L 8 SB 1416/22

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Schwerbehindertenrecht
Abteilung
8.
1. Instanz
SG Reutlingen (BWB)
Aktenzeichen
S 8 SB 1197/20
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 SB 1416/22
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 27.04.2022 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 


Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist im Rahmen eines Erstfeststellungsverfahrens die Höhe des bei der Klägerin vorliegenden Grades der Behinderung (GdB) streitig.

Die 1980 geborene Klägerin ist als Steuerfachangestellte in Teilzeit tätig und beantragte am 21.10.2019 erstmals bei dem Beklagten unter Vorlage des Rehabilitationsentlassungsberichtes vom 01.10.2019 der Kliniken S1 über die stationäre Maßnahme zur medizinischen Rehabilitation) die Feststellung eines GdB für die Zeit seit dem 01.01.2019. Der Bericht enthielt die Diagnosen Multiple Sklerose (Enzephalomyelitis disseminata) mit schubförmigem Verlauf EDSS von 3,0 (Expanded Disability Status Scale zur Bewertung des Schweregrades der Multiplen Sklerose - Skala von 1,0 = keine Behinderung, minimale Abnormität in einem FS bis 9,5 = gänzlich hilfloser Patient, unfähig zu essen, zu schlucken oder zu kommunizieren und 10,0 = Tod infolge MS), organische emotional labile (asthenische) Störung, reaktive Depression von Februar bis April 2019 sowie Fatigue (Erschöpfungssyndrom).

Der Beklagte befragte den M1, welcher fachärztliche Befundberichte übersandte. Die B1 schlug in einer Stellungnahme vom 09.12.2019 vor, bei der Klägerin als Funktionsbeeinträchtigungen eine Multiple Sklerose, ein Fatiguesyndrom, eine seelische Störung, eine reaktive depressive Störung und Empfindungsstörungen zu berücksichtigen und mit einem GdB 40 zu bewerten. Der Zustand nach Retrobulbärneuritis (entzündliche oder autoimmune Erkrankung des Sehnervs) rechts bedinge keinen GdB von mindestens 10.

Der Beklagte stellte entsprechend der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 09.12.2019 mit Bescheid vom 10.12.2019 bei der Klägerin einen GdB 40 seit 01.01.2019 fest.

Die Klägerin legte mit Schreiben vom 10.01.2020 Widerspruch ein. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen an, der Beklagte habe die bei ihr vorliegenden Funktions-beeinträchtigungen zu gering bewertet. Die bei ihr bestehende Abgeschlagenheit beeinträchtige sie in allen Lebensbereichen massiv.

Der Beklagte befragte die behandelnde F1, welche am 14.02.2020 mitteilte, dass eine schwere Fatiguesymptomatik mit Erschöpfung im Vordergrund stehe, welche die Klägerin bei ihrer Teilzeitberufstätigkeit und der Verrichtung des Haushaltes schwergradig einschränke. Dies werde durch den EDSS von 2,0 überhaupt nicht berücksichtigt. E1 schlug in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 17.04.2020 vor, an der bisherigen Bewertung festzuhalten. Die Neurologin habe einen EDSS von 1,0 angegeben, Medikamente würden nicht eingenommen und durch die Rehabilitationsmaßnahme und in der Zeit der Arbeitsunfähigkeit habe sich der Zustand verbessert.

Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 04.05.2020 unter Verweis auf die Ausführungen von E1 zurück.

Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat am 29.05.2020 Klage beim Sozialgericht Reutlingen (SG) erhoben. Zur Begründung hat er ausgeführt, dass die Bewertung des Beklagten nicht den Befund der die Klägerin behandelnden F1 berücksichtige, wonach der EDSS von 2,0 die bei der Klägerin vorliegende schwerwiegende Fatiguesymptomatik nicht erfasse. Bei der Klägerin bestehe eine ausgeprägte Fatiguesymptomatik. Nach teilschichtiger Berufstätigkeit sei die Klägerin derart erschöpft, dass sie ihren Haushalt kaum bewältigen könne. Des Weiteren liege bei der Klägerin eine reaktive Depression, mittelgradig, eher chronisch entwickelt vor. Zusammen mit den von dem Beklagten zugrunde gelegten Beeinträchtigungen sei eine Feststellung der Behinderung mit GdB 50 gerechtfertigt.

