1. Soweit die Behörde den GdB "ab Bekanntgabe" abgesenkt hat, begegnet dies keinen rechtlichen Bedenken, insbesondere ist der Bescheid nicht unbestimmt.
2. Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines den GdB absenkenden Bescheides ist der Zeitraum zwischen Bekanntgabe des Bescheides und des Widerspruchsbescheides.
3. Bedenkt man, dass nach Teil A Nr. 3 d) ee) VMG regelmäßig leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung führen, auch nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen, und es auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 vielfach nicht gerechtfertigt ist, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen, ist es in der Regel nicht gerechtfertigt, nur mit Einzel-GdB von 20 und 10 einen Gesamt-GdB von 50 oder mehr zu bilden.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 19. Mai 2022 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Kostenentscheidung des Sozialgerichts in dem angefochtenen Urteil bleibt hiervon unberührt.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin wendet sich gegen eine Absenkung ihres Grades der Behinderung (GdB) auf unter 50.
Bei der 1960 geborenen Klägerin wurde 2013 ein invasiv duktales Mammakarzinom links im Stadium cT1c pN1a G3 diagnostiziert. An eine Sentinel-Lymph-Node-Biopsie schlossen sich eine Chemotherapie und eine brusterhaltende Therapie nach Markierung sowie eine axilläre Revision links am 27. Februar 2014 und schließlich eine Bestrahlung an. Mit Bescheid vom 16. Januar 2014 stellte der Beklagte zugunsten der Klägerin wegen einer Gewebeneubildung der linken Brustdrüse in Heilungsbewährung den GdB mit 60 fest. Auf einen Neufeststellungsantrag der Klägerin erhöhte der Beklagte den GdB mit Bescheid vom 18. Dezember 2014 auf 70, wobei er zusätzlich eine psychische Störung (Einzel-GdB 20), eine Nervenstörung (Polyneuropathie) beider Beine (Einzel-GdB 20) und einen Teilverlust der linken Brust (Einzel-GdB 10) berücksichtigte.
Anfang 2019 leitete der Beklagte eine Nachprüfung des GdB von Amts wegen ein. Nach medizinischen Ermittlungen und nach Anhörung der Klägerin mit Schreiben vom 3. April 2019 stellte der Beklagte mit Bescheid vom 15. Januar 2020 unter entsprechender Aufhebung seines Bescheides vom 18. Dezember 2014 mit Wirksamkeit ab Bekanntgabe des Bescheides den GdB mit 30 fest, wobei er eine psychische Störung (Einzel-GdB 20), eine Harninkontinenz (Einzel-GdB 20), eine Nervenstörung (Polyneuropathie) beider Beine (Einzel-GdB 20), einen Teilverlust der linken Brust (Einzel-GdB 10), eine Funktionsstörung der Wirbelsäule (Einzel-GdB 20), ein Lymphödem des linken Armes (Einzel-GdB 20) und eine Nervenstörung (Polyneuropathie) beider Arme (Einzel-GdB 20) berücksichtigte. Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 6. April 2020 zurück.
Hiergegen hat die Klägerin am 27. April 2020 Klage erhoben.
Das Sozialgericht hat Befundberichte eingeholt bei dem Frauenarzt Dr. G, dem Orthopäden F, der Internistin Dr. K-G und bei dem Medizinischen Versorgungszentrum DThZentrumAFT.
Das Sozialgericht hat bei dem praktischen Arzt M ein medizinisches Gutachten vom 15. April 2021 eingeholt, das dieser nach ambulanter Untersuchung der Klägerin am 5. März 2021 erstellt hat und in dem er zu der Einschätzung gelangt ist, der GdB bei der Klägerin habe am 6. April 2020 40 betragen und betrage auch aktuell 40. Dabei sei von folgenden Funktionsbeeinträchtigungen und Einzel-GdB auszugehen:
- Funktionsminderung der Hand- und Fingergelenke, Nervenstörung der Arme (Polyneuropathie), Lymphödem des linken Armes (20),
- Funktionsminderung der Wirbelsäule (20),
- Nervenstörung (Polyneuropathie) beider Beine (20),
- rezidivierende depressive Störungen (20),
- Harninkontinenz (20),
- Teilverlust der linken Brust (10).
Der Beklagte hat zu dem Gutachten des Sachverständigen M eine umfangreiche ärztliche Stellungnahme von Dr. H zu den Gerichtsakten gereicht, der erklärt hat, dem Sachverständigen könne nicht gefolgt werden, es liege sogar nur ein Gesamt-GdB von 20 vor.
Auch die Klägerin hat zu dem Gutachten von dem Sachverständigen M eingehend Stellung genommen. Sie hat erklärt, die Funktionsstörungen im Bereich der Hände, Finger und Handgelenke, der Hals- und der Lendenwirbelsäule sowie die Neuropathie in den Füßen und Beinen und die Reizblase und Harninkontinenz seien jeweils unzureichend bewertet worden. Zu Unrecht unberücksichtigt geblieben seien ein allergisches Asthma, eine Fettleber mit Leberzyste, ein chronischer Bluthochdruck, eine Mikroangiopathie der Hirngefäße und eine Wanderniere.
Zu den Einwänden der Beteiligten hat der Sachverständige unter dem 29. Juni 2021 (Beklagter) und dem 4. August 2021 (Klägerin) auf Anforderung des Sozialgerichts gutachtlich Stellung genommen, der jeweils im Wesentlichen erklärt hat, an seiner Einschätzung festzuhalten.
Die Klägerin hat Befunde zu ihrer Asthma-Erkrankung zu den Gerichtsakten gereicht, zu denen der Sachverständige M unter dem 9. September 2021 auf Anforderung des Sozialgerichts Stellung genommen hat. Der Sachverständige hat erneut erklärt, an seiner Einschätzung festzuhalten.
Das Sozialgericht hat der auf Erhalt eines GdB von 50 gerichteten Klage durch Urteil vom 19. Mai 2022 teilweise stattgegeben, als es den Bescheid des Beklagten vom 15. Januar 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. April 2020 aufgehoben hat, soweit damit bei der Klägerin ein GdB von weniger als 40 festgestellt worden ist. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen bei einer Kostenquote von der Hälfte. Der angefochtene Bescheid sei, auch soweit er sich Wirksamkeit ab Bekanntgabe beimesse, hinreichend bestimmt. Er sei im Übrigen rechtswidrig, soweit mit ihm der GdB auf unter 40 abgesenkt worden ist. Grundlage sei § 48 Abs. 1 Satz 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X). Hier sei allerdings in den tatsächlichen Verhältnissen, die bei Erlass des Bescheides vom 18. Dezember 2014 vorgelegen hätten, eine wesentliche Änderung insoweit eingetreten, als hinsichtlich der Brustkrebserkrankung Heilungsbewährung eingetreten sei. Nach Teil B Nr. 14.1 der versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) habe der Beklagte die Brustkrebserkrankung bei dem hier einschlägigen Tumorstadium zutreffend mit 60 bewertet. Da in der Folgezeit kein Rezidiv und auch keine Metastasen aufgetreten seien, sei die Heilungsbewährung abgelaufen und könne ein GdB für die Brustkrebserkrankung daher nicht mehr festgestellt werden. Die noch verbliebenen Funktionsbeeinträchtigungen seien mit einem GdB von 40 zu bewerten. Dies ergebe sich aus dem Gutachten des Sachverständigen M, wobei maßgeblich bei der hier zulässigen reinen Anfechtungsklage der Zeitpunkt bei Erlass des Widerspruchsbescheides im April 2020 sei. Nicht mit Einzel-GdB zu bewerten sei ein Asthma bronchiale (Teil B Nr. 8.5 VMG), da hier keine relevante Lungenerkrankung vorliege. Insoweit seien keine Luftnotanfälle bei der Klägerin dokumentiert, der körperliche Befund sei bei der Untersuchung durch den Sachverständigen M unauffällig gewesen. Auch die Fettleber mit Leberzyste sei nach Teil B Nr. 10.3.3 VMG mit keinem Einzel-GdB zu bewerten, da normale Leberwerte vorliegen würden und die Syntheseleistung der Leber nicht beeinträchtigt sei. Auch für die Schilddrüsenerkrankung sei nach Teil B Nr. 15.6 VMG bei ausgeglichener Funktionslage unter Substitutionstherapie kein GdB zu vergeben. Auch die Mikroangiopathie der Hirngefäße rechtfertige ohne nachgewiesene kognitive Einschränkungen keinen Einzel-GdB (Teil B Nr. 3.1 VMG). Soweit der Sachverständige eine zweitgradige Einschränkung der Nierenfunktion anhand der Laborbefunde festgestellt habe, sei dies nach dem hier in den Blick zunehmenden Prüfungszeitraum aufgetreten und daher für den Fall irrelevant.
Zu berücksichtigen sei nach Teil B Nr. 3.7 VMG eine psychische Störung mit einem Einzel-GdB von 20. Höher zu bewertende stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit lägen nicht vor. Die in der Untersuchung durch den Sachverständigen erhobenen Befunde würden auf keine relevante psychische Erkrankung hinweisen. Eine Selbsteinschätzung habe nur eine leichtgradige Depressivität ergeben. Eine fachärztliche Therapie finde zudem nicht statt. Die Klägerin erhalte von ihrer Hausärztin ein Antidepressivum verordnet und nehme mittelstarke Schmerzmittel bei Bedarf. Es werde von ihr eine gute soziale Einbindung und ein aktiver Tagesablauf geschildert. Die hier demnach bestehende leichtere psychische Störung sei mit einem Einzel-GdB von 20 maximal bewertet.
Die Polyneuropathie der Beine sei nach Teil B Nr. 3.11 VMG ebenfalls mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten. Der Sachverständige habe insoweit bei der Klägerin eine stumpfförmige Sensibilitätsminderung der Beine mit nicht reduziertem Vibrationsempfinden festgestellt. Die Motorik sei intakt, es bestehe keine Ataxie. Die Befunde an den Gelenken der unteren Extremitäten seien ohne GdB-relevanten Befund gewesen. Im Vordergrund hätten ausweislich des Sachverständigengutachtens Gleichgewichtsstörungen gestanden. Gleichgewichtsstörungen mit Schwindelerscheinung mit Fallneigung bereits bei alltäglichen Belastungen oder mit Schwindel mit vegetativen Begleiterscheinungen bei höherer Belastung würden nicht vorliegen, sodass die Bewertung mit einem Einzel-GdB von 20 angemessen sei (vgl. Teil B Nr. 5.3 VMG). Die Polyneuropathie der Arme bedinge nach Teil B Nr. 3.11 VMG keinen Einzel-GdB von wenigstens 10, da sich relevante Sensibilitätsstörungen im Bereich der Hände und Finger nicht hätten nachweisen lassen.
Das Lymphödem des linken Armes sei nach Teil B Nr. 9.2.3 VMG mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten. Dieser sei vorgesehen für einen Lymphödem an einer Gliedmaße ohne wesentliche Funktionsbehinderung. Ein höherer GdB setze eine stärkere Umfangsvermehrung (mehr als 3 cm) voraus. Eine solche liege bei der Klägerin mit einer Umfangsvermehrung von 2 cm und ohne das Tragen eines Kompressionsstrumpfes nicht vor.
Für die Funktionsstörungen im Bereich der Hände sei entsprechend Teil B Nr. 18.13 VMG (Angabe im Urteil 14.13 ist ein offensichtlicher Schreibfehler) ein Einzel-GdB von 20 angemessen. Es bestehe bei der Klägerin eine Schmerzsymptomatik im Bereich beider Hand- und Fingergelenke bei nachgewiesenen deutlichen Arthrosen in den Fingermittel- und -endgelenken sowie degenerativen Veränderungen in den Handwurzeln und Daumengelenken. Wegen der Beschwerden habe 2020 eine Röntgenbestrahlung stattgefunden. Eine Knochenszintigraphie habe eine deutliche Mehrspeicherung im Bereich der Fingergelenke ergeben. Der behandelnde Arzt Dr. F habe eine Morgensteife von 30 Minuten dokumentiert und einen auf das ca. zweieinhalbfache erhöhten Entzündungswert CRP. Ergotherapeutisch werde eine deutliche Funktionseinschränkung der Hand- und Fingergelenke dokumentiert. Der Sachverständige M habe in der Untersuchung eine ausreichende Beweglichkeit der Handgelenke bei beidseitigem endgradigen Bewegungsschmerz in alle Richtungen ohne Schwellungen oder Entzündungszeichen der Handgelenke festgestellt. Es hätten schmerzhafte Schwellungen in den Fingermittel- und -endgelenken außer beider Kleinfinger bestanden. Die Daumengelenke seien druckschmerzhaft gewesen. Die Feinmotorik sei nicht relevant beeinträchtigt gewesen. Die Klägerin könne beispielsweise ein Maßband betätigen, Schleifen binden, Reißverschlüsse betätigen, Kochen, gebe aber etwa Probleme beim Kartoffelschälen und Gläser öffnen an. Es bestehe eine schmerzbedingte Kraftminderung der Hände, die mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten sei. Die Einschränkungen der Klägerin seien nicht vergleichbar mit beispielsweise dem kompletten Verlust eines Daumens, weshalb ein höherer Einzel-GdB ausscheide.
Nach Teil B Nr. 9.3 VMG sei der medikamentös therapierte Bluthochdruck der Klägerin mit nur geringer Leistungsbeeinträchtigung mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten.
Die Harninkontinenz sei nach Teil B Nr. 12.2.4 VMG als relative Harninkontinenz mit leichtem Harnabgang bei Belastung mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten. Eine Harninkontinenz mit Harnabgang tags und nachts sei bei der Klägerin nicht dokumentiert. In einem insoweit aktenkundigen Befundbericht werde ein Urinabgang nur bei Hustenprovokation, nur tröpfchenweise und keine Restharnbildung dokumentiert. Die Beschwerden würden einer leichten Stressinkontinenz mit Urinverlust beim Husten und Niesen entsprechen.
Die linksseitig etwas kleinere Brust ohne kosmetische Entstellung sei nach Teil B Nr. 14.1 VMG mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten.
Die Funktionsstörung der Wirbelsäule sei nach Teil B Nr. 18.9 VMG mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewerten. Eine höhere Bewertung würde mittelgradige funktionelle Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten oder schwere funktionelle Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt voraussetzen. Beides liege bei der Klägerin nicht vor. Die von dem Sachverständigen M erhobenen Befunde würden allenfalls die Annahme leichter funktioneller Auswirkungen im Bereich der Halswirbelsäule und mittelgradige funktionelle Auswirkungen im Bereich der Lendenwirbelsäule rechtfertigen.
Aus den vorgenannten Einzel-GdB ergebe sich kein höherer Gesamt-GdB als 40. Dabei würden sich die Einzel-GdB von je 10 nicht erhöhend auswirken. Die Funktionsstörung der Wirbelsäule und die Polyneuropathie der Beine würden sich gegenseitig verstärken, woraus sich insoweit ein GdB von 30 ergebe. Dieser GdB werde um weitere 10 Punkte aufgrund der Funktionsstörungen im Bereich der Hände erhöht, da es sich hierbei um eine zusätzliche Einschränkung in der Teilhabe handele, die Auswirkungen auf das Gesamtmaß der Behinderung habe. Eine weitere Erhöhung des GdB durch das psychische Leiden komme zur Vermeidung von Doppelbewertungen nicht in Betracht. Denn nach Teil A I. i und j VMG würden die Einzel-GdB für die orthopädischen Leiden bereits die üblichen seelischen Begleiterscheinungen und die üblicherweise vorhandenen Schmerzen miteinschließen und berücksichtigten auch erfahrungsgemäß besonders schmerzhafte Zustände. Bei dem Einzel-GdB von 20 für die psychische Störung der Klägerin handele es sich um einen schwachen GdB, der auch die Schmerzsymptomatik der Klägerin mit umfasse, sodass eine weitere Anhebung des Gesamt-GdB nicht gerechtfertigt sei.
Gegen das ihr am 1. Juni 2022 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 27. Juni 2022 Berufung eingelegt. Sie meint, der angefochtene Bescheid sei nicht hinreichend bestimmt, soweit er sich Wirksamkeit „ab Bekanntgabe“ beimesse. Die Begutachtung durch den Sachverständigen M sei unzureichend und oberflächlich gewesen. Die Vielzahl der bei ihr bestehenden Erkrankungen und Leiden bedingten zwangsläufig einen GdB von 50.
Auf Antrag der Beteiligten hat der Senat mit Beschluss vom 1. September 2022 mit Blick auf das beim Bundessozialgericht (BSG) anhängige Revisionsverfahren B 9 SB 2/22 R das Ruhen des Verfahrens angeordnet. Nach Abschluss des genannten Revisionsverfahrens hat der Senat das Verfahren von Amts wegen wieder aufgenommen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 19. Mai 2022 abzuändern und den Bescheid des Beklagten vom 15. Januar 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. April 2020 insoweit aufzuheben, als ein geringerer Grad der Behinderung als 50 festgestellt worden ist.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil im angegriffenen Umfang für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie die die Klägerin betreffenden Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Der Senat kann ohne mündliche Verhandlung durch den Berichterstatter entscheiden, weil die Beteiligten zu dieser Entscheidungsform ihr Einverständnis erklärt haben, § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) i. V. m. § 155 Abs. 4 und Abs. 3 SGG.
Die zulässige Berufung der Klägerin ist unbegründet, das Urteil des Sozialgerichts zutreffend. Die der Berufung zugrunde liegende Klage ist als reine Anfechtungsklage im Sinne des § 54 Abs. 1 Satz 1 SGG zulässig. Der angegriffene Bescheid erschöpft sich in der teilweisen Aufhebung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung (hier des Bescheides vom 18. Dezember 2014). Die Klage ist aber unbegründet. Der Bescheid vom 15. Januar 2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. April 2020 ist nach seiner teilweisen Aufhebung durch das insoweit rechtskräftige Urteil des Sozialgerichts rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Soweit der Beklagte den GdB „ab Bekanntgabe“ abgesenkt hat, begegnet dies keinen rechtlichen Bedenken, insbesondere ist der Bescheid nicht unbestimmt (vgl. § 33 SGB X; BSG, Urteil vom 15. Juni 2023 – B 9 SB 3/22 R – Terminbericht 22/23).
Rechtsgrundlage für den angefochtenen Bescheid, gegen den formelle Bedenken nicht bestehen, ist hier § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung im Wege einer gebundenen Entscheidung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X liegen hier insoweit vor, nur noch ein GdB von 40 vorliegt. Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides ist dabei der Zeitraum zwischen Bekanntgabe des Bescheides und des Widerspruchsbescheides (vgl. dazu eingehend Urteil des Senats vom 6. November 2014 - L 11 SB 178/10; auch BSG, Beschluss vom 27. Mai 2020 - B 9 SB 67/19 B - juris), hier nach § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X zwischen dem 18. Januar 2020 und dem 9. April 2020.
Nach § 152 Abs. 1 Satz 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IX) stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung zum Zeitpunkt der Antragstellung fest. Bei der Prüfung, ob diese Voraussetzungen vorliegen, sind seit dem 1. Januar 2009 die in der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I Seite 2412) festgelegten „versorgungsmedizinischen Grundsätze“ (VMG) zu beachten, die durch die Verordnungen vom 1. März 2010 (BGBl. I Seite 249), 14. Juli 2010 (BGBl. I Seite 928), vom 17. Dezember 2010 (BGBl. I Seite 2124), vom 28. Oktober 2011 (BGBl. I Seite 2153) und vom 11. Oktober 2012 (BGBl. I Seite 2122) sowie durch Gesetze vom 23. Dezember 2016 (BGBl. I Seite 3234), vom 17. Juli 2017 (BGBl. I Seite 2541) und vom 12. Dezember 2019 (BGBl. I Seite 2652) Änderungen erfahren haben.
Einzel-GdB sind entsprechend den genannten Grundsätzen als Grad der Behinderung in Zehnergraden zu bestimmen. Für die Bildung des Gesamt-GdB bei Vorliegen mehrerer Funktionsbeeinträchtigungen sind nach § 152 Abs. 3 SGB IX die Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander zu ermitteln, wobei sich nach Teil A Nr. 3 a) der Anlage zu § 2 VersMedV die Anwendung jeglicher Rechenmethode verbietet. Vielmehr ist zu prüfen, ob und inwieweit die Auswirkungen der einzelnen Behinderungen voneinander unabhängig sind und ganz verschiedene Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen oder ob und inwieweit sich die Auswirkungen der Behinderungen überschneiden oder gegenseitig verstärken. Dabei ist in der Regel von einer Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten Grad 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden, wobei die einzelnen Werte jedoch nicht addiert werden dürfen. Leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB-Grad von 10 bedingen, führen grundsätzlich nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung; auch bei leichten Funktionsstörungen mit einem GdB-Grad von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen (Teil A Nr. 3 d) aa) – ee) der Anlage zu § 2 VersMedV).
Der GdB bei der Klägerin war vor allem wegen der Brustkrebserkrankung, die nach Maßgabe von Teil B Nr. 14.1 VMG mit einem Einzel-GdB von 60 zu bewerten war, und unter Berücksichtigung einer psychischen Störung (Einzel-GdB 20) und einer Polyneuropathie beider Beine (Einzel-GdB 20) durch den Bescheid vom 18. Dezember 2014 zutreffend mit 70 bewertet worden.
Eine Neubewertung des GdB war vorliegend aufgrund des Ablaufs der Heilungsbewährung grundsätzlich zulässig (vgl. Teil A Nr. 7b VMG). Nach Teil B Nr. 1 c VMG beträgt der Zeitraum des Abwartens einer Heilungsbewährung in der Regel und nach Maßgabe von Teil B Nr. 14.1 VMG vorliegend fünf Jahre. Maßgeblicher Bezugspunkt für den Beginn der Heilungsbewährung ist der Zeitpunkt, an dem die Geschwulst durch Operation oder andere Primärtherapie als beseitigt angesehen werden kann; eine zusätzliche adjuvante Therapie hat keinen Einfluss auf den Beginn der Heilungsbewährung. Maßgeblich ist hier daher das Operationsdatum am 27. Februar 2014, so dass die Heilungsbewährung bei Erlass des angefochtenen Bescheides abgelaufen war. Metastasen und Rezidive sind innerhalb des Zeitraums der Heilungsbewährung wie auch innerhalb des hier maßgeblichen Prüfungszeitraums nicht aufgetreten. Ein Einzel-GdB für die Krebserkrankung war demnach nicht mehr zu vergeben.
In dem genannten Prüfungszeitraum zwischen dem 18. Januar 2020 und dem 9. April 2020 ist der GdB nicht mit mehr als 40 zu bewerten. Dies folgt aus einer Gesamtschau der vorliegenden medizinischen Unterlagen, insbesondere aus dem Gutachten des Sachverständigen M, das auf einer ambulanten Untersuchung der Klägerin sowie einer kritischen Würdigung der sonstigen medizinischen Unterlagen beruht und sowohl auf der Grundlage der herrschenden medizinischen Lehre als auch im Einklang mit den versorgungsmedizinischen Grundsätzen erstattet worden ist. Soweit die Klägerin meint, die gutachterliche Betrachtung sei unzureichend und oberflächlich, kann davon bei dem ausgesprochen ausführlichen und differenzierten Gutachten keine Rede sein.
Wegen der Funktionsbeeinträchtigungen und Einzel-GdB verweist der Senat auf die sehr sorgfältigen und überzeugenden Ausführungen des Sozialgerichts, denen er nach eigener Prüfung folgt, vgl. § 153 Abs. 2 SGG. Der Senat kann dem beim besten Willen nichts hinzufügen und wiederholt in aller Kürze:
- Eine rezidivierende leichtgradige psychische Störung kann nach Teil B Nr. 3.7 VMG mit keinem höheren GdB als 20 bewertet werden; von außergewöhnlichen Schmerzzuständen kann bei bedarfsweiser mittelstarker Schmerzmedikation keine Rede sein (vgl. ergänzende Stellungnahme M vom 4. August 2021 und vom 9. September 2021);
- die Hand- und Fingergelenke sind ausreichend beweglich, gewisse Schmerzzustände bestehen, die Feinmotorik ist nicht relevant beeinträchtigt; bei nicht bestehender Vergleichbarkeit mit dem Verlust eines Daumens (der mit einem GdB von 25 zu bewerten wäre) kann nach Teil B Nr. 18.13 VMG kein höherer GdB als 20 in Betracht kommen;
- die Polyneuropathie der oberen Extremitäten kann nach Teil B Nr. 3.11 VMG keinen höheren GdB als 10 rechtfertigen, zumal eine relevante Sensibilitätsstörung der Hände und Finger nicht nachweisbar ist;
- das Lymphödem des linken Armes kann bei einer Umfangsvermehrung von 2 cm ohne Kompressionsbandage nach Teil B Nr. 9.2.3 VMG nur mit einem GdB von 10 bewertet werden, dies berücksichtigt auch durchgeführte Lymphdrainagen;
- das Wirbelsäulenleiden kann nach Teil B Nr. 18.9 VMG mit keinem höheren Einzel-GdB als 20 bewertet werden; nach den vom Sachverständigen nach der Neutral-Null-Methode erhobenen Messbefunden ist die Halswirbelsäule minimal in ihrer Beweglichkeit eingeschränkt, die Lendenwirbelsäule etwas stärker, was Einzel-GdB von 10 und 20, zusammen 20, ergibt;
- die Polyneuropathie der Beine ist nach Teil B Nr. 3.11 VMG mit 20 ausreichend bewertet; bei nicht reduziertem Vibrationsempfinden, intakter Motorik und nicht bestehender Ataxie wird dieser Wert überhaupt nur durch die Gleichgewichtsstörungen erreicht, wobei auch hier die wertende Betrachtung des Sachverständigen überzeugt, nach der unter Heranziehung von Teil B Nr. 5.3 VMG kein höherer GdB als 20 in Betracht kommt;
- der Teilverlust der Brust kann nach Teil B Nr. 14.1 VMG bei nicht bestehender kosmetischer Entstellung nur mit einem GdB von 10 bewertet werden;
- die Harninkontinenz ist nach Teil B Nr. 12.2.4 VMG mit keinem höheren GdB als 10 zu bewerten; der vermeintliche Widerspruch insoweit zwischen Sozialgericht und dem Sachverständigen M löst sich teilweise auf, wenn man sieht, dass der Sachverständige zwar in Antwort 8) von einem Einzel-GdB von 20 ausgeht, diesen aber in seiner Beurteilung zu e) als zu hoch ansieht, er also inhaltlich wie das Sozialgericht eher von einem GdB von 10 ausgehen dürfte; zu einem unterschiedlichen Gesamtergebnis gelangt man aber unabhängig davon nicht, ob ein Einzel-GdB von 10 oder schon ein „schwacher“ Gesamt-GdB von 20 vorliegt.
Nicht mit Einzel-GdB zu bewerten sind ein Asthma bronchiale (Teil B Nr. 8.5 VMG), eine Fettleber mit Leberzyste (Teil B Nr. 10.3.3 VMG), eine Schilddrüsenerkrankung (Teil B Nr. 15.6 VMG) und eine Mikroangiopathie der Hirngefäße (Teil B Nr. 3.1 VMG). Gleiches gilt nach der ergänzenden Stellungnahme des Sachverständigen M vom 4. August 2021 für einen Bluthochdruck (Teil B Nr. 9.3 VMG), der sich aber auch bei einem unterstellten Einzel-GdB von 10 nicht erhöhend auswirken würde.
Bei der Klägerin liegen danach jeweils vier Einzel-GdB von 20 und 10 vor. Bedenkt man, dass nach Teil A Nr. 3 d) ee) VMG regelmäßig leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung führen, auch nicht, wenn mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen, und es auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 vielfach nicht gerechtfertigt ist, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen, ist es in der Regel nicht gerechtfertigt, nur mit Einzel-GdB von 20 und 10 einen Gesamt-GdB von 50 oder mehr zu bilden. Dies ist auch im vorliegenden Einzelfall so, weil die vom Sozialgericht wie auch vom Sachverständigen herangezogenen Überlegungen zur Bildung eines Gesamt-GdB von 40 zwar nachvollziehbar sind, sich aber jeweils auch ergibt, dass es sich hierbei um eine nicht mehr steigerbare Maximalbewertung handelt. Dies gilt übrigens auch, soweit der Sachverständige bei der Bildung des Gesamt-GdB von einem Einzel-GdB von 20 für die Harninkontinenz ausgeht. In der Gesamtschau ist der Gesundheitszustand der Klägerin – wie der Sachverständige zu Recht betont – nicht mit einer schweren psychischen Störung oder Wirbelsäulenschäden mit besonders schwere Auswirkungen zu vergleichen, so dass auch eine vergleichende Betrachtung mit festen GdB-Werten (vgl. Teil A Nr. 3 b) VMG; vgl. auch Mecke, SGb 2023, 220, 229) das Nichtvorliegen eines GdB von 50 (oder mehr) bestätigt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil ein Grund hierfür gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG nicht vorliegt.