1. Mit der Prävalenzprüfung, bei der der Beklagte zur Ermittlung einer Praxisbesonderheit das Verhältnis der F-Diagnosen nach der PT-Richtlinie zu den abgerechneten GOP 35110 EBM bildet und dieses mit der Prüfgruppe vergleicht, sind Unschärfen verbunden, die bei der Ermessensausübung zu berücksichtigen sind.
2. Eine Vergleichbarkeit mit der Prüfgruppe kann nur hergestellt werden, wenn sowohl die Ermittlung der F-Diagnosen als auch die Abrechnungshäufigkeit der GOP 35110 EBM patientenbezogen erfolgen.
3. Eine zunächst gegen die Prüfungsstelle erhobene Klage kann auf eine Klage gegen den Beschwerdeausschuss umgestellt werden. Es handelt sich nicht um einen gewillkürten Parteiwechsel, sondern um eine schlichte Berichtigung des Passivrubrums im Verhältnis von Widerspruchs- und Ausgangsbehörde.
1. Der Beschluss des Beklagten vom 25. Januar 2018 wird aufgehoben und der Beklagte verpflichtet, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Honorarprüfungen betreffend die Quartale I/2013 und III/2013 bis IV/2014 wegen eines „offensichtlichen Missverhältnisses" im Vergleich zur Fachgruppe (FG) bei der Gebührenordnungsposition (GOP) 35110 (Verbale Intervention bei psychosomatischen Krankheitszuständen) des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs (EBM).
Der Kläger war in der Zeit vom 1. Juli 1983 bis zum 31. Dezember 2014 als Facharzt für Innere Medizin in einer Einzelpraxis in A-Stadt (Hessen) niedergelassen und nahm in dieser Zeit an der vertragsärztlichen Versorgung teil.
Das Prüfverfahren wurde durch die Prüfungsstelle (PS) von Amts wegen eingeleitet. Es wurden folgende Auffälligkeiten festgestellt:
Quartal | Arzt €/pro 100 Fälle | FG €/ pro 100 Fälle | Abw. in % |
1/2013 | 7,53 € / 49 | 1,32 € /9 | + 470,45 |
3/2013 | 7,06 € / 46 | 1,39 € / 9 | + 411,11 |
4/2013 | 6,80 € /44 | 1,32 € / 9 | + 415,15 |
1/2014 | 7,72 € / 50 | 1,49 € / 10 | + 418,12 |
2/2014 | 6,35 € / 41 | 1,34 € / 9 | + 373,88 |
3/2014 | 8,03 € / 52 | 1,38 € / 9 | + 481,00 |
4/2014 | 6,71 € / 43 | 1,36 € / 9 | + 393,38 |
Mit Schreiben vom 19. Februar 2016 teilte die PS dem Kläger die Überprüfung der Wirtschaftlichkeit hinsichtlich seiner Leistungserbringung bezogen auf die GOP 35110 EBM mit und bat um Mitteilung eventuell bestehender Praxisbesonderheiten und kompensatorischer Einsparungen.
In seiner eingereichten Stellungnahme vom 22. Februar 2016 erklärte der Kläger, dass der hohe Anteil an älteren und betreuungsintensiven chronisch Schmerzkranken sowie Demenzkranken und depressiven Patient*innen ein hohes Maß an psychotherapeutischer Betreuung erfordere. Ebenfalls betreue er sehr viele Patient*innen mit Burnout-Syndrom und Erschöpfungszuständen, die ebenfalls einen hohen Bedarf an psychotherapeutischer Betreuung hätten. Weiterhin verursache der hohe Anteil an sehr alten Patienten mit altersbedingten Lebenskrisen durch soziale Isolierung oder Vereinsamung häufig verbale psychotherapeutische Interventionen. Darüber hinaus führe er die Behandlung bei Angststörungen, depressiven Episoden, Suchterkrankungen und psychosomatischen Erkrankungen selbst durch. Es erfolge nur ganz selten eine Überweisung an einen Psychiater. Durch diese Vorgehensweise würde eine kostenintensive Behandlung durch einen Psychotherapeuten bzw. Psychiater vermieden und dementsprechend erhebliche Kosten gespart. Das treffe auch deshalb zu, weil zeitnahe Termine nicht zu bekommen seien und daher sich die Therapiedauer erheblich verlängere. Auch vermeide er durch die akuten verbalen Interventionen bei älteren Demenzkranken und depressiven Patient*innen Krankenhauseinweisungen. Bei Berufstätigen habe er durch intensive Psychotherapie die Arbeitsunfähigkeitszeiten verkürzen oder vermeiden können. Daher halte er seine vertragsärztliche Tätigkeit insgesamt für wirtschaftlich, auch weil im Vergleich zur FG keine wesentlichen Überschreitungen beim Honorar vorgelegen hätten.
Mit Bescheid vom 31. August 2016 erkannte die PS wegen der ermittelten Praxisbesonderheiten hinsichtlich der GOP 35110 EBM einen bestehenden Mehrbedarf in Höhe von +130% bis +211% für die Schwerpunktversorgung an. Die Prävalenzprüfung ergebe in allen sieben Quartalen im Vergleich zur Prüfgruppe ein Mehr. Aus diesem Mehransatz sei eine Praxisbesonderheit abzuleiten. Darüber hinaus beließ die Prüfungsstelle für die GOP 35110 EBM einen weiteren Aufschlag von +100% auf den Fachgruppendurchschnitt. Trotzdem verbleibe eine Überschreitung. Die intellektuelle Prüfung habe ergeben, dass bei vielen Patient*innen keine F-Diagnose verschlüsselt sei. Dies sei jedoch Voraussetzung für den Ansatz der GOP 35110 EBM.
In zwei Fällen sei festgestellt worden, dass die GOP 35110 EBM zweimal am gleichen Tag abgerechnet worden sei.
Die PS setzte sodann in diesem Bescheid die nachfolgenden Brutto-Honorarkürzungen für die GOP 35110 EBM fest:
2,10 € je Fall x 765 Fälle = 1.606,50 € für das 1. Quartal 2013
2,19 € je Fall x 742 Fälle = 1.624,98 € für das 3. Quartal 2013
2,13 € je Fall x 787 Fälle = 1.676,31 € für das 4. Quartal 2013
3,05 € je Fall x 799 Fälle = 2.436,95 € für das 1. Quartal 2014
1,91 € je Fall x 817 Fälle = 1.560,47 € für das 2. Quartal 2014
3,27 € je Fall x 776 Fälle = 2.537,52 € für das 3. Quartal 2014
2,22 € je Fall x 800 Fälle = 1.776,00 € für das 4. Quartal 2014
Insgesamt erfolgte eine Honorarkürzung in Höhe von 13.218,73 € brutto. Dies entsprach einer Nettohonorarkürzung in Höhe von 12.213,89 €.
Mit Schreiben vom 3. September 2016 legte der Kläger fristgerecht Widerspruch gegen den Bescheid der PS ein und führte ergänzend aus, dass in den Quartalen I/2013 und I/2014 Fälle moniert worden seien, bei denen keine Diagnose für eine psychotherapeutische Behandlung angegeben gewesen sei. Auch verwies er darauf, dass im Quartal I/2013 eine Ärztin angestellt gewesen sei.
Zu den beanstandeten Patient*innen ergänzte der Kläger seinen Vortrag wie folgt:
Bei den Patienten C. P. (C61 bösartige Neubildung der Prostata) bei Tumorerkrankung und Lebensbewältigungsschwierigkeiten und D. N. (Z73 - Problem mit Bezug auf Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung) sei aus medizinischer Sicht die Psychotherapie nötig und nachvollziehbar.
Ebenso sei bei E. K. (Bandscheibenverlagerung) mit erheblicher chronischer Schmerzsymptomatik, Reizdarmsyndrom, bei F. D. ## und bösartige Bildung der Brustdrüse bei G. H. die Psychotherapie nötig und nachvollziehbar.
Der Kläger führte weiter aus, dass die Einsparung durch Hausbesuche zwar aufgeführt, aber nicht ausreichend berücksichtigt worden sei. Ferner habe eine Praxis mit Behandlung psychischer Erkrankungen eine andere Praxisstruktur als die durchschnittliche Hausarztpraxis. Dies bedinge somit ganz erhebliche kausale Einsparungen in anderen Bereichen.
Der Beklagte wies den Widerspruch mit Beschluss vom 25. Januar 2018 zurück. Nach den Überprüfungen der PS liege ein offensichtliches Missverhältnis im Vergleich zu den Durchschnittswerten der FG der Allgemeinärzte/hausärztlich tätigen Internisten bei der GOP 35110 EBM vor. Der Vergleich sei nur mit denjenigen Praxen der Vergleichsgruppe, die diese Leistung auch tatsächlich selbst abrechneten, erfolgt. Ein besonderer Zuschnitt der Patientenschaft sei nicht dargetan. Ein hoher Anteil an älteren und betreuungsintensiven Schmerzkranken sowie Demenzkranken und depressiven Patient*innen begründe für sich allein keine Praxisbesonderheit. Der erforderliche Kausalzusammenhang zwischen den klägerseits dargelegten Einsparungen und den erbrachten Leistungen sei nicht hinreichend dargelegt. Jedenfalls sei den Besonderheiten der klägerischen Praxis durch die ICD-10-Prävalenz-Analyse hinreichend Rechnung getragen worden. Dem Kläger sei außergewöhnlich großzügig ein Mehransatz zwischen +230% und +311% im Vergleich zur FG belassen worden.
Gegen diesen Beschluss richtet sich die am 21. Februar 2018 zum Sozialgericht Marburg erhobene Klage, die der Kläger zunächst ausdrücklich gegen den Bescheid der Prüfungsstelle vom 31. August 2016 erhoben hat. Der Beklagte hat sodann mit Schreiben vom 16. März 2018 darauf hingewiesen, dass sich die Klage wohl gegen den Beschluss des Beschwerdeausschusses vom 25. Januar 2018 richte und das Rubrum entsprechend zu berichtigen sei. Daraufhin hat der Kläger mit Schreiben vom 29. März 2018 seine Klageschrift geändert und die Klage ausdrücklich gegen den Beklagten gerichtet.
Der Kläger wiederholt im Wesentlichen seinen Vortrag zu den bestehenden Praxisbesonderheiten aus dem Verwaltungsverfahren. Zudem habe er für das 1. Quartal 2014 nochmals alle 799 Scheine überprüft: Bei 220 Patient*innen sei die GOP 35110 zum Ansatz gekommen. Bei 179 Patient*innen könne die Ziffer einer F-Diagnose, bei weiteren 3 Fällen anderen psychosomatischen bedingten Krankheitsdiagnosen zugeordnet werden. In den übrigen 38 Fällen handele es sich entweder um lebensbedrohliche- oder chronische Schmerzerkrankungen, die eine psychosomatische Intervention erfordert hätten.
Bei seiner Praxis liege grundsätzlich eine psychosomatische Grundorientierung vor. Er gebe der „sprechenden Medizin“ viel Raum.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Beschluss des Beklagten vom 25. Januar 2018 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, ihn unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hält diese bereits für unzulässig. Die Klage sei erst mit Schriftsatz vom 29. März 2018, beim Gericht eingegangen am 4. April 2018, erhoben worden und damit verfristet. Ein gewillkürter Parteiwechsel sei nur innerhalb der Klagefrist zulässig. Die Klage sei vorher gegen die PS gerichtet gewesen. Es handele sich um eine Klageänderung im Sinne von § 99 SGG. Es liege nämlich eine Veränderung des Streitgegenstandes vor.
In materieller Hinsicht sei weiterhin keine Praxisbesonderheit erkennbar, der nicht schon in hinreichender Weise Rechnung getragen worden sei. Praxisbesonderheiten seien regelmäßig durch einen bestimmten Patientenzuschnitt charakterisiert, der z.B. durch eine spezifische Qualifikation des Arztes bedingt sei. Die betroffene Praxis müsse sich nach der Zusammensetzung der Patient*innen und hinsichtlich der schwerpunktmäßig zu behandelnden Gesundheitsstörungen vom typischen Zuschnitt einer Praxis der Vergleichsgruppe unterscheiden, und die Abweichungen müssten sich gerade auf die überdurchschnittlich häufig erbrachten Leistungen auswirken.
Mit Beschluss vom 9. Mai 2018 hat die Kammer die Vertragsparteien der Gesamtverträge nach § 83 SGB V zum Verfahren beigeladen.
Mit Antrag vom 12. November 2018 hat der Kläger gerichtlichen Eilrechtsschutz ersucht (Aktenzeichen S 17 KA 355/18 ER). Seinen Antrag hat er im Erörterungstermin vom 14. Januar 2019 zurückgenommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungsakte des Beklagten sowie die Prozessakte verwiesen, die Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.
Entscheidungsgründe
Das Gericht konnte ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid nach § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) entscheiden. Die Sache hat keine Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art, und der Sachverhalt ist geklärt. Die Beteiligten wurden hierzu auch angehört.
Die Klage ist entgegen der Auffassung des Beklagten zulässig.
Gegenstand des Verfahrens ist nur der Beschluss des Beklagten, nicht auch der der PS. In Verfahren der Wirtschaftlichkeitsprüfung beschränkt sich die gerichtliche Kontrolle auf die das Verwaltungsverfahren abschließende Entscheidung des Beschwerdeausschusses. Dieser wird mit seiner Anrufung für das weitere Prüfverfahren ausschließlich und endgültig zuständig. Sein Bescheid ersetzt den ursprünglichen Verwaltungsakt der Prüfungsstelle, der abweichend von § 95 SGG im Fall der Klageerhebung nicht Gegenstand des Gerichtsverfahrens wird.
Dass die Klage zunächst gegen die PS erhoben wurde und eine Umstellung auf den richtigen Beklagten erst nach Ablauf der einmonatigen Klagefrist erfolgte, führt nicht zu einer Unzulässigkeit der Klage. Denn es handelt sich nicht - wie der Beklagte meint - um einen gewillkürten Parteiwechsel auf Beklagtenseite im Sinne einer Klageänderung nach § 99 Abs. 1 und 2 SGG, sondern nur um eine schlichte Berichtigung des Passivrubrums im Verhältnis von Widerspruchs- und Ausgangsbehörde, die auch noch nach Ablauf der Klagefrist zulässig ist (vgl. BSG, Urteil vom 10. März 2011, B 3 P 1/10 sowie Urteil vom 3. Juli 2012 - B 1 KR 23/11 R; vgl. auch Schmidt in Meyer-Ladewig u.a., SGG, 13. Auflage 2020, § 99 Rn. 6a).
Die Klage ist auch begründet.
Der Beschluss des Beklagten vom 25. Januar 2018 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat einen Anspruch auf Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts.
Rechtsgrundlage für Honorarkürzungen wegen unwirtschaftlicher Behandlungsweise ist § 106 Abs. 2 Satz 4 SGB V i.V.m. der Prüfvereinbarung gemäß § 106 Abs. 3 SGB V, gültig ab 1. Januar 2008 (PV).
Die Wirtschaftlichkeit der Versorgung wird durch arztbezogene Prüfungen ärztlicher und ärztlich verordneter Leistungen nach Durchschnittswerten beurteilt, hier § 10 PV (Auffälligkeitsprüfung). Nach den hierzu von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen ist die statistische Vergleichsprüfung die Regelprüfmethode. Die Abrechnungs- bzw. Verordnungswerte des Arztes werden mit denjenigen seiner Fachgruppe – bzw. mit denen einer nach verfeinerten Kriterien gebildeten engeren Vergleichsgruppe – im selben Quartal verglichen. Ergänzt durch die sog. intellektuelle Betrachtung, bei der medizinisch-ärztliche Gesichtspunkte berücksichtigt werden, ist dies die Methode, die typischerweise die umfassendsten Erkenntnisse bringt.
Vorliegend hat der Beklagte den Kläger mit der Prüfgruppe 101-33 (voll zugelassene Allgemeinärzte/hausärztliche Internisten in Hessen) vorgenommen worden, soweit diese die GOP 35110 EBM auch tatsächlich abrechneten. Dies ist zur Überzeugung der Kammer nicht zu beanstanden.
Ergibt die Prüfung, dass der Behandlungsaufwand des Arztes je Fall bei dem Gesamtfallwert, bei Sparten- oder bei Einzelleistungswerten in einem offensichtlichen Missverhältnis zum durchschnittlichen Aufwand der Vergleichsgruppe steht, d. h., ihn in einem Ausmaß überschreitet, das sich im Regelfall nicht mehr durch Unterschiede in der Praxisstruktur oder in den Behandlungsnotwendigkeiten erklären lässt, hat das die Wirkung eines Anscheinsbeweises der Unwirtschaftlichkeit (BSG, Urteil vom 16. Juli 2003, B 6 KA 45/02). Von welchem Grenzwert an ein offensichtliches Missverhältnis anzunehmen ist, entzieht sich einer allgemein verbindlichen Festlegung (BSG, Urteil vom 15. März 1995, 6 RKa 37/93). Nach der Rechtsprechung des BSG liegt zwischen dem Bereich der normalen Streuung, der Überschreitungen um bis zu ca. 20 % erfasst, und der Grenze zum sog. offensichtlichen Missverhältnis der Bereich der Übergangszone. Die Grenze zum sog. offensichtlichen Missverhältnis hat das BSG früher bei einer Überschreitung um ca. 50 % angenommen. Seit längerem hat es – unter bestimmten Voraussetzungen – auch niedrigere Werte um ca. 40 % ausreichen lassen. Die Prüfgremien haben einen Beurteilungsspielraum, die Grenze zum offensichtlichen Missverhältnis höher oder niedriger festzulegen.
Jedenfalls ist nicht zu beanstanden, wenn der Beklagte den Vergleichsgruppendurchschnitt als Bezugswert ansetzt. Diese Bezugswerte hat der Kläger in den streitgegenständlichen Quartalen jeweils um mehrere hundert Prozent überschritten, so dass der Anscheinsbeweis der Unwirtschaftlichkeit rein statistisch geführt ist.
Das BSG stellt jedoch in ständiger Rechtsprechung klar, dass die statistische Betrachtung nur einen Teil der Wirtschaftlichkeitsprüfung ausmacht und durch eine sog. intellektuelle Prüfung und Entscheidung ergänzt werden muss, bei der die für die Frage der Wirtschaftlichkeit relevanten medizinisch-ärztlichen Gesichtspunkte, wie das Behandlungsverhalten und die unterschiedlichen Behandlungsweisen innerhalb der Arztgruppe und die bei dem geprüften Arzt vorhandenen Praxisbesonderheiten, in Rechnung zu stellen sind (BSG, Urteil vom 9. März 1994, 6 RKa 17/92). Diese Gesichtspunkte sind nicht erst in einem späteren Verfahrensstadium oder nur auf entsprechende Einwendungen des Arztes/der Ärztin, sondern bereits auf der ersten Prüfungsstufe von Amts wegen mit zu berücksichtigen; denn die intellektuelle Prüfung dient dazu, die Aussagen der Statistik zu überprüfen und ggf. zu korrigieren. Erst aufgrund einer Zusammenschau der statistischen Erkenntnisse und der den Prüfgremien erkennbaren medizinisch-ärztlichen Gegebenheiten lässt sich beurteilen, ob die vorgefundenen Vergleichswerte die Annahme eines offensichtlichen Missverhältnisses und damit den Schluss auf eine unwirtschaftliche Behandlungsweise rechtfertigen.
Denn auch nach den Regeln des Anscheinsbeweises kann aus einer Überschreitung des Vergleichsgruppendurchschnitts nur dann auf eine Unwirtschaftlichkeit geschlossen werden, wenn ein solcher Zusammenhang einem typischen Geschehensablauf entspricht, also die Fallkostendifferenz ein Ausmaß erreicht, bei dem erfahrungsgemäß von einer unwirtschaftlichen Behandlungsweise auszugehen ist. Ein dahingehender Erfahrungssatz besteht aber nur unter der Voraussetzung, dass die wesentlichen Leistungsbedingungen des geprüften Arztes/der geprüften Ärztin mit den wesentlichen Leistungsbedingungen der verglichenen Ärzte übereinstimmen. Der Beweiswert der statistischen Aussagen wird eingeschränkt oder ganz aufgehoben, wenn bei der geprüften Arztpraxis besondere, einen höheren Behandlungsaufwand rechtfertigende Umstände vorliegen, die für die zum Vergleich herangezogene Gruppe untypisch sind. Sind solche kostenerhöhenden Praxisbesonderheiten bekannt oder anhand der Behandlungsweise oder der Angaben des Arztes/der Ärztin erkennbar, so müssen ihre Auswirkungen bestimmt werden, ehe sich auf der Grundlage der statistischen Abweichungen eine verlässliche Aussage über die Wirtschaftlichkeit oder Unwirtschaftlichkeit der Behandlungsweise treffen lässt. Das gilt umso mehr, als mit der Feststellung des offensichtlichen Missverhältnisses eine Verschlechterung der Beweisposition des Arztes verbunden ist, die dieser nur hinzunehmen braucht, wenn die Unwirtschaftlichkeit nach Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Falles als bewiesen angesehen werden kann (BSG, Urteil vom 9. März 1994, 6 RKa 17/92). Die Wirtschaftlichkeit einzelner Leistungen darf also nicht losgelöst von der Gesamttätigkeit und den Gesamtfallkosten des Vertragsarztes beurteilt werden (vgl. BSG, Urteil vom 16. Juli 2003, B 6 KA 45/02 R).
Der Beklagte hat zutreffend eine Praxisbesonderheit des Klägers anerkannt.
Als Praxisbesonderheiten des geprüften Arztes kommen nur solche Umstände in Betracht, die sich auf das Behandlungs- oder Verordnungsverhalten des Arztes auswirken und in den Praxen der Vergleichsgruppe typischerweise nicht oder nicht in derselben Häufigkeit anzutreffen sind. Für die Anerkennung einer Praxisbesonderheit ist es deshalb nicht ausreichend, dass bestimmte Leistungen in der Praxis eines Arztes erbracht werden. Vielmehr muss substantiiert dargetan werden, inwiefern sich die Praxis gerade in Bezug auf diese Merkmale von den anderen Praxen der Fachgruppe unterscheidet (BSG, Urteil vom 21. Juni 1995, 6 RKa 35/94). Die betroffene Praxis muss sich nach der Zusammensetzung der Patient*innen und hinsichtlich der schwerpunktmäßig zu behandelnden Gesundheitsstörungen vom typischen Zuschnitt einer Praxis der Vergleichsgruppe unterscheiden, und diese Abweichung muss sich gerade auf die überdurchschnittlich häufig erbrachten Leistungen auswirken (BSG, Urteil vom 23. Februar 2005, B 6 KA 79/03 R). Ein bestimmter Patientenzuschnitt kann z. B. durch eine spezifische Qualifikation des Arztes, etwa aufgrund einer Zusatzbezeichnung bedingt sein (vgl. BSG, Urteil vom 6. September 2000, B 6 KA 24/99 R). Es muss sich um Besonderheiten bei der Patientenversorgung handeln, die vom Durchschnitt der Arztgruppe signifikant abweichen und die sich aus einem spezifischen Zuschnitt der Patientenschaft des geprüften Arztes ergeben, der im Regelfall in Wechselbeziehung zu einer besonderen Qualifikation des Arztes steht. Ein Tätigkeitsschwerpunkt allein stellt nicht schon eine Praxisbesonderheit dar (BSG, Urteil vom 6. Mai 2009, B 6 KA 17/08 R).
Unter Beachtung dieser Grundsätze ist der angefochtene Bescheid hinsichtlich des „Ob“ der Anerkennung von Praxisbesonderheiten nicht zu beanstanden.
Die Kammer beanstandet hingegen den streitgegenständlichen Beschluss des Beklagten insoweit, als der Beklagte das ihm obliegende Ermessen hinsichtlich der Höhe der anzuerkennenden Praxisbesonderheit nicht in hinreichend präziser Weise ausgeübt hat.
Grundsätzlich ist dem Beklagten einzuräumen, hinsichtlich des durch Besonderheiten erhöhten Abrechnungsvolumens den verursachten Mehraufwand zu schätzen (BSG, Urteil vom 6. Mai 2009, B 6 KA 17/08 R). Bei dieser Schätzung und Festlegung der Höhe der Honorarkürzungen hat der Beklagte einen weiten Beurteilungsspielraum, der eine ganze Bandbreite denkbarer vertretbarer Entscheidungen bis hin zur Kürzung des gesamten unwirtschaftlichen Mehraufwandes ermöglicht (BSG, Urteil vom 2. November 2005, B 6 KA 53/04 R). Auch eine Schätzung muss jedoch die vorhandenen Erkenntnismöglichkeiten zur Quantifizierung der Praxisbesonderheit nutzen.
Der Beklagte geht zwar vom Vorliegen einer Praxisbesonderheit aufgrund der von der Prüfungsstelle im Rahmen der Prävalenzprüfung festgestellten Häufigkeit der psychischen Erkrankungen und Verhaltensstörungen beim Patientenklientel des Klägers aus und ermittelt die Praxisbesonderheit auch quartalsweise.
Grundsätzlich hält die Kammer die Vorgehensweise des Beklagten, Prävalenzen zu ermitteln und daraus Rückschlüsse auf die Quantität der Praxisbesonderheit zu ziehen für sehr geeignet, um Praxisbesonderheiten festzustellen. Dies ist jedoch nicht 1:1 möglich (SG Marburg, Urteil vom 16. November 2022, S 17 KA 234/21, nicht rechtskräftig). Soweit der Beklagte die Praxisbesonderheit ausschließlich in Bezug auf eine im Rahmen der Prävalenzprüfung ermittelte Diagnosehäufung bei der GOP 35110 EBM stützt, ist dies zur Überzeugung der Kammer zu beanstanden.
Die Kammer hat bereits mehrfach entschieden, dass bei der Bemessung der Höhe der Praxisbesonderheit zu berücksichtigen ist, dass die Prävalenzprüfung fallbezogen durchgeführt wird, während sich die Überschreitung bei der Einzelziffer nach deren Ansatzhäufigkeit – die gerade keinen Fallbezug aufweist (vgl. SG Marburg, S 17 KA 346/15) – richtet. Die Prävalenzen werden nach der Häufigkeit der Diagnoseerfassung ermittelt. Da alle Diagnosen erfasst werden, fließen Patienten mehrfach in die Bewertung ein, bei denen mehrere der relevanten Diagnosen parallel kodiert wurden. Nicht berücksichtigt wird hingegen die Anzahl der pro Diagnose abgerechneten GOP. Dies führt dazu, dass die Prävalenzwerte in zwei Richtungen eine Unschärfe aufweisen. Einerseits werden Patienten mit einer Diagnosehäufung (von zwei und mehr F-Diagnosen) mehrfach erfasst. Andererseits werden Mehrfachabrechnungen der Ziffer – bei nur einer Diagnose – nicht erfasst. Es ist davon auszugehen, dass diese Streubreite grundsätzlich in der gesamten Vergleichsgruppe vertreten ist, wobei jedoch nicht ausgeschlossen werden kann, dass – gerade in Praxen mit psychosomatischem Schwerpunkt – aufgrund der Schwere und der Regelmäßigkeit der dort behandelten Erkrankungen eine überdurchschnittliche Häufung der Abrechnungsziffern auftritt, die bei der Prävalenzermittlung nicht berücksichtigt ist. Insofern hält die Kammer an der Auffassung fest, dass der Wert der Prävalenzen ein bedeutender Orientierungswert für das Ausmaß einer Praxisbesonderheit ist, keinesfalls aber für die betroffenen Kläger*innen der Weg verschlossen ist, darüberhinausgehend eine überdurchschnittliche Abrechnungshäufigkeit zu belegen.
Zur Überzeugung kann eine Vergleichbarkeit mit der Fachgruppe nur dann hergestellt werden, wenn sowohl bei der Ermittlung der F-Diagnosen als auch bei der Abrechnungshäufigkeit der GOP 35110 patientenbezogen vorgegangen wird. So lassen sich die Unschärfen, die sowohl durch eine Häufung von F-Diagnosen bei einzelnen Patient*innen auftreten als auch durch eine Mehrfachabrechnung bei einzelnen Patient*innen auftreten vollständig vermeiden.
Grundsätzlich hält die Kammer zudem an ihrer Rechtsprechung (Urteil vom 19. Juni 2019, S 17 KA 409/17) dahingehend fest, dass es an einer Vorschrift fehlt, die die Angabe einer F-Diagnose bereits in der Abrechnung als Voraussetzung für die Erbringung der hier streitigen GOP 35110 EBM vorsieht und deshalb den Ausschluss weiteren Tatsachenvortrages rechtfertigen könnte. Aus den EBM Ziffern ergibt sich keine Pflicht zur Angabe einer bestimmten Diagnose, es sind auch keine bestimmten Diagnosen aufgezählt, die Voraussetzung für die Leistungserbringung wären. Die GOP 35110 EBM sieht allein eine mindestens 15minütige Arzt-Patienten-Interaktion bei psychosomatischen Krankheitszuständen vor.
Die PT-RL lautet in § 22 Abs. 1 wie folgt:
„(1) Indikationen zur Anwendung von Psychotherapie gemäß Abschnitt B und Maßnahmen der Psychosomatischen Grundversorgung gemäß Abschnitt C der Richtlinie bei der Behandlung von Krankheiten können nur sein:
1. Affektive Störungen: depressive Episoden, rezidivierende depressive Störungen, Dysthymie;
2. Angststörungen und Zwangsstörungen;
3. Somatoforme Störungen und Dissoziative Störungen (Konversionsstörungen);
4. Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen;
5. Essstörungen;
6. Nichtorganische Schlafstörungen;
7. Sexuelle Funktionsstörungen;
8. Persönlichkeitsstörungen und Verhaltensstörungen;
9. Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend.“
Die hier streitige Leistung der GOP 35110 ist im Kapitel 35 EBM genannt, das überschrieben ist mit: Leistungen gemäß den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Durchführung der Psychotherapie (Psychotherapie-Richtlinien). Sie fallen also unter die PT-RL und sind daher nur bei Vorliegen der in § 22 Abs. 1 PT-RL genannten Indikationen wirtschaftlich. Jedoch folgt daraus nicht, dass diese Indikationen nur dann gegeben sind, wenn sie als F-Diagnosen in der Abrechnung benannt sind. Vielmehr ist insoweit die Patientendokumentation des Arztes/der Ärztin zu prüfen. Die PT-RL selbst erfordert eine Dokumentation allein in § 12. Danach erfordern Leistungen der psychosomatischen Grundversorgung eine schriftliche Dokumentation der diagnostischen Erhebungen und der wesentlichen Inhalte der psychotherapeutischen Interventionen. Daraus ergibt sich aber nicht, dass die Diagnosen als Abrechnungsdiagnosen anzugeben sind, vielmehr ist eine entsprechende Patientendokumentation in den Unterlagen des Vertragsarztes/der Vertragsärztin vorgesehen, die dann auch vom Beklagten zu prüfen ist (so auch SG Berlin, Urteil vom 9. Januar 2019, S 87 KA 77/18). Es erscheint zur Überzeugung der Kammer denkbar, dass die GOP 35110 EBM auch bei anderen Diagnosen, z.B. Krebserkrankungen oder Schmerzpatient*innen angesetzt wird, wie sie auch der Kläger im vorliegenden Fall dargelegt hat. Beispielhaft kommt dies auch im Rahmen der Reproduktionsmedizin in Betracht, was die Kammer ebenfalls bereits entschieden hat (vgl. Urteile vom 12. Oktober 2022, S 17 KA 12/18 und S 17 KA 13/18). Allein diese Feststellung untermauert die Tatsache, dass eine rein statistische Betrachtung nach Prävalenzen im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung nicht ausreichend ist, sofern Anhaltspunkte für eine Besonderheit bestehen.
Jedoch können den Prüfgremien insoweit keine Ermittlungen ins Blaue hinein zugemutet werden, sondern es obliegt dem Vertragsarzt/der Vertragsärztin, die Behandlungsfälle, bei denen keine F-Diagnose angesetzt wurde und dennoch Anlass für eine psychosomatische Grundversorgung bestand, auf Anforderung der Prüfgremien substantiiert darzulegen.
Darüber hinaus hat die PS völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass ein Ansatz der GOP 35110 EBM an einem Tag nur einmalig erfolgen kann. Soweit der Kläger diese Vorgabe an 2 Tagen nicht beachtet hat, vermag allein dieser Umstand in jedoch in quantitativer Hinsicht keine Unwirtschaftlichkeit zu begründen.
In nicht zu beanstandender Weise hat der Beklagte auch kompensatorische Ersparnisse verneint. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts kann ein Mehraufwand in einem Bereich der ärztlichen Behandlung/Verordnung nur dann durch anderweitige Einsparungen als kompensiert angesehen werden, wenn belegt bzw. nachgewiesen ist, dass gerade durch den Mehraufwand die Einsparungen erzielt werden und dass diese Behandlungsart medizinisch gleichwertig sowie auch insgesamt kostensparend und damit wirtschaftlich ist (BSG, Urteil vom 28. Januar 1998 - B 6 KA 69/96 R). Ein solcher Nachweis wurde vorliegend vom Kläger nicht geführt.
Aus den genannten Gründen musste die Klage dennoch vollumfänglich Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG in Verbindung mit § 154 VwGO und folgt der Entscheidung in der Hauptsache.