Das SG hat Beweis erhoben durch schriftliche Vernehmung der die Klägerin behandelnden Ärzte als sachverständige Zeugen.

Der Chefarzt der Klinik für Neurologie des SRH Krankenhauses S2 N1 hat den Bericht über die ambulante Behandlung der Klägerin am 23.10.2015 im Krankenhaus S2, Klinik für Neurologie übersandt.

Die F1 hat mit Schreiben vom 19.10.2020 mitgeteilt, sie behandele die Klägerin seit der Erstdiagnose der Multiplen Sklerose 2009 mindestens einmal im Quartal. Aufgrund einer Retrobulbärneuritis bestehe eine leichte Sehstörung, da sich der Visus nach der Entzündung nicht mehr vollständig erholt habe, mit Gesichtsfeldeinschränkungen auf einem Auge. Es bestehe eine leichte Gangstörung (Gangataxie) bei Sensibilitätsstörungen in beiden Oberschenkeln. Die größte Einschränkung bestehe durch eine schwere Fatiguesymptomatik mit Erschöpfung nach kurzer Arbeitszeit. Die Fatiguesymptomatik betreffe sowohl motorische als auch kognitive Fähigkeiten. Es bestehe zwar formal ein EDSS von 2,0. Dieser berücksichtige aber die Fatiguesymptomatik nicht. Die Klägerin sei nach ihrer beruflichen Arbeit kaum noch in der Lage, den Haushalt zu versorgen, obwohl sie nur in Teilzeit arbeite. Längere Spaziergänge seien aufgrund der motorischen Fatigue eingeschränkt. Aufgrund der zunehmenden Fatiguesymptomatik habe die Klägerin eine mittelgradige chronische Depression entwickelt. Sie wirke oft niedergeschlagen und habe Ein- und Durchschlafstörungen. Die Versorgung der Kinder sei durch die Depression eingeschränkt.

Der Beklagte hat mit Schreiben vom 09.03.2021 zu den sachverständigen Zeugenaussagen vorgetragen, dass sich keine anderweitige Bewertung ergebe. N2 habe die Klägerin einmalig am 23.10.2015 behandelt. Auch die sachverständige Zeugenaussage von F1 habe keine neuen Erkenntnisse erbracht. Bei einem bestätigtem EDSS-Score von 2,0 könne kein höherer GdB als 40 festgestellt werden. Hierbei seien das Fatiguesyndrom und die seelische Störung mitbewertet.

Das SG hat S3 mit der Erstellung eines neurologisch-psychiatrischen Gutachtens von Amts wegen beauftragt. In seinem am 15.10.2021 erstellten Gutachten hat S3 eine Multiple Sklerose mit leichten motorischen und koordinativen Störungen, einer Sehstörung rechts und deutlicher Minderung der Ausdauerbelastung diagnostiziert. Als Gesamt-GdB hat S3 bei der Klägerin 50 vorgeschlagen mit der Begründung, die allein an den zerebralen und spinalen Ausfällen orientierte Einstufung werde dem Krankheitsbild der Klägerin nicht gerecht, da die deutlich eingeschränkte Ausdauerbelastung damit nicht ausreichend berücksichtigt werde.

Der Beklagte hat mit Schreiben vom 08.03.2022 eine versorgungsmedizinische Stellungnahme von B2 vom 06.02.2022 eingereicht, wonach nach den von S3 erhobenen Befunden von einem Normalbefund auszugehen sei. Für das organische Nervenleiden werde ein EDSS-Score von 2,5 von ihm vorgeschlagen. Die behandelnde Nervenärztin habe ein EDSS von 2,0 mitgeteilt, im Jahr 2019 habe ein EDSS von 3,0 bestanden. Dies bedinge auf dem neurologischen Fachgebiet einen Einzel-GdB zwischen 20 und 30. In der Zusammenschau auch mit der vermehrten Erschöpfbarkeit sei der bereits vergebene Einzel-/Gesamt-GdB von 40 weiterhin sachgerecht.

Das SG hat mit Urteil vom 27.04.2022 die Klage abgewiesen. Die Klägerin leide unter Multipler Sklerose. Diese sei mit einem GdB 20 zu bewerten. Nach den VG Teil B Ziff. 3.10 richte sich der GdB bei Multipler Sklerose vor allem nach den zerebralen und spinalen Ausfallerscheinungen. Zusätzlich sei die aus dem klinischen Verlauf sich ergebende Krankheitsaktivität zu berücksichtigen. Der klinische Verlauf der Krankheit habe sich zunächst in einer Entzündung des Sehnervs 2009 geäußert, die sich wieder zurückgebildet habe. Verblieben sei eine Vernarbung, die sich in einem eingeschränkten Gesichtsfeld, einer Helligkeits- und Blendempfindlichkeit, äußere, und die Klägerin Farben je nach Auge unterschiedlich wahrnehmen lasse. Eine Einschränkung z.B. beim Führen eines Fahrzeuges ergebe sich daraus aber nicht. Die bei der Klägerin aktuell bestehenden Ausfallerscheinungen seien leichtgradig. Dem Gutachten von S3 sei zu entnehmen, dass bei der neurologischen Prüfung ein leichtes Absinken des linken Armes und des rechten Beines festgestellt worden seien. Muskelatrophien, Paresen, Rigor oder Tremor hätten nicht bestanden. Das Gangbild der Klägerin habe S3 als unauffällig beschrieben. Auffällig seien Zielbewegungen mit leichter Dysmetrie links gewesen. Die Sensibilität sei weder an der Oberfläche noch in der Tiefe auffällig gewesen. Die Klägerin habe auch angegeben, dass sie rein motorisch keine Schwierigkeiten habe zu gehen. Sie sei vielmehr durch die schnelle Erschöpfbarkeit und der damit verbundenen Gehstreckenlimitierung eingeschränkt. Der sachverständigen Zeugenaussage von F1 sei zu entnehmen, dass sie den bei der Klägerin vorliegenden EDSS mit 2,0 bewerte. Dies entspreche nach dem EDSS einer minimalen Behinderung in einem Funktionssystem. Diese Einschätzung sei auch angesichts der von S3 erhobenen Befunde schlüssig und nachvollziehbar. S3 habe in seinem Gutachten ausgeführt, die allein anhand der spinalen und zerebralen Ausfallerscheinungen orientierte Einschätzung werde den Einschränkungen der Klägerin nicht gerecht. Der Gutachter verkenne aber hier, dass die Funktionsbeeinträchtigungen entsprechend den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen als Anlage zur Versorgungsmedizinverordnung einzuordnen seien und eine Orientierung an den dort genannten Grundsätzen zu erfolgen habe. Dementsprechend sei für die Multiple Sklerose bei der Klägerin entsprechend dem EDSS 2 ein GdB 20 festzustellen.

Der Tatsache, dass die Klägerin durch die Fatiguesymptomatik wesentlich beeinträchtigt werde, sei dadurch Rechnung zu tragen, dass diese gesondert zu berücksichtigen sei. Diese sei mit einem GdB 30 zu bewerten. Nach den VG Teil B Ziff. 18.4 seien Somatisierungssyndrome wie Fibromyalgie, das Chronische Fatigue Syndrom (CFS), die Multiple Chemical Sensitivity (MCS) und ähnliche Syndrome jeweils im Einzelfall entsprechend der funktionellen Auswirkungen analog zu beurteilen. Die Klägerin sei in ihrer Teilhabe entsprechend einer wesentlichen Einschränkung ihrer Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit eingeschränkt. Das Leistungsvermögen sei schwankend mit guten und schlechten Tagen. Durchweg bestehe ein nicht erholsamer Nachtschlaf, aus dem die Klägerin müde und mit schweren Beinen erwache. Dennoch seien eine Berufstätigkeit und auch die Hilfe im Betrieb der Mutter sowie Mitarbeit im Haushalt möglich. Im Durchschnitt sei daher ein GdB von 30 angemessen. Eine psychische Funktionsbeeinträchtigung im Sinne einer depressiven Störung habe der Gutachter nicht mehr festgestellt. Es werde weder eine therapeutische noch eine medikamentöse Behandlung in Anspruch genommen. Daher sei ein GdB gesondert hierfür nicht festzustellen.

Aufgrund der bei der Klägerin im Funktionssystem Nerven/Psyche bestehenden Einzel-GdB-Werte von 30 für das Fatiguesyndrom und von 20 für die Multiple Sklerose sei ein GdB von 40 bei der Klägerin insgesamt angemessen. Hierbei sei auch zu berücksichtigen, dass bei der Bewertung der Multiplen Sklerose ein gewisses Maß an Erschöpfung – wie dies bei einer solchen Erkrankung nach der Aussage von S3 immer vorkomme– bereits mitberücksichtigt sei. Eine doppelte Berücksichtigung könne nicht erfolgen. Ein GdB von 50 und mithin die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft komme entgegen der Auffassung des Gutachters S3 nicht in Betracht.

Der Prozessbevollmächtigte hat gegen das ihm am 02.05.2022 zugestellte Urteil am 11.05.2022 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) eingelegt. Er hat zur Begründung auf das Gutachten von S3 sowie die sachverständige Zeugenaussage von F1 verwiesen. Das SG habe sich aufgrund eigener Sachkunde den Ausführungen des Sachverständigen in erster Instanz nicht angeschlossen. Es sei der Meinung, dass die festgestellte psychische Funktionsbeeinträchtigung im Sinne einer depressiven Störung nicht gegeben sei, obwohl dies sowohl von F1 als auch von dem Sachverständigen S3 festgestellt worden sei. Das SG rüge, dass F1 keine Befunde mitgeteilt habe, die eine Abgrenzung zu der bestehenden Fatiguesymptomatik der bei einer chronisch unheilbaren Krankheit zeitweise bestehenden und nachvollziehbarer Niedergeschlagenheit zulassen würde. Dem sei nicht zuzustimmen. Selbst wenn man dem zustimmen müsse, hätte eine ergänzende Begutachtung zu dieser Frage in Auftrag gegeben werden müssen. Das Urteil erweise sich demzufolge als fehlerhaft und sei deshalb aufzuheben.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 27.04.2022 aufzuheben und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 10.12.2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.05.2020 zu verurteilen, bei der Klägerin einen GdB 50 ab dem 01.01.2019 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Beklagte hat zur Berufungserwiderung auf die Begründung in den angefochtenen Bescheiden sowie im Urteil vom 27.04.2022 verwiesen. Das SG habe sich bei seiner Entscheidungsfindung ausführlich mit den vorliegenden ärztlichen Befundberichten und insbesondere mit dem nervenärztlichen Gutachten von S3 auseinandergesetzt und detailliert dargelegt, weshalb bei der Klägerin kein höherer Gesamt-GdB als 40 festgestellt werden könne.

Der Senat hat L1, der Neurologischen Universitätsklinik U1, mit der Erstellung eines neurologischen Gutachtens sowie U2 mit der Erstellung eines neuropsychologischen Zusatzgutachtens von Amts wegen beauftragt. U2 hat in seinem neuropsychologischen Zusatzgutachten vom 20.01.2023 ausgeführt, dass die neuropsychologische Untersuchung eine deutlich geminderte Dauerbelastbarkeit ergeben habe. L1 hat in seinem Gutachten vom 07.02.2023 eine Enzephalomyelitis disseminata, EDSS 2,0 mit schubförmigem Verlauf, bisher 2 Schübe, und klinisch diskreter Ataxie links, kognitiver und motorischer Fatigue und leichter Störung der Dauer-aufmerksamkeit diagnostiziert. Auf neurologischem Fachgebiet sei für die Ataxie ein GdB von 10 und für die neuropsychologischen Defizite inklusive Fatigue ein GdB von 40 als Maximalwert für eine leichte kognitive Störung anzusetzen. Der neurologische Gesamt-GdB betrage 40.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 SGG erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Ge-richtsakte und die Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die gemäß §§ 143 und 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte, nach § 151 SGG form- und fristgerechte sowie auch im Übrigen zulässige Berufung der Klägerin, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 SGG entscheiden konnte, ist nicht begründet.

Gegenstand des Berufungsverfahrens ist die Verpflichtung des Beklagten den GdB der Klägerin mit 50 seit dem 01.01.2019 festzustellen. Dieses Ziel verfolgt die Klägerin zulässigerweise mit der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage im Sinne des § 54 Abs. 1 Satz 1 SGG. Die Klägerin hat jedoch keinen Anspruch auf Feststellung eines GdB von mehr als 40. Das angefochtene Urteil des SG ist nicht zu beanstanden.

Rechtsgrundlage für die GdB-Feststellung ist § 2 Abs. 1 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung in Verbindung mit § 152 Abs. 1 und 3 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung. Nach § 2 Abs. 1 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Nach § 2 Abs. 1 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung sind Menschen mit Behinderungen Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate hindern können, wobei eine Beeinträchtigung in diesem Sinne vorliegt, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. 

Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX in den bis zum 14.01.2015 und 29.12.2016 geltenden Fassungen stellen die für die Durchführung des BVG zuständigen Behörden auf Antrag eines behinderten Menschen in einem besonderen Verfahren das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung beziehungsweise nach § 152 Abs. 1 Satz 1 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung gilt ergänzend, dass der GdB zum Zeitpunkt der Antragstellung festgestellt wird. Als GdB werden dabei nach § 69 Abs. 1 Satz 4 und 5 SGB IX in den bis zum 14.01.2015 und 29.12.2016 gelten-den Fassungen, nach § 69 Abs. 1 Satz 5 und 6 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung beziehungsweise nach § 152 Abs. 1 Satz 5 und 6 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach Zehnergraden abgestuft festgestellt, wobei eine Feststellung hierbei nur dann zu treffen ist, wenn ein GdB von wenigstens 20 vorliegt.

Nach § 70 Abs. 2 SGB IX in der bis zum 29.12.2016 geltenden Fassung wird das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates die Grundsätze aufzustellen, die für die medizinische Bewertung des GdB und die medizinischen Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen maßgebend sind, die nach Bundes-recht im Schwerbehindertenausweis einzutragen sind. Nach § 70 Abs. 2 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung beziehungsweise nach § 153 Abs. 2 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung gilt diese Ermächtigung für die allgemeine – also nicht nur für die medizinische – Bewertung des GdB und die Voraussetzungen für die Vergabe von Merkzeichen sowie auch für die Kriterien für die Bewertung der Hilflosigkeit. Zwar ist von dieser Ermächtigung noch kein Gebrauch gemacht worden. Indes bestimmt § 159 Abs. 7 SGB IX in der bis zum 31.12.2017 geltenden Fassung beziehungsweise § 241 Abs. 5 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung, dass – soweit eine solche Verordnung nicht erlassen ist – die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der auf Grund des § 30 Abs. 17 BVG in der bis zum 30.06.2011 geltenden Fassung beziehungsweise § 30 Abs. 16 BVG in der ab dem 01.07.2011 geltenden Fassung erlassenen Rechtsverordnungen entsprechend gelten. Mithin ist für die konkrete Bewertung von Funktionsbeeinträchtigungen die ab dem 01.01.2009 an die Stelle der „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz“ (AHP) getretene Anlage „Versorgungsmedizinische Grundsätze“ (VG) zu § 2 Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, § 30 Abs. 1 und § 35 Abs. 1 BVG (VersMedV) vom 10.12.2008 (BGBl. I S. 2412), die durch die Verordnungen vom 01.03.2010 (BGBl. I S. 249), 14.07.2010 (BGBl. I S. 928), 17.12.2010 (BGBl. I S. 2124), 28.10.2011 (BGBl. I S. 2153) und 11.10.2012 (BGBl. I S. 2122) sowie das Gesetz vom 23.12.2016 (BGBl. I S. 3234) geändert worden ist, heranzuziehen. In den VG sind unter anderem die Grundsätze für die Feststellung des Grades der Schädigungsfolgen (GdS) im Sinne des § 30 Abs. 1 BVG festgelegt worden. Diese sind nach den VG, Teil A, Nr. 2 auch für die Feststellung des GdB maßgebend. Die VG stellen ihrem Inhalt nach antizipierte Sachverständigengutachten dar. Dabei beruht das für die Auswirkungen von Gesundheitsstörungen auf die Teilhabe an der Gesellschaft relevante Maß nicht allein auf der Anwendung medizinischen Wissens. Vielmehr ist die Bewertung des GdB auch unter Beachtung der rechtlichen Vorgaben sowie unter Heranziehung des Sachverstandes anderer Wissenszweige zu entwickeln (BSG, Urteil vom 17.04.2013 – B 9 SB 3/12 R –, juris).

Liegen mehrere Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft vor, so wird der GdB nach § 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX in den bis zum 14.01.2015, 29.12.2016 und 31.12.2017 geltenden Fassungen beziehungsweise nach § 152 Abs. 3 Satz 1 SGB IX in der ab dem 01.01.2018 geltenden Fassung nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt. Zur Feststellung des GdB werden in einem ersten Schritt die einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinne von regelwidrigen (von der Norm abweichenden) Zuständen nach § 2 Abs. 1 SGB IX und die sich daraus ableitenden, für eine Teilhabebeeinträchtigung bedeutsamen Umstände festgestellt. In einem zweiten Schritt sind diese dann den in den VG genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. In einem dritten Schritt ist dann in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Beeinträchtigungen der Gesamt-GdB zu bilden. Dabei können die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen (sich decken), sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinanderstehen (BSG, Urteil vom 17.04.2013 – B 9 SB 3/12 R –, juris). Nach den VG, Teil A, Nr. 3 Buchst. c ist bei der Bildung des Gesamt-GdB in der Regel von der Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB auszugehen und sodann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob der Ausgangswert also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen um 10, 20 oder mehr Punkte zu erhöhen ist, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Insoweit führen nach den VG, Teil A, Nr. 3 Buchst. d, von Ausnahmefällen abgesehen, zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung, die bei der Gesamtbeurteilung berücksichtigt werden könnte, auch dann nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es danach vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Außerdem sind nach den VG, Teil A, Nr. 3 Buchst. b bei der Gesamtwürdigung die Auswirkungen mit denjenigen zu vergleichen, für die in der GdB-Tabelle der VG feste Grade angegeben sind.

Die Bemessung des GdB ist grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe. Dabei hat insbesondere die Feststellung der nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens zu erfolgen (BSG, Urteil vom 17.04.2013 – B 9 SB 3/12 R –, juris).

Nach diesen Maßstäben hat das SG gestützt auf das Ergebnis der dortigen Beweiserhebung in der angefochtenen Entscheidung ausführlich und schlüssig begründet, dass der GdB mit 40 zutreffend bewertet ist. Auch der Senat kann den von F1 sowie von S3 mitgeteilten Befunden keine mittelgradige oder höhergradige Ausprägung der Multiplen Sklerose entnehmen. F1 hat in ihrer sachverständigen Zeugenaussage vom 19.10.2020 eine leichte Sehstörung, eine leichte Gangstörung sowie Sensibilitätsstörungen in beiden Oberschenkeln als Folgen der Multiplen Sklerose mitgeteilt, welche formal mit einem EDSS von 2 (Minimale Behinderung in einem Funktionssystem) zu bewerten sei. S3 kommt in seinem Gutachten vom 15.10.2021 zu einem EDSS von 2,5, welcher einer minimalen Behinderung in zwei Funktions-systemen entspricht. Die Funktionsbeeinträchtigungen durch die Multiple Sklerose sind entsprechend den VG Teil B Ziff. 3.10 nach den zerebralen und spinalen Ausfallserscheinungen zu bemessen. Zusätzlich ist die aus dem klinischen Verlauf sich ergebende Krankheitsaktivität zu berücksichtigen (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 23.03.2015 – L 13 SB 6/13 –, juris Rdnr. 13 f.). Angesichts der derzeit nur leichtgradigen Ausprägung, welche noch eine Fortbewegung ohne Hilfsmittel und die Ausübung einer Berufstätigkeit erlaubt, ist die Multiple Sklerose mit einem GdB von 20 angemessen bewertet. Die hauptsächliche Beeinträchtigung der Klägerin verursacht die ausgeprägte Fatigue-Symptomatik mit einer vorzeitigen Erschöpfbarkeit und Antriebslosigkeit. Das SG bewertet diese Funktionsbeeinträchtigung zutreffend analog den psychovegetativen Störungen nach den VG Teil B Ziff. 3.7 (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 28.04.2022 – L 10 SB 50/19 –, juris Rdnr. 28 f.). Die Klägerin ist nach den von S3 erhobenen Befunden und den anamnestischen Angaben infolge der vorzeitigen Erschöpfbarkeit nur noch in der Lage, Teilzeit zu arbeiten, und bedarf auch bei der Verrichtung des Haushaltes der Hilfe. Es liegt somit eine stärker behindernde Beeinträchtigung vor, welche nach den VG Teil B Ziff. 3.7 mit einem GdB von 30 angemessen bewertet ist. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin noch nicht umfassend in ihrer Teilhabe eingeschränkt, sondern zumindest teilweise noch beruflich und sozial integriert und aktiv ist. Insofern kann der Senat noch keine schwere Störung mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten feststellen, welche nach den VG Teil B Ziff. 3.7 mit einem GdB von 50 zu bewerten wäre. Diesbezüglich kommt auch zum Tragen, dass die Fatiguesymptomatik nach ihrer Ausprägung einen eigenen Krankheitswert hat und nicht allein eine Begleiterscheinung der Multiplen Sklerose ist. Allerdings bestehen dennoch Überschneidungen zwischen den beiden Erkrankungen, so dass selbst bei Ausschöpfung des Bewertungsrahmens für eine stärker behindernde Störung mit einem GdB von 40 ein GdB von 50 insgesamt nicht erreicht würde. Insoweit entspricht der derzeitige Ausprägungsgrad noch nicht dem Ausmaß einer Funktionsbehinderung, für welche die VG einen GdB von 50 vorsehen. Der Senat vermag aus diesem Grund auch der GdB-Bewertung von S3 nicht zu folgen, da zwar der EDSS die Fatiguesymptomatik nicht erfasst, jedoch auch unter zusätzlicher Berücksichtigung der Fatigue ein GdB von 50 noch nicht erreicht wird. Bezüglich der im Rehaentlassungsbericht und von F1 mitgeteilten depressiven Symptomatik konnte S3 keine pathologischen Befunde erheben. Auch erfolgt keine fachärztliche Behandlung, so dass hierfür kein gesonderter GdB festzustellen ist. Der Senat nimmt insoweit auf die Gründe der angefochtenen Entscheidung Bezug, die der Senat nach eigener Überprüfung der Sach- und Rechtslage insoweit für zutreffend erachtet (§ 153 Abs. 2 SGG).

Aus dem Vorbringen der Klägerin sowie der Beweiserhebung des Senats im Berufungsverfahren erfolgt keine anderweitige Bewertung des Sachverhalts. Der Senat stellt mit dem Gutachten von L1 fest, dass die Multiple Sklerose sowie Fatiguesymptomatik mit einem GdB von 40 weiterhin angemessen bewertet sind und sich daher auch unter Berücksichtigung der von L1 in seinem neurologischen Gutachten vom 07.02.2023 sowie im neuropsychologischen Zusatzgutachten von U2 vom 20.01.2023 erhobenen Befunde kein höherer GdB ergibt. Der EDSS wurde mit 2,0 angegeben und eine diskrete Ataxie mit kognitiver und motorischer Fatigue sowie leichter Störung der Daueraufmerksamkeit diagnostiziert. L1 konnte noch keine höhergradige Einschränkung des Gehvermögens oder eine gesteigerte Fallneigung feststellen. Die neuropsychologische Testung hat die bereits bekannte Minderung der Ausdauer im kognitiven Bereich bestätigt. Dieser Minderung wird jedoch bereits mit der Berücksichtigung der Fatiguesymptomatik als stärker behindernde Störung Rechnung getragen. Auch nach den Angaben der Klägerin bei der Begutachtung durch L1 hat sich keine Änderung ergeben. Sie ist weiterhin in Teilzeit berufstätig und verrichtet ihren Alltag mit teilweiser Unterstützung, wobei sie sich auch beispielsweise um ihre Kinder kümmert und zumindest in - wenn auch verringertem Ausmaß - Freizeitaktivitäten unternimmt. Insofern liegt auch nach dem Gutachten von L1 trotz der bestehenden Fatiguesymptomatik noch keine höhergradige und umfassende Teilhabebeeinträchtigung in den Lebensbereichen Beruf, Familie und Freizeit vor.

Der Sachverhalt ist vollständig aufgeklärt. Der Senat hält weitere Ermittlungen von Amts wegen nicht für erforderlich. Die vorliegenden ärztlichen Unterlagen haben dem Senat zusammen mit den im Berufungsverfahren eingeholten Gutachten die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen vermittelt (§ 118 Abs. 1 Satz 1 SGG, § 412 Abs. 1 ZPO). Denn der medizinische festgestellte Sachverhalt bietet die Basis für die alleine vom Senat vorzunehmende rechtliche Bewertung des GdB unter Einschluss der Bewertung der sich zwischen den einzelnen Erkrankungen und Funktionsbehinderungen ergebenden Überschneidungen und Wechselwirkungen. Insoweit ist für die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft nach den allgemeinen Beschreibungen in den einleitenden Teilen der VG als Maßstab der Vergleich zu den Teilhabebeeinträchtigungen anderer Behinderungen anzustellen, für die im Tabellenteil ein Wert von 30, 40 oder 50 fest vorgegeben ist (BSG 16.12.2014 – B 9 SB 2/13 R – SozR 4-3250 § 69 Nr. 18 = juris).

Im Funktionskomplex Nervensystem und Psyche ist die Fatiguesymptomatik mit einem GdB von 30 sowie die Multiple Sklerose mit einem GdB von 20 bewerten. Weitere GdB-relevante Erkrankungen liegen nicht vor. Insgesamt ist ein GdB von 40 angemessen. Soweit die Klägerin dagegen einen GdB von 50 begehrt, reicht das Ausmaß der Funktionseinschränkungen für eine solche Feststellung nicht aus. Insgesamt ist der Senat unter Berücksichtigung eines Vergleichs der bei der Klägerin insgesamt vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen und deren gegenseitigen Auswirkungen einerseits und derjenigen Fälle, für die die VG einen GdB von 50 oder mehr vorsehen andererseits, wie beispielsweise nach den VG Teil B Ziff. 3.1.2 bei einem Parkinson-Syndrom mit deutlicher Störung der Bewegungsabläufe, Gleichgewichtsstörungen, Unsicherheiten beim Umdrehen und stärkerer Verlangsamung, zu der Überzeugung gelangt, dass die Klägerin nach dem derzeitigen Ausprägungsgrad der Erkrankungen noch nicht entsprechend schwer funktionell in ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft eingeschränkt ist. In ihrer Gesamtheit entsprechen die Erkrankungen der Klägerin weder einzeln noch in ihrer Zusammenschau den nach den VG in Teil B mit einem GdB von 50 oder mehr bewerteten Gesundheitsstörungen.

Damit war die Berufung zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.


 

Rechtskraft
Aus
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