Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 17.04.2020 wird zurückgewiesen.
Außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer befristeten Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit für die Zeit seit dem 01.07.2017.
Die 1972 geborene Klägerin hat keinen Beruf erlernt. Zuletzt arbeitete sie bis September 2012 als Kassiererin, bezog danach bis Februar 2014 Krankengeld und anschließend bis März 2015 Arbeitslosengeld. Arbeitslosengeld II bezieht sie nach eigenen Angaben wegen des Einkommens ihres Ehemanns nicht. Bei der Klägerin ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 70 festgestellt.
Am 09.08.2013 beantragte die Klägerin bei der Beklagten erfolglos die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente. Auch Widerspruch, Klage und Berufung blieben ohne Erfolg. Die im Berufungsverfahren erstatteten Gutachten des S1 vom 12.11.2015 und des H1 vom 11.01.2016 gelangten jeweils zu dem Ergebnis, dass das Leistungsvermögen der Klägerin durch ihre Gesundheitsstörungen (Hypertonie, Eisenmangel, kein Hinweis auf eine Erkrankung aus dem entzündlichen rheumatischen Formenkreis, Migräne, mittelgradige depressive Episode, anhaltende somatoforme Schmerzstörung) zwar qualitativ, nicht aber quantitativ eingeschränkt werde. Der auf Antrag der Klägerin gutachtlich gehörte H2 legte in seinem Gutachten vom 18.11.2016 dar, dass die Klägerin wegen einer schweren chronischen Schmerzstörung vom Fibromyalgie-Typ oder mit somatischen und psychischen Faktoren keine Tätigkeit mehr mindestens drei Stunden täglich verrichten könne. Durch Urteil vom 25.04.2017 wies das Landessozialgericht Baden-Württemberg (Az.: L 13 R 3895/15) die Berufung der Klägerin gegen den klageabweisenden Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 10.08.2015 (Az.: S 5 R 3803/14) zurück.
Am 22.06.2017 beantragte die Klägerin erneut die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Zur Begründung legte sie u.a. den Entlassungsbrief des A1 (R1-Krankenhaus) vom 16.05.2017 (Abtragung eines Polypenknospen im Kolon transversum, Morbus Behçet [schubartig verlaufende systemische Vaskulitis mit Befall venöser und arterieller Gefäße und variabler Organe], multiple unklare Raumforderungen der Leber, Adipositas permagna) und den Arztbrief der H3 vom 22.06.2017 (Morbus Behçet, chronifiziertes generalisiertes Wirbelsäulensyndrom, Leberadenom, Depression, Adipositas, Fibromyalgiesyndrom, rezidivierende Gastritis) vor. Die Beklagte veranlasste daraufhin die Untersuchung der Klägerin durch den S2 am 03.08.2017, der in seinem Gutachten vom 07.08.2017 einen Morbus Behçet, eine rechtsseitige Lumboischialgie mit Bandscheibenvorfall L5/S1 rechts mit Einengung des Foramens, eine medikamentös ausreichend beherrschte arterielle Hypertonie und eine rezidiviere depressive Störung mit gegenwärtig leichtgradiger Episode feststellte. Nicht mehr zumutbar seien der Klägerin Tätigkeiten im Akkord, unter besonderem Zeitdruck, in Nachtschicht, mit häufig wechselnden Arbeitszeiten oder mit besonderen Anforderungen an das Umstellungs- und Anpassungsvermögen. Nicht mehr leidensgerecht sei außerdem das Heben, Tragen und Bewegen schwerer Lasten, häufiges Bücken, das Ersteigen von Leitern und Gerüsten sowie Tätigkeiten in Zwangshaltungen oder unter Einwirkung von extrem schwankenden Temperaturen. Unter Beachtung dieser qualitativen Einschränkungen könne die Klägerin leichte Tätigkeiten im Sitzen, überwiegend im Stehen und zeitweise im Gehen in Tagesschicht täglich mindestens sechs Stunden verrichten.
Mit Bescheid vom 16.08.2017, welcher der Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 21.08.2017 zuging, lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab. Die Klägerin sei nicht erwerbsgemindert, da sie noch mindestens sechs Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts erwerbstätig sein könne.
Zur Begründung des hiergegen am 21. September 2017 eingelegten Widerspruchs führte die Klägerin unter Bezugnahme auf das Gutachten des H2 im Wesentlichen aus, dass sie aufgrund ihrer schwerwiegenden internistischen sowie wegen ihrer orthopädischen und psychiatrischen Erkrankungen nicht mehr in der Lage sei, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt leichte Tätigkeiten täglich sechs Stunden zu verrichten.
Mit Widerspruchsbescheid vom 29.03.2018 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Klägerin habe keinen Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung, da sie nicht erwerbsgemindert sei. Unter Berücksichtigung der von S2 ermittelten qualitativen Einschränkungen seien ihr leichte Tätigkeiten unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts täglich mindestens sechs Stunden möglich und zumutbar. Der Widerspruchsbescheid wurde an 29.03.2018 mit einfachem Brief an die Prozessbevollmächtigte der Klägerin gesandt.
Am 04.05.2018 hat die Prozessbevollmächtigte der Klägerin beim Sozialgericht Heilbronn (SG) Klage erhoben und beantragt, der Klägerin ab dem 01.07.2017 Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung befristet auf drei Jahre zu gewähren. Ihr Leistungsvermögen sei nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ eingeschränkt. Zur weiteren Klagebegründung hat die Klägerin die Arztbriefe des S3 vom 25.10.2018, des K1 vom 13.05.2019, des S4 (Klinikum S5) vom 05.11.2019 (Schleimhauterythem im Antrum [Abschnitt des Magens], multiple erhabene Antrumerosionen) und den Entlassbericht des H4 (m1 Klinik) vom 07.01.2020 über die stationäre Behandlung der Klägerin vom 11. bis 17.12.2019 (rezidivierende orale Aphtosen, Schmerzen in beiden Schultergelenken sowie der Ober- und Unterarmmuskulatur, Lumbalgie mit neuropathischen Schmerzen, Fibromyalgiesyndrom, rezidivierende Unterbauchschmerzen, Adipositas permagna, Fettleber, Zustand nach erosiver Gastritis, Zustand nach Polypektomie einer leichtgradigen intraepithelialen Neoplasie im Colon transversum, Vitamin-D-Mangel) vorgelegt.
Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat die sozialmedizinischen Stellungnahmen des L1 vom 05.04.2019 und 19.03.2020 zur Akte gereicht.
Zur Aufklärung des Sachverhalts hat das SG den Entlassungsbericht des O1 (Reha-Klinik K2) vom 31.07.2018 über die stationäre orthopädisch-rheumatologische Rehabilitationsmaßnahme vom 06.-27.07.2018 beigezogen (Morbus Behçet, chronische Lumboischialgie rechts mit deutlicher Funktionseinschränkung der Lendenwirbelsäule bei Prolaps L5/S1 nach Foraminotomie [Erweiterung des Nervenaustrittskanals] im Januar 2013, ausgeprägte somatoforme Schmerzstörung, rezidivierende depressive Störung mit Angststörungen, chronische schmerzhafte Schultersteife rechts, Adipositas Grad 2). Demnach bestehe aus rein orthopädischer und internistischer Sicht Leistungsfähigkeit von sechs Stunden und mehr für leichte körperliche Tätigkeiten zeitweise im Stehen, zeitweise im Gehen, überwiegend im Sitzen, in Tages-, Früh- und Spätschicht unter Vermeidung von Tätigkeiten in wiederholt gebückter Körperhaltung, von Überkopftätigkeiten und von Tätigkeiten mit Nässe- und Kälteexposition. Die Aufnahme einer bisher nicht erfolgten ambulanten Psychotherapie werde empfohlen.
