ein Großteil der qualitativen Beschränkungen wird bereits durch den Umstand, dass nur leichte Arbeiten zumutbar sind, mitberücksichtigt. Es ist hier auch nicht von einem verschlossenen Arbeitsmarkt im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) und der dort aufgestellten Kriterien auszugehen (siehe BSG, Urteil vom 30.11.1983, - 5 ARKn 28/82 -; siehe insbesondere auch hierzu den bestätigenden Beschluss des Großen Senats vom 19.12.1996, - GS 2/95 -; siehe auch BSG, Urteil vom 05.10.2005, - B 5 RJ 6/05 R - , alle in juris). Es war im Übrigen im Hinblick auf das zur Überzeugung der Kammer bestehende Restleistungsvermögen von mindestens sechs Stunden pro Arbeitstag unter Berücksichtigung nicht arbeitsmarktunüblicher qualitativer Leistungseinschränkungen zu der Frage, inwieweit welche konkrete Tätigkeit der Klägerin leidensgerecht unzumutbar ist, keine Prüfung durchzuführen, da die jeweilige Arbeitsmarktlage bei einer Leistungsfähigkeit von sechs Stunden täglich oder mehr nicht zu berücksichtigen ist (§ 43 Abs. 3 letzter Halbsatz SGB VI).
Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin nicht in der Lage wäre, einen Arbeitsplatz aufzusuchen, bestehen nicht; bei ihr liegen keine Erkrankungen vor, die sich auf die Gehfähigkeit derart auswirken, dass es ihr nicht mehr möglich wäre, viermal täglich eine Strecke von 500 Metern in einem zumutbaren Zeitaufwand zurückzulegen und öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen.
Ein Anspruch der Klägerin auf Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nach § 240 SGB VI scheidet unabhängig von ihrer beruflichen Qualifikation schon deswegen aus, weil sie nicht vor dem 02.01.1961 geboren ist.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. |