In ihrer schriftlichen Antwort als sachverständige Zeugin vom 13.11.2018 hat die H3 mitgeteilt, dass sie die Klägerin seit Februar 2015 etwa einmal pro Quartal behandelt habe. Da die Klägerin schon in Ruhe aufgrund ihrer Vorerkrankungen maximal schmerzgeplagt sei, bestehe kein Leistungsvermögen für leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts. Das für die Beurteilung der beruflichen Leistungsfähigkeit im Vordergrund stehende Leiden liege auf schmerztherapeutischem, psychiatrischem und orthopädischem Fachgebiet. Der S3 hat in seiner schriftlichen Antwort vom 10.03.2019 ausgeführt, dass ihn die Klägerin zuletzt im Dezember 2016, im September 2017, im Quartal 4/2017, im Oktober 2018 und im Quartal 1/2019 konsultiert habe. Bei ihr bestehe eine Funktionseinschränkung der rechten Schulter sowie ein chronisches Schmerzsyndrom der Lendenwirbelsäule und ein Bandscheibenvorfall L5/S1 mit Ausstrahlung ins rechte Bein. Die Klägerin sei dadurch in ihrer statomotorischen Belastbarkeit und tagesformabhängig auch beim Gehen eingeschränkt. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt könne sie Tätigkeiten nur noch unter drei Stunden täglich verrichten. Die für die Beurteilung der beruflichen Leistungsfähigkeit im Vordergrund stehenden Leiden lägen auf orthopädischem, psychiatrischem und rheumatologischem Fachgebiet.
Der zum Sachverständigen ernannte S6 hat die Klägerin am 30.09.2019 untersucht und ist in seinem Gutachten vom 07.10.2019 zu dem Ergebnis gelangt, dass bei der Klägerin eine leicht ausgeprägte Dysthymia, ein medikamentös behandeltes Bluthochdruckleiden, eine medikamentös behandelte Stoffwechselstörung, Leberzelladenome, eine Adipositas Grad I bis II und medikamentös behandelter Morbus Behçet ohne klinische Anhaltspunkte für eine ausgeprägte Manifestation bestünden. Eine somatoforme Schmerzstörung bestehe nicht, weil eine Instrumentalisierung der Schmerzen im laufenden Rentenverfahren, das sich im Sinne eines Begehrens nach Entpflichtung im beruflichen und privaten Bereich symptomunterhaltend auswirke, naheliege. Es bestehe eine Diskrepanz zwischen der Einstufung der Schmerzen als nahezu unerträglich und dem objektiven Leidensdruck. Die Schwerpunkte des Beschwerdebildes lägen nicht auf psychiatrischem, sondern auf orthopädischem und rheumatologischem Fachgebiet. Die Klägerin könne leichte bis mittelschwere körperliche Tätigkeiten in verschiedenen Arbeitshaltungen in Tagesschicht oder in Früh- und Spätschicht ohne unmittelbare Gefährdung ihrer Gesundheit mindestens sechs Stunden täglich verrichten. Aufgrund ihrer erhöhten seelischen Vulnerabilität nicht mehr zumutbar seien Tätigkeiten in Nachtschicht, mit vermehrten Anforderungen an das Konzentrations- und Reaktionsvermögen, mit vermehrt emotionalen Belastungen oder erhöhtem Konfliktpotential und mit vermehrter Exposition gegenüber Lärm, der bei einer Dezibelzahl von mehr als 85 als psychogener Stressor gelte. Das beschriebene Leistungsvermögen bestehe seit der Rentenantragstellung am 20.06.2017. In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 09.03.2020 führte S6 aus, der Entlassbericht des H4 vom 07.01.2020 veranlasse keine abweichende Beurteilung des Leistungsvermögens der Klägerin, da der Ausprägungsgrad des Morbus Behçet in der Längsschnittbetrachtung als leicht einzustufen sei. Die Erkrankung manifestiere sich oral und genital. Es gebe jedoch keine sonstige B-Symptomatik (z.B. Fieber, Nachtschweiß, Gewichtsverlust). Eine Beteiligung der Augen oder des zentralen Nervensystems bestehe nicht. Das im Krankenhaus verabreichte Colchizin werde bei leichten Fällen des Morbus Behçet eingesetzt. Eine intensive Immunsuppression sei bisher nicht als medizinisch notwendig angesehen worden.
Der zum Sachverständigen ernannte T1 hat die Klägerin ebenfalls am 30.09.2019 untersucht und ist in seinem Gutachten vom 15.10.2019 zu dem Ergebnis gelangt, dass bei der Klägerin ein Zustand nach operativer Therapie eines Bandscheibenvorfalls L5/S1 im Jahr 2013 bei kernspintomographisch nachgewiesenem Rezidivbandscheibenvorfall L5/S1 sowie L4/L5 mit endgradiger Funktionseinschränkung ohne radikuläre Ausfallsymptomatik sowie polyarthrotische Beschwerden der oberen und unteren Extremitäten ohne objektivierbare Ursache auf orthopädisch-unfallchirurgischem Fachgebiet bestünden. Der Klägerin seien deshalb nur noch körperlich leichte bis gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten in wechselnden Körperhaltungen im Umfang von mindestens sechs Stunden täglich zumutbar. Nicht mehr möglich seien Zwangshaltungen wie ständiges Bücken oder Knien, das Tragen und Heben von Lasten über 10 kg ohne technische Hilfsmittel, permanente Überkopfarbeiten, permanente Arbeiten auf Leitern und Gerüsten, permanente Arbeiten im Freien oder unter ständiger Exposition von Hitze, Kälte, Nässe, Zugluft und Temperaturschwankungen. Es bestünden bei der Klägerin keine Beeinträchtigungen im Bereich der Lendenwirbelsäule oder der unteren Extremitäten, die sich besonders negativ auf die Wegefähigkeit auswirkten.
Die Klägerin hat hierzu mitgeteilt, sie könne die Einschätzung der Sachverständigen S6 und T1 nicht nachvollziehen.
Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG die Klage durch Gerichtsbescheid vom 17.04.2020 abgewiesen. Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, dass die Klägerin nicht erwerbsgemindert sei. Die bei ihr bestehenden Gesundheitsstörungen auf orthopädischem, internistischem und neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet schränkten ihr Leistungsvermögen qualitativ, nicht aber quantitativ ein. Dies ergebe sich aus den Gutachten des S6 und T1. Soweit die behandelnden S3 und H3 von einem untervollschichtigen Leistungsvermögen ausgegangen seien, sei dies anhand der objektiven Befunde nicht nachvollziehbar. Auch eine eingeschränkte Wegefähigkeit könne auf Grundlage der erhobenen Befunde nicht begründet werden.
Gegen den Gerichtsbescheid, welcher der Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 23.04.2020 zugestellt worden ist, hat die Prozessbevollmächtigte der Klägerin am 22.05.2020 beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg Berufung eingelegt. Sie begehrt die Gewährung einer Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung befristet auf drei Jahre. Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, sie, die Klägerin, habe sich von T1 nicht ernst genommen gefühlt. Sie könne nicht nachvollziehen, warum er sie für wegefähig halte. S6 habe ihre somatoforme Schmerzstörung nicht berücksichtigt. Zudem seien ihre rheumatologischen und dermatologischen Beschwerden nicht gewürdigt worden. Zur weiteren Berufungsbegründung hat die Klägerin den Entlassbericht des S7 (Orthopädische Klinik M2) vom 30.06.2020 (am 18.06.2020 operative dorsale Spondylodese L3-S1, osteoligamentäre Entlastung L4-S1 sowie Neurolyse L5 und S1 rechts, am 24.06.2020 operative ventrale Fusion L3/4), die seit Februar 2017 verfassten Arztbriefe der H3 und den Arztbrief des B1 vom 15.11.2016 zur Senatsakte gereicht.
Die Klägerin beantragt (sachdienlich ausgelegt),
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 17.04.2020 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 16.08.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.03.2018 zu verurteilen, ihr eine Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung für einen Zeitraum von drei Jahren seit dem 01.07.2017 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält die angegriffenen Entscheidungen für zutreffend und hat zur weiteren Begründung die sozialmedizinischen Stellungnahmen der G1 vom 25.05.2022 und 17.05.2023, der S8 vom 17.02.2022 und des L1 vom 07.06.2023 vorgelegt.
Der zum Sachverständigen ernannte R2 hat die Klägerin am 08.10.2020 untersucht und ist in seinem Gutachten vom 09.02.2021 zu dem Ergebnis gelangt, dass bei der Klägerin eine rezidivierende depressive Störung in gegenwärtig mittelgradiger Episode und eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung bestehe. Ohne unmittelbare Gefährdung ihrer Gesundheit könne sie nur noch leichte körperliche Arbeiten im Wechsel zwischen Gehen, Stehen und Sitzen in Früh- und Spätschicht ausführen. Nicht mehr leidensgerecht seien das Heben und Tragen von Lasten über 10 kg, Zwangshaltungen der Wirbelsäule, Arbeiten auf Leitern und Gerüsten, die Exposition gegenüber Kälte, Wärme, Staub, Gasen, Dämpfen oder Nässe, Akkord- oder Fließbandtätigkeiten, Arbeiten in Nachtschicht und Arbeiten mit besonderer geistiger Inanspruchnahme oder höherer Verantwortung. Quantitativ könne sie nur noch drei bis unter sechs Stunden täglich eingesetzt werden. Diese Leistungseinschränkungen bestünden am ehesten seit Ende des Jahres 2019. Im Vergleich zu dem von S6 am 30.09.2019 erhobenen psychiatrischen Befund sei es zu einer deutlichen Verschlechterung im Sinne einer mittelschweren Depression gekommen, sodass die sozialmedizinische Leistungseinschätzung des S6, dass die Klägerin noch vollschichtig beruflich tätig sein könne, inzwischen nicht mehr zutreffe. Eine Besserung des zeitlichen Leistungsvermögens der Klägerin könne bei entsprechender Therapie innerhalb von ein bis zwei Jahren erwartet werden. Auch wenn das Gangbild der Klägerin verlangsamt wirke, könne sie viermal täglich Wegstrecken von jeweils mehr als 500 m in jeweils maximal 20 Minuten zu Fuß zurücklegen und öffentliche Verkehrsmittel benutzen.
Die Beklagte hat hierzu ausgeführt, dass die Klägerin aufgrund des von R2 angenommenen Eintritts eines Leistungsfalls seit Dezember 2019 keinen Anspruch auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente habe, weil die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Erwerbsminderungsrente letztmalig bei einem Leistungsfall im Juli 2018 erfüllt seien.
In einer ergänzenden Stellungnahme vom 31.01.2022 hat R2 mitgeteilt, dass aller Wahrscheinlichkeit nach schon am 31.07.2018 eine mittelschwere depressive Störung mit einer vorzeitigen Erschöpfbarkeit der kognitiven Funktionen und damit auch eine untervollschichtige berufliche Leistungsfähigkeit bestanden habe. Die mittelschwere Depression habe wahrscheinlich nach dem Ende der medizinischen Rehabilitationsmaßnahme im Juli 2018 fortbestanden und sei wohl erst nach der Untersuchung durch den K1 am 13.05.2019 oder vor der Begutachtung durch S6 am 30.09.2019 abgeklungen.
Die Beklagte hat hiergegen eingewandt, dass die Annahme eines schon seit Juli 2018 auf unter sechs Stunden gesunkenen Leistungsvermögens nicht überzeuge, da der Klägerin zum Zeitpunkt der Entlassung aus der Reha-Klinik K2 am 27.07.2018 ein vollschichtiges Leistungsvermögen attestiert worden sei, die Klägerin in der Folgezeit weiterhin keine Psychotherapie gesucht und begonnen sowie erst wieder im Mai 2019 ärztliche Hilfe auf psychiatrischem Fachgebiet in Anspruch genommen habe.
Der sachverständige Zeuge H5 hat in seiner schriftlichen Antwort vom 26.07.2022 mitgeteilt, dass er die Klägerin erstmals am 31.01.2022 und danach am 11.07.2022 behandelt und dabei eine schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome und eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung festgestellt habe. Die sachverständige Zeugin A2 hat in ihrer schriftlichen Antwort vom 01.12.2022 ausgeführt, dass sie die Klägerin im Juli und November 2016 sowie am 01.08.2022 und 28.10.2022 behandelt und dabei im Jahr 2022 eine rezidivierende depressive Störung mit gegenwärtig mittelgradiger Episode sowie eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren festgestellt habe.
Die Klägerin (Schriftsatz vom 29.06.2023) und die Beklagte (Schriftsatz vom 31.05.2023) haben sich mit einer Entscheidung des Rechtsstreits durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Zu den weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge und die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die nach §§ 143, 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten nach § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist gemäß § 105 Abs. 2 Satz 1, § 143 SGG statthaft und zulässig. Sie bedarf nicht der Zulassung gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 SGG, da die Klägerin laufende Rentenleistungen für einen befristeten Zeitraum von drei Jahren seit dem 01.07.2017 und damit für mehr als ein Jahr begehrt (§ 144 Abs. 1 Satz 2 SGG).
Die Berufung der Klägerin ist jedoch nicht begründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Var. 2, Abs. 4, §§ 56, 130 Abs. 1 Satz 1 SGG) zulässige Klage ist nicht begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 16.08.2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.03.2018 (§ 95 SGG) ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Gewährung einer befristeten Rente wegen voller oder teilweiser Erwerbsminderung für die Zeit ab 01.07.2017.
Ob die Klägerin dem Grunde nach Anspruch auf eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit hat, richtet sich nach § 43 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) in der Normfassung des RV-Altersgrenzenanpassungsgesetzes vom 20. April 2007 (BGBl. I S. 554 <555>). Versicherte haben bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser oder voller Erwerbsminderung, wenn sie teilweise oder voll erwerbsgemindert sind, in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben (§ 43 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 SGB VI). Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI). Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI). Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI). Auf nicht absehbare Zeit besteht eine Einschränkung, wenn sie sich voraussichtlich über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten erstreckt (zu § 1247 Abs. 2 Satz 1 RVO vgl. BSG, Urteil vom 23.03.1977 – 4 RJ 49/76 – juris, Rn. 16 a.E.). Der Zeitraum von fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung verlängert sich um folgende Zeiten, die nicht mit Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit belegt sind: 1. Anrechnungszeiten und Zeiten des Bezugs einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, 2. Berücksichtigungszeiten, 3. Zeiten, die nur deshalb keine Anrechnungszeiten sind, weil durch sie eine versicherte Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit nicht unterbrochen ist, wenn in den letzten sechs Kalendermonaten vor Beginn dieser Zeiten wenigstens ein Pflichtbeitrag für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit oder eine Zeit nach Nummer 1 oder 2 liegt, 4. Zeiten einer schulischen Ausbildung nach Vollendung des 17. Lebensjahres bis zu sieben Jahren, gemindert um Anrechnungszeiten wegen schulischer Ausbildung (§ 43 Abs. 4 SGB VI).
Der Eintritt der Erwerbsminderung unterliegt dem Vollbeweis. Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen (BSG, Urteil vom 15.12.2016 – B 9 V 3/15 R – juris, Rn. 26, dazu auch im Folgenden). Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Dies bedeutet, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können und verbleibende Restzweifel bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten. Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (BSG, a.a.O., m.w.N.). Kann sich das Gericht nicht davon überzeugen, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt Erwerbsminderung eingetreten ist, hat derjenige, der daraus Ansprüche ableitet, das Risiko der Nichterweislichkeit der anspruchsbegründenden Tatsache im Sinne einer objektiven Beweislast zu tragen.
In Anwendung dieser Maßstäbe erfüllt die Klägerin die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die begehrte Rente (sog. Drei-Fünftel-Belegung) letztmals am 31.07.2018. Dies ergibt sich aus dem von der Beklagten vorgelegten Versicherungsverlauf vom 31.05.2023, dessen Richtigkeit und Vollständigkeit die Klägerin auch nicht in Frage gestellt hat.
Zum Zeitpunkt des 31.07.2018 weist der Versicherungsverlauf in dem davorliegenden Zeitraum von fünf Jahren (31.07.2013 bis 30.07.2018) keine Monate mit Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit, aber 36 Monate Anrechnungszeiten wegen Arbeitsunfähigkeit (31.07.2013 bis 26.02.2014) und wegen Arbeitslosigkeit (27.02.2014 bis 02.06.2016) aus. Diese Anrechnungszeiten wegen Arbeitsunfähigkeit (§ 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Alt. 1 SGB VI) und Arbeitslosigkeit (§ 58 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VI) verlängern den Fünfjahreszeitraum gemäß § 43 Abs. 4 Nr. 1 Alt. 1 SGB VI um 36 Monate, mithin bis zum 31.07.2010. In diesem weiteren Zeitraum liegen 23 Monate Pflichtbeitragszeiten für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit (vom 01.11.2010 bis 03.07.2011 und vom 14.09.2011 bis 25.10.2012) sowie die letzten Monate der Berücksichtigungszeit wegen Kindererziehung vom 25.09.1989 bis 23.07.2011. Verlängerungstatbestände, die innerhalb einer bereits verlängerten Zeit liegen, verlängern diese weiter (Freudenberg, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 3. Auflage, § 43, Rn. 362, Stand: 17.05.2023). Die Berücksichtigungszeiten verlängern den Fünfjahreszeitraum gemäß § 43 Abs. 4 Nr. 2 SGB VI mindestens bis 25.09.1989. In diesem weiteren Zeitraum liegen weitere 18 Monate Pflichtbeitragszeiten (01.01.1992 bis 12.06.1993).
Ein Ausnahmefall, in dem die Drei-Fünftel-Belegung nicht erforderlich wäre, liegt nicht vor. Die Tatbestände einer vorzeitigen Wartezeiterfüllung (§ 43 Abs. 5 i.V.m. §§ 53, 245 SGB VI) sind bei der Klägerin nicht erfüllt. Abweichendes macht sie selbst nicht geltend, insbesondere keine Erwerbsminderung aufgrund eines Arbeitsunfalls oder einer Berufskrankheit oder den Eintritt der Erwerbsminderung bereits vor dem 01.01.1992. Auch der Ausnahmetatbestand des § 241 Abs. 2 SGB VI ist nicht erfüllt, da die Klägerin ausweislich des Versicherungsverlaufs erst ab 01.10.1989 rentenrechtliche Zeiten zurückgelegt hat.
Nach den dargestellten Maßstäben konnte sich der Senat aufgrund der im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren durchgeführten Beweisaufnahme nicht davon überzeugen, dass die Klägerin spätestens am 31.07.2018 voll oder teilweise erwerbsgemindert gewesen ist. Zwar lagen bei ihr im Juli 2018 gesundheitliche und daraus resultierende funktionelle Einschränkungen vor. Diese minderten ihre berufliche Leistungsfähigkeit jedoch nur in qualitativer Hinsicht, schränkten ihr Restleistungsvermögen aber nicht auch quantitativ auf weniger als sechs Stunden täglich ein.
1. Die für die Beurteilung des beruflichen Leistungsvermögens der Klägerin im Juli 2018 maßgeblichen Erkrankungen liegen auf orthopädischem, rheumatologischem und psychiatrischem Fachgebiet. Dies entnimmt der Senat dem Gutachten des Sachverständigen S6 vom 07.10.2019 und den schriftlichen Antworten des sachverständigen Zeugen S3 vom 10.03.2019 und der sachverständigen Zeugin H3 vom 13.11.2018.
a) Auf orthopädischem Fachgebiet bestanden bei der Klägerin im Juli 2018 eine chronische Lumboischialgie rechts bei Prolaps L5/S1 nach Foraminotomie sowie eine chronische schmerzhafte Schultersteife rechts. Dies folgt zur Überzeugung des Senats aus dem Entlassungsbericht des O1 (Reha-Klinik K2) vom 31.07.2018 über die stationäre orthopädisch-rheumatologische Rehabilitationsmaßnahme der Klägerin vom 06. bis 27.07.2018. Das Gutachten des Sachverständigen T1 vom 15.10.2019 bestätigt, dass bei der Klägerin seit Juni 2017 ein Zustand nach operativer Therapie eines Bandscheibenvorfalls L5/S1 im Jahr 2013 bei kernspintomographisch nachgewiesenem Rezidivbandscheibenvorfall L5/S1 sowie L4/L5 mit endgradiger Funktionseinschränkung ohne radikuläre Ausfallsymptomatik sowie polyarthrotische Beschwerden der oberen und unteren Extremitäten bestehen.
Diese Erkrankungen führten zu nur geringen Funktionseinschränkungen. Im Bereich der Brust- und Lendenwirbelsäule bestehen seit Juni 2017 eine endgradige Funktionseinschränkung sowie eine leichte Druckschmerzhaftigkeit. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Senats befundgestützt aus dem Gutachten des Sachverständigen T1 vom 15.10.2019. Der Reha-Entlassungsbericht des O1 vom 31.07.2018 enthält keine davon abweichenden Bewegungsmaße. Soweit im Rahmen der Abschlussuntersuchung am 27.07.2018 ein Finger-Boden-Abstand „bis Knie“ und Druckschmerzhaftigkeit der Wirbelsäule festgestellt worden sind, ergibt sich daraus keine auf nicht absehbare Zeit vorliegende Funktionseinschränkung größeren Ausmaßes. Hiergegen sprechen der vom Sachverständigen T1 am 30.09.2019 festgestellte Fingerkuppen-Boden-Abstand von 17 cm und der vor Durchführung operativer Eingriffe an der Wirbelsäule am 18. und 24.06.2020 erhobene Aufnahmebefund reizloser Weichteil- und Narbenverhältnisse im Bereich der Lendenwirbelsäule ohne Druck- oder Klopfdolenzen und ohne höhergradige diskoligamentäre Instabilität. Dies entnimmt der Senat dem Entlassbericht des S7 vom 30.06.2020. Aus dem Arztbrief des S3 vom 14.09.2017 und dem Reha-Entlassungsbericht des O1 vom 31.07.2018 folgt, dass bis Juli 2018 keine motorischen Ausfälle durch Wirbelsäulenschäden feststellbar gewesen sind.
Im Bereich der Schultern ist im Juli 2018 die linke Schulter frei beweglich gewesen. Diese Überzeugung stützt der Senat auf den Reha-Entlassungsbericht des O1 vom 31.07.2018. Die Beweglichkeit der rechten Schulter hat bis Juli 2018 ab- und danach wieder zugenommen. Im September 2017 war die Abduktion des rechten Arms ab 60 Grad erheblich subacromial schmerzhaft. Dies folgt aus dem Arztbrief des S3 vom 14.09.2017. Bei der Entlassungsuntersuchung am 27. Juli 2018 hat die Klägerin die Anteversion und Abduktion des rechten Arms aktiv nur bis 30 Grad ausgeführt. Dies ergibt sich aus dem Reha-Entlassungsbericht des O1. Am 30.09.2019 hat die Klägerin mit der rechten Hand unbeeinträchtigt die Lendenwirbelsäule erreicht. Dies ergibt sich aus dem Gutachten des Sachverständigen S6 vom 07.10.2019. Die klinische Untersuchung der Schultergelenke durch den Sachverständigen T1 vom 15.10.2019 hat beidseits einen leichten Druckschmerz über dem ventralen Schultergelenkspalt und dem Schultereckgelenk ergeben, der jedoch zu keiner Funktionsbeeinträchtigung und insbesondere zu keiner Einschränkung der freien Beweglichkeit oder Belastbarkeit beider Schultergelenke führt. Hiervon ist der Senat aufgrund des Gutachtens des Sachverständigen T1 vom 15.10.2019 überzeugt.
b) Auf rheumatologischem Fachgebiet besteht bei der Klägerin ein Morbus Behçet, d.h. eine schubartig verlaufende systemische Entzündung venöser und arterieller Gefäße mit Befall variabler Organe (vgl. Pschyrembel-online, Stichwort: „Behçet-Krankheit“). Klinisch ist der Morbus Behçet gut kontrolliert. Dies ergibt sich aus dem Arztbrief des L2 (Universitätsklinikum H6) vom 23.03.2018. Der Arztbrief der H3 vom 13.11.2018 bestätigt, dass der Morbus Behçet zuletzt unter 5 mg Prednisolon und Apremilast in Kombination mit Colchicum gut unter Kontrolle gewesen ist.
Der von der Klägerin im Klageverfahren vorgelegte Entlassbericht des H4 (m1 Klinik) vom 07.01.2020 über die stationäre Behandlung der Klägerin vom 11. bis 17.12.2019 u.a. wegen rezidivierender oraler Aphtosen erlaubt keine Rückschlüsse auf den hier maßgebenden Gesundheitszustand der Klägerin bis Juli 2018. Unabhängig davon hat der Sachverständige S6 in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 09.03.2020 überzeugend dargelegt, dass der Ausprägungsgrad des Morbus Behçet in der Längsschnittbetrachtung als leicht einzustufen ist, weil über die Bildung kleiner runder Bläschen in der Mund- und Genitalschleimhaut hinaus keine sonstige B-Symptomatik (z.B. Fieber, Nachtschweiß, Gewichtsverlust) aufgetreten ist, keine Beteiligung der Augen oder des zentralen Nervensystems besteht und eine intensive Immunsuppressionstherapie bisher nicht als medizinisch notwendig angesehen worden ist.
c) Auf psychiatrischem Fachgebiet bestand bei der Klägerin im Juli 2018 eine rezidivierende depressive Störung. Dies ergibt sich aus dem Gutachten des S2 vom 07.08.2017, das im Wege des Urkundenbeweises verwertet werden konnte (vgl. etwa BSG, Beschluss vom 16.11.2022 – B 5 R 112/22 B – juris, Rn. 13; BSG, Beschluss vom 05.08.2020 – B 5 R 78/20 B – juris, Rn. 6), und dem Reha-Entlassungsbericht des O1 vom 31.07.2018. Außerdem bestand bei der Klägerin im Juli 2018 eine somatoforme Schmerzstörung. Dies entnimmt der Senat ebenfalls dem Reha-Entlassungsbericht des O1. Der Arztbrief des L2 (Universitätsklinikum H6) vom 23.03.2018 (chronisches Schmerzsyndrom) bestätigt diese Gesundheitsstörung.
Die rezidivierende depressive Störung ist bis Juli 2018 leicht ausgeprägt gewesen. Die zeitliche Längsschnittbetrachtung der psychopathologischen Befunde zeigt keinen mehr als nur leichten Ausprägungsgrad der rezidivierenden depressiven Störung. Das Gutachten des S2 vom 07.08.2017 gelangt zu dem Ergebnis einer gegenwärtig leicht ausgeprägten rezidivierenden depressiven Störung. Die im Rahmen der Rehabilitationsmaßnahme vom 06. bis 27.07.2018 erhobenen psychopathologischen Befunde können kein stärkeres Ausmaß der rezidivierenden Störung begründen. Aus dem Reha-Entlassungsberichts des O1 vom 31.07.2018 ergibt sich zur Überzeugung des Senats, dass die Klägerin bewusstseinsklar und allseitig orientiert gewesen ist, kein Anhalt für inhaltliche oder formale Denkstörungen bestanden hat und keine wesentlichen Störungen von Gedächtnis oder Konzentration festgestellt worden sind. Soweit die Klägerin in der Stimmung niedergeschlagen und gedrückt gewirkt und eine verminderte Schwingungsfähigkeit, einen reduzierten Antrieb und eine eingeschränkte Konzentration und Merkfähigkeit gezeigt hat, lässt sich daraus mangels Angaben zum Ausmaß der jeweiligen Einschränkung kein mehr als nur leichter Ausprägungsgrad der depressiven Störung ableiten. Auch der Arztbrief des K1 vom 13.05.2019 betätigt einen depressiven Verstimmungszustand ohne Hinweis auf eine mehr als nur leichtgradige Ausprägung. Der Sachverständige S6 hat aufgrund seiner Untersuchung der Klägerin am 30.09.2019 bei dieser nur eine leicht ausgeprägte Dysthymia festgestellt. Dies ist aufgrund des von ihm erhobenen psychopathologischen Befundes auch schlüssig und nachvollziehbar. Denn bei der Untersuchung haben sich ausweislich seines Gutachtens vom 07.10.2019 keine Störungen des Bewusstseins, keine Störungen der Orientierung, keine Störungen der Auffassung und der Konzentration, keine signifikanten Gedächtnisstörungen, keine Einschränkungen der Psychomotorik, keine Verlangsamung des formellen Denkens, keine inhaltlichen Denkstörungen, keine Einschränkungen des Zeitmanagements, keine relevanten Störungen der sozialen Kompetenzen und der Alltagskompetenzen und keine Einschränkungen des Umstellungs- und Anpassungsvermögens gezeigt. Der Antrieb der Klägerin hat sich als leicht gemindert dargestellt. Ihre Grundstimmung hat subdepressiv oder dysthym gewirkt, da die affektive Resonanzfähigkeit eingeschränkt und zum negativen Pol hin verschoben gewesen ist.
Der lediglich leichte Ausprägungsgrad der rezidivierenden depressiven Störung wird dadurch bestätigt, dass die Klägerin im Zeitraum von Dezember 2016 bis Juli 2018 keinen Leidensdruck gespürt hat, der ihr Anlass gegeben hätte, sich fachpsychiatrische oder fachpsychotherapeutische Hilfe zu suchen. Dies ergibt sich aus ihren anamnestischen Angaben im Reha-Entlassungsbericht des O1 vom 31.07.2018. Die in diesem Reha-Entlassungsbericht empfohlene ambulante Psychotherapie hat die Klägerin nach ihren eigenen Angaben weder bis zum Zeitpunkt der Untersuchung durch den Sachverständigen S6 am 30.09.2019 noch bis zum Zeitpunkt der Untersuchung durch den Sachverständigen R2 am 08.10.2020 aufgenommen. Erst am 13.05.2019 und seitdem etwa einmal monatlich hat die Klägerin den K1 konsultiert. Dies ergibt sich aus dem Arztbrief des K1 vom 13.05.2019 und den Angaben der Klägerin gegenüber dem Sachverständigen S6. Keine Rückschlüsse auf den Ausprägungsgrad der rezidivierenden depressiven Störung im hier maßgebenden Zeitraum bis Juli 2018 erlauben die schriftliche Antwort der sachverständigen Zeugin A2 vom 01.12.2022, welche die Klägerin bis 15.11.2016 und ab 01.08.2022 behandelt hat, und die schriftliche Antwort des H5 vom 26.07.2022, der die Klägerin erstmalig am 31.01.2022 behandelt hat.
Auch die somatoforme Schmerzstörung ist bis Juli 2018 leicht ausgeprägt gewesen. Eine im März 2018 begonnene Schmerzmedikation erfolgt über das Ende der Rehabilitationsmaßnahme am 27.07.2018 hinaus in deutlich niedrigschwelliger Dosierung. Zur Schmerzdistanzierung ist der Klägerin im März 2018 die allabendliche Einnahme von einer halben bis einer Tablette Amitriptylin 25 mg empfohlen worden. Dies entnimmt der Senat dem Arztbrief des L2 (Universitätsklinikum H6) vom 23.03.2018. Der Reha-Entlassungsbericht des O1 vom 31.07.2018 zeigt, dass diese Medikation während und nach der stationären Rehabilitationsmaßnahme unverändert fortgeführt worden ist. Die Gabe von höchstens 25 mg Amitriptylin bleibt deutlich hinter der zulässigen Tageshöchstdosis von 150 mg bei ambulanter Behandlung und 300 mg bei stationärer Behandlung zurück (vgl. https://www.gelbe-liste.de/wirkstoffe/Amitriptylin_21901). Sofern die Klägerin im Rahmen der im Juli 2018 durchgeführten Rehabilitationsmaßnahme außerdem bis zu vier Tabletten Novaminsulfon (Wirkstoff Metamizol) täglich eingenommen hat, handelt es sich hierbei um ein nichtopioides Schmerzmittel, das nach Stufe 1 des Stufenschemas der Weltgesundheitsorganisation zur Linderung leichter bis mäßiger Schmerzen angewandt wird (vgl. Pschyrembel-online, Stichwort „WHO-Stufenschema“, Stand Mai 2017). Aus dem Gutachten des Sachverständigen T1 vom 15.10.2019 ergibt sich, dass auch nach dem Ende der Rehabilitationsmaßnahme im Juni 2018 bis zum Zeitpunkt der Untersuchung am 30.09.2019 keine Intensivierung der Schmerztherapie erfolgt ist. Die Klägerin hat nach ihren eigenen Angaben gegenüber dem Sachverständigen keine ambulante Schmerztherapie durchgeführt und hat ihre Schmerzen durch die tägliche Einnahme von zwei bis drei Tabletten Novalgin (Wirkstoff Metamizol) bewältigt. Auf dieser Grundlage hat der Sachverständige S6 in seinem Gutachten vom 07.10.2019 überzeugend dargelegt, dass bei der Klägerin eine Diskrepanz zwischen der subjektiven Einstufung der Schmerzen als nahezu unerträglich und dem objektiven Leidensdruck besteht.
2. Die aus den festgestellten Gesundheitsstörungen der Klägerin folgenden Einschränkungen minderten bis zum 31.07.2018 ihr berufliches Leistungsvermögen in qualitativer Hinsicht. Aufgrund der orthopädischen Gesundheitsstörungen im Bereich der Lendenwirbelsäule und der rechten Schulter sind Tätigkeiten mit Zwangshaltungen wie häufigem Bücken oder Knien, das Tragen und Heben von Lasten über 10 kg ohne technische Hilfsmittel, permanente Überkopfarbeiten, permanente Arbeiten auf Leitern und Gerüsten, permanente Arbeiten im Freien oder unter ständiger Exposition von Hitze, Kälte, Nässe, Zugluft und Temperaturschwankungen nicht mehr leidensgerecht. Dies entnimmt der Senat dem Gutachten des Sachverständigen T1 vom 15.10.2019, dem Reha-Entlassungsbericht des O1 (Reha-Klinik K2) vom 31.07.2018 und dem im Wege des Urkundenbeweises verwerteten Gutachten des S2 vom 07.08.2017. Aufgrund der erhöhten seelischen Vulnerabilität der Klägerin sind ihr Tätigkeiten in Nachtschicht, mit vermehrten Anforderungen an das Konzentrations- und Reaktionsvermögen, mit vermehrt emotionalen Belastungen oder erhöhtem Konfliktpotential und mit vermehrter Exposition gegenüber Lärm, der bei einer Dezibelzahl von mehr als 85 als psychogener Stressor gilt, nicht mehr zumutbar. Dies haben der Sachverständige S6 in seinem Gutachten vom 07.10.2019 und S2 in seinem Gutachten vom 07.08.2017 überzeugend dargelegt. Der Morbus Behçet begründet, worauf der L1 in seinen sozialmedizinischen Stellungnahmen vom 19.03.2020 und 07.06.2023 zutreffend hingewiesen hat, keine dauerhafte Einschränkung des beruflichen Leistungsvermögens auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, zumal die Einnahme der wirksamen, von der Klägerin gut vertragenen und auf dem Markt leicht verfügbaren Antirheumatika zumutbar und erfolgversprechend ist.
3. Die funktionellen Einschränkungen haben die Klägerin aber bis Juli 2018 nicht gehindert, eine zumutbare Tätigkeit des allgemeinen Arbeitsmarkts täglich mindestens sechs Stunden lang zu verrichten. Diese Überzeugung stützt der Senat auf den Reha-Entlassungsbericht des O1 vom 31.07.2018, der das berufliche Leistungsvermögen genau in dem Monat, in dem die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen zuletzt erfüllt gewesen sind, als vollschichtig beurteilt hat. Bereits das im Wege des Urkundenbeweises verwertete Gutachten des S2 vom 07.08.2017 hat ein zeitliches Leistungsvermögen der Klägerin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt im Umfang von täglich sechs Stunden und mehr begründet. Die Gutachten der Sachverständigen S6 vom 07.10.2019 und T1 vom 15.10.2019 bestätigen dieses Ergebnis. In diesen Urkunden und Gutachten wird auf Grundlage der erhobenen Befunde jeweils schlüssig und nachvollziehbar dargelegt, dass die Klägerin unter Beachtung der vorstehend genannten qualitativen Leistungseinschränkungen bis Juli 2018 noch in der Lage gewesen ist, leichte bis mittelschwere körperliche Tätigkeiten in wechselnden Körperhaltungen in Tagesschicht oder in Früh- und Spätschicht ohne unmittelbare Gefährdung ihrer Gesundheit mindestens sechs Stunden täglich zu verrichten. Diese Einschätzung überzeugt den Senat insbesondere deshalb, weil es sich bei den bis Juli 2018 bestehenden Erkrankungen auf orthopädischem Fachgebiet (chronische Lumboischialgie, chronische schmerzhafte Schultersteife rechts, polyarthrotische Beschwerden der oberen und unteren Extremitäten) und psychiatrischem Fachgebiet (rezidivierende depressive Störung, somatoforme Schmerzstörung) um lediglich leicht ausgeprägte Gesundheitsstörungen handelt, die auch nur leichte oder, wie im Fall des medikamentös gut kontrollierten Morbus Behçet, keine Funktionsbeeinträchtigungen zur Folge haben (s.o.). Die Klägerin wies eine gute soziale Einbindung auf. Dies entnimmt der Senat dem Reha-Entlassungsbericht des O1 vom 31.07.2018. Das Gangbild der Klägerin wirkte leicht verlangsamt, jedoch flüssig. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Senats aus dem Gutachten des Sachverständigen T1 vom 15.10.2019. Daraus folgt auch, dass die Gelenke der oberen und unteren Extremitäten der Klägerin im Wesentlichen frei beweglich gewesen sind.
Die abweichende Einschätzung eines drei- bis unter sechsstündigen Restleistungsvermögens der Klägerin bereits ab Juli 2018 durch den Sachverständigen R2 überzeugt nicht. Soweit dieser in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 31.01.2022 ausgeführt hat, dass aller Wahrscheinlichkeit nach schon im Juli 2018 eine mittelschwere depressive Störung mit einer vorzeitigen Erschöpfbarkeit der kognitiven Funktionen und damit auch einer untervollschichtigen beruflichen Leistungsfähigkeit bestanden und wahrscheinlich nach dem Ende der medizinischen Rehabilitationsmaßnahme im Juli 2018 fortbestanden habe und wohl erst nach der Untersuchung durch den K1 am 13.05.2019 oder vor der Begutachtung durch S6 am 30.09.2019 abgeklungen sei, vermag dies den Senat bereits deshalb nicht zu überzeugen, weil hier der Vollbeweis des Eintritts der Erwerbsminderung im Juli 2018 erforderlich ist und bloße Vermutungen („wohl“) oder Wahrscheinlichkeiten („aller Wahrscheinlichkeit nach“, „wahrscheinlich“) nicht den erforderlichen brauchbaren Grad an Gewissheit vermitteln können. In seinem Gutachten vom 09.02.2021 ist R2 unter Würdigung der im Reha-Entlassungsbericht des O1 vom 31.07.2018 und im Gutachten des Sachverständigen S6 vom 07.10.2019 mitgeteilten Befunde noch zu dem Ergebnis gelangt, dass der Leistungsfall am ehesten ab Dezember 2019 eingetreten sei. Der erst in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 31.01.2022 für wahrscheinlich erachtete Eintritt des Leistungsfalls bereits im Juli 2018 findet keine Grundlage in früher erhobenen Befunden. Bis Juli 2018 haben bei der Klägerin lediglich leicht ausgeprägte Gesundheitsstörungen auf psychiatrischem Fachgebiet vorgelegen (s.o.). Die von R2 im Rahmen der Untersuchung der Klägerin am 08.10.2020 – mehr als 26 Monate nach dem Zeitpunkt, zu dem die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen letztmalig erfüllt gewesen sind – festgestellte, nach zwei Stunden eintretende mittelgradige Verlangsamung von Auffassungsgabe, Konzentrationsfähigkeit, Aufmerksamkeitsdauer, Antrieb und formalem Gedankengang ist in diesem Umfang und Ausmaß weder im Rahmen der Rehabilitationsmaßnahme vom 06. bis 27.07.2018 (vgl. Reha-Entlassungsbericht des O1 vom 31.07.2018: keine wesentlichen Störungen von Gedächtnis oder Konzentration) noch im Rahmen der Untersuchung durch den Sachverständigen S6 am 30.09.2019 (vgl. Gutachten des S6 vom 07.10.2019: keine Störungen der Auffassung und der Konzentration, keine signifikanten Gedächtnisstörungen) festgestellt worden. Entgegen den Ausführungen des R2 in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 31.01.2022 enthält der Arztbrief des K1 vom 13.05.2019 weder Befunde zu kognitiven Funktionseinschränkungen der Klägerin noch die Feststellung einer mittelgradigen depressiven Episode, sondern lediglich die Beschreibung einer depressiven Verstimmung, die, worauf die G1 in ihrer sozialmedizinischen Stellungnahme vom 25.05.2022 zutreffend hingewiesen hat, nicht mit einer mittelgradigen depressiven Episode gleichzusetzen ist und keine Leistungsminderung nach sich zieht. Schließlich vermag die Argumentation des R2 auch an anderer Stelle nicht zu überzeugen: soweit er in seinem Gutachten vom 09.02.2021 den Umstand, dass die Klägerin bei der Wiederholung des Kurztests für allgemeine Basisgrößen der Informationsverarbeitung bessere Leistungen als 3 Stunden und 50 Minuten zuvor bei der erstmaligen Durchführung desselben Tests erbracht hat, nicht als Indiz gegen die von ihm angenommene vorzeitige Erschöpfbarkeit der kognitiven Funktionen der Klägerin, sondern als Indiz für ihre ausreichende Anstrengungsbereitschaft gedeutet hat, leuchtet nicht ein, warum die Klägerin nicht auch bei der Verrichtung zumutbarer Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarkts ebenso im Stande sein soll, etwaige kognitive Erschöpfung durch Willensanstrengung zu kompensieren.
Ebenfalls nicht überzeugen kann die abweichende Einschätzung eines unter dreistündigen Leistungsvermögens der Klägerin durch den sachverständigen Zeugen S3. Seine Einschätzung ist weder schlüssig noch nachvollziehbar, da S3 keine befundgestützte Begründung und insbesondere keine Bewegungsmaße nach der Neutral-Null-Methode mitgeteilt hat. Die vom Sachverständigen T1 erhobenen Befunde belegen lediglich leichte orthopädische Funktionseinschränkungen für den hier maßgebenden Zeitraum bis Juli 2018. Schließlich lassen die Arztbriefe des S3 vom 14.12.2017 und 04.02.2019 („Ich unterstütze die Berentung“) erkennen, dass er ein eigenes Interesse an einem für die Klägerin günstigen Ausgang des Gerichtsverfahrens hat.
4. Ob der Klägerin ein Arbeitsplatz vermittelt werden kann oder nicht, ist für den geltend gemachten Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung nicht erheblich. Denn die jeweilige Arbeitsmarktlage ist gemäß § 43 Abs. 3 Halbsatz 2 SGB VI nicht zu berücksichtigen. Das Bundessozialgericht geht weiterhin vom Grundsatz des offenen Arbeitsmarktes aus (BSG, Urteil vom 11.12.2019 – B 13 R 7/18 R – juris, Rn. 26). Es hält daran fest, dass Versicherte, die nur noch körperlich leichte und geistig einfache Tätigkeiten – wenn auch mit qualitativen Einschränkungen – wenigstens sechs Stunden täglich verrichten können, regelmäßig in der Lage sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts erwerbstätig zu sein (vgl. BSG, a.a.O.; BSG, Urteil vom 19.10.2010 – B 13 R 78/09 R – juris, Rn. 31). Im vorliegenden Fall ist die Klägerin, wie vorstehend dargelegt, mit dem ihr verbliebenen Restleistungsvermögen trotz qualitativer Einschränkungen in der Lage, körperlich leichte bis mittelschwere Tätigkeiten arbeitstäglich für mindestens sechs Stunden zu verrichten.
5. Der Arbeitsmarkt gilt der Klägerin auch nicht trotz ihres vorhandenen sechsstündigen Leistungsvermögens ausnahmsweise als verschlossen.
Die Einsatzfähigkeit der Klägerin unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmark-tes ist ausnahmsweise nicht gegeben, wenn der Versicherte die Vollzeittätigkeit nicht unter den in den Betrieben üblichen Bedingungen ausüben kann (sog. Katalogfall 1), wenn das Vermögen des Versicherten, eine Arbeitsstelle aufzusuchen (Wegefähigkeit), relevant eingeschränkt ist (sog. Katalogfall 2) oder wenn eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen
oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung gegeben ist (vgl. BSG, Urteil vom 11.12.2019 – B 13 R 7/18 R – juris, Rn. 29 m.w.N.). Keiner dieser Ausnahmefälle ist hier erfüllt.
Eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine schwere spezifische Leistungsbehinderung liegen bei der Klägerin nicht vor. Ihre qualitativen Leistungseinschränkungen sind nicht als ungewöhnlich zu bezeichnen. Eine schwere spezifische Leistungsbehinderung liegt nur vor, wenn bereits eine erhebliche (krankheitsbedingte) Behinderung ein weites Feld von Verweisungstätigkeiten versperrt. Hierzu können – unter besonderer Berücksichtigung der jeweiligen Einzelfallumstände – beispielsweise Einäugigkeit, Einarmigkeit und Einschränkungen der Arm- und Handbeweglichkeit sowie besondere Schwierigkeiten hinsichtlich der Gewöhnung und Anpassung an einen neuen Arbeitsplatz zählen (vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2012 – B 5 R 68/11 R – juris, Rn. 28 m.w.N.; bestätigt durch BSG, Urteil vom 11.12.2019 – B 13 R 7/18 R – juris, Rn. 34). Keine dieser Fallkonstellationen ist bei der Klägerin vorhanden. Die bei ihr bis Juli 2018 vorliegenden Funktionseinschränkungen auf orthopädischem und psychiatrischem Fachgebiet sind jeweils nur leicht ausgeprägt (s.o.).
Auch die Wegefähigkeit der Klägerin ist gegeben. Das Bundessozialgericht hat das Vermögen, eine Arbeitsstelle aufzusuchen, nur dann für gegeben erachtet, wenn es dem Versicherten möglich ist, Entfernungen von über 500 Metern zu Fuß zurückzulegen, weil davon auszugehen ist, dass derartige Wegstrecken üblicherweise erforderlich sind, um Arbeitsstellen oder Haltestellen eines öffentlichen Verkehrsmittels zu erreichen (vgl. BSG, Urteil vom 21.03.2006 – B 5 RJ 51/04 R – juris, Rn. 15 m.w.N.; bestätigt durch BSG, Urteil vom 11.12.2019 – B 13 R 7/18 R – juris, Rn. 29). Im vorliegenden Fall ist die Klägerin in der Lage, täglich viermal eine Wegstrecke von 500 m in weniger als 20 Minuten zu Fuß zurückzulegen. Dies ergibt sich aus den Gutachten der Sachverständigen S6 vom 07.10.2019, T1 vom 15.10.2019 und R2 vom 09.02.2021 sowie aus dem im Wege des Urkundenbeweises verwerteten Gutachten des S2 vom 07.08.2017. Diese Einschätzung ist für den Senat aufgrund der erhobenen Befunde zum Gehvermögen der Klägerin auch schlüssig und nachvollziehbar. Ausweislich des Arztbriefs des S3 vom 08.12.2016 zeigt die Beinmuskulatur der Klägerin intakte Kraftgrade. Es bestehen keine Paresen an den unteren Extremitäten, keine Koordinationsstörungen, keine schwere arterielle Verschlusskrankheit und keine schwere Zwangs- oder Angsterkrankung. Dies entnimmt der Senat dem Gutachten des Sachverständigen S6 vom 07.10.2019. Daraus folgt auch, dass das Gangbild der Klägerin etwas kurzschrittig und etwas breitbasig wirkt, die Klägerin aber auch ohne Unterarmgehstütze gehen kann, wobei die Fußsohlen etwas vermindert abgerollt werden. Das Gutachten des Sachverständigen T1 vom 15.10.2019 bestätigt ein leicht verlangsamtes, jedoch flüssiges Gangbild. Schließlich hat die Klägerin im Juni 2020 die Gangvaria problemlos demonstriert und ein flüssig und harmonisch wirkendes Gangbild gezeigt. Dies ergibt sich aus dem Entlassbericht des S7 vom 30.06.2020.
Aus der Feststellung eines GdB von 70 folgt ebenfalls nicht, dass die Klägerin erwerbsgemindert wäre. Der Behinderungsgrad besitzt für die Beurteilung der Erwerbsfähigkeit im Rahmen des Anspruchs auf Rente wegen Erwerbsminderung keine anspruchsbegründende Bedeutung (vgl. BSG, Beschluss vom 09.12.1987 – 5b BJ 156/87 – juris, Rn. 3). Zwischen der Schwerbehinderung nach dem Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) und der Erwerbsminderung nach dem SGB VI besteht keine Wechselwirkung, da die gesetzlichen Voraussetzungen unterschiedlich sind (BSG, Beschluss vom 08.08.2001 – B 9 SB 5/01 B – juris, Rn. 5). Für die Erwerbsminderung nach § 43 SGB VI ist die Erwerbsfähigkeit bzw. das berufliche Leistungsvermögen maßgeblich, während § 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX (in der ab 1. Januar 2018 geltenden Normfassung des Bundesteilhabegesetzes vom 23.12.2016 <BGBl. I., S. 3234, 3280>) auf die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft abstellt (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 28.06.2019 – L 4 R 3620/18 – juris, Rn. 44 m.w.N.).
Die im Jahr 1972 geborene Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit gemäß § 240 SGB VI, da sie nicht vor dem 02.01.1961 geboren ist.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, da Gründe hierfür (vgl. § 160 Abs. 2 SGG) nicht vorliegen.
Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
LSG Baden-Württemberg
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
8.
1. Instanz
SG Heilbronn (BWB)
Aktenzeichen
S 4 R 1463/18
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
L 8 R 1620/20
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Rechtskraft
Aus